Kapitel 23
Elins Pressekonferenz und ihr Aufruf an die Öffentlichkeit hatten eine wahre Lawine ausgelöst. Nicht nur in der Bevölkerung hatte sich eine Hysterie breitgemacht, sondern auch in der Presse und den Medien.
In der Zentrale gingen täglich Tausende Anrufe ein mit Hinweisen auf den Mörder. Es schien, als ob jeder Bürger dieser Stadt dem Mörder bereits einmal begegnet war oder ihn gar persönlich kannte. Was Elin und Schröder bereits vermutet hatten, dass alle Eltern Panik bekommen würden, trat natürlich ein, und sie ließen ihre Kinder kaum noch aus dem Haus gehen. In wenigen Tagen hatten sich überall Fahrgemeinschaften gebildet, die die schulpflichtigen Kinder zur Schule und wieder nach Hause eskortierten. Bürgerwehren patrouillierten nachts durch die Straßen, und Discos und Nachtclubs hatten kaum noch Besucher. Osnabrück befand sich im Ausnahmezustand. Das Phantom war überall wie ein Geist zugegen. In jeder Straße, in jedem Haus, in jedem Kopf schwirrte es herum und versetzte alles in eine Starre aus Angst.
Und noch etwas passierte. Eine Schwemme an Medienvertretern drohte die Stadt wie eine Flutwelle zu überspülen. Aus aller Welt waren Presse- und Fernsehteams angereist, die jegliche Hotels, Pensionen und Unterkünfte bis aufs letzte Bett ausfüllten. Osnabrück platzte aus allen Nähten wegen eines plötzlich aufkeimenden Serienkillertourismus, der eine Unzahl von Hobbykriminologen, sensationsgierigen Gaffern und sektenartigen Gruppierungen in die Stadt schwemmte. In den Restaurants und Lokalen mischten sich Stimmen aus aller Herren Länder. Vor dem Polizeirevier kampierten die Fernsehteams und belagerten die Dienststelle wie Ritter eine Festung. Wegeners schlimmster Albtraum war Wirklichkeit geworden. Alle Büros hatten sich hinter Jalousien verbarrikadiert. Das Gebäude wurde wie ein Hochsicherheitstrakt abgeriegelt, weil immer wieder Journalisten mit allen Tricks versuchten, sich Zugang zum Revier zu verschaffen.
Schröder und Elin vermieden es, sich hier zu treffen. Wenn es sein musste, wie für die täglichen Meetings, benutzten sie den Lieferanteneingang.
Schröder hatte heute Morgen schon drei Tabletten genommen. Seinen Vater hochzuheben und ins Bett zu schleppen, hatte ihm den Rest gegeben. Als er morgens erwachte, schoss ein glühender Schmerz wie eine Stichflamme in seinen Rücken, als er nur den Kopf anhob. Er hatte über eine Stunde gebraucht, um aufzustehen und sich anzuziehen.
Auf seinen Wunsch hin fuhr Elin heute das Auto. Er befürchtete, durch eine unkontrollierte Bewegung einen Unfall zu verursachen. Was ihn seine Schmerzen leichter ertragen ließ, war die Tatsache, dass Elin nie ein Wort dazu sagte. Sie drängte ihn nicht, zum Arzt zu gehen, sagte nicht, dass er unvernünftig oder gar verrückt sei. Sie akzeptierte, was er tat, vielleicht, weil sie am besten wusste, wie wichtig ihre Arbeit war.
Sie betraten ein Aquariengeschäft. Herr Maslow, der Besitzer, bediente gerade einen Kunden und verkaufte ihm ein paar Zierfische. Schröder stützte sich auf einem Tisch ab und beobachtete einen Goldfisch, der schwerelos im Wasser schwebte.
»Du hast keine Rückenprobleme, was? Fisch müsste man sein!«
»Schröder, mit wem reden Sie da?«, fragte Elin.
»Mit dem Fisch. Finden Sie das irgendwie merkwürdig?«
»Nein, ganz und gar nicht.«
»Dann ist ja alles in Ordnung.«
Der Kunde verließ den Laden, und Maslow näherte sich ihnen.
»Wie kann ich helfen?«
»Wir sind von der Polizei. Mein Name ist Nowak, und das ist Oberkommissar Schröder.«
»Polizei?«, fragte Maslow ängstlich.
»Keine Angst, es hat nichts mit Ihnen zu tun! Es geht um einen Ihrer Kunden. Haben Sie in den letzten zehn Jahren eine besondere Anfertigung für jemanden verkauft? Ich meine, kein normales Aquarium, sondern etwas sehr Ausgefallenes, vielleicht eine Übergröße oder eine Sonderanfertigung?«
»Zehn Jahre? Sie sind gut!«
»Sie werden doch in ihren Akten nachschauen können.«, sagte Elin ungeduldig.
»Aber ist das denn … ich meine, muss ich das machen? Ich kann doch nicht meine Kundendaten herausgeben, und plötzlich steht bei denen die Polizei vor der Tür.«
»Ich kann auch eine richterliche Anordnung besorgen, wenn Ihnen das lieber ist.«
Schröder nahm Herrn Maslow beiseite und deutete Elin an, sie solle etwas Geduld haben.
»Ihre Diskretion in Ehren, aber haben Sie zufällig in den Medien über den Serientäter gehört?«
»Sicher! Ah, die Dame kam mir gleich so bekannt vor!«, sagte Maslow und blickte zu Elin, die beleidigt im Geschäft herumstreifte.
»Dann wissen Sie ja, woran wir arbeiten. Es ist enorm wichtig, dass Sie uns helfen. Ihre Auskunft könnte entscheidend sein. Wir werden selbstverständlich alles diskret behandeln. Also, würden Sie für uns nachsehen?«
»Ich habe selbst zwei Kinder! Natürlich!«
»Hier ist meine Karte. Wenn Sie etwas gefunden haben, rufen Sie mich an. Zu jeder Zeit, in Ordnung?«
Sie fuhren zurück ins Revier. Schröder erzählte Elin von Karls Unfall. Irgendwem musste er es erzählen. Er wusste nicht warum, doch danach fühlte er sich besser.
»Ich mag Ihren Vater.«, sagte Elin.
»Ja, er ist ’n guter Kerl. Nur ziemlich schwer.«
»Sie brauchen eine andere Lösung für zu Hause«, meinte sie.
»Ja, wir versuchen es jetzt mit einem ambulanten Pflegedienst.«
»Das ist vernünftig von Ihnen. Dürfte Ihnen ja schwer genug gefallen sein.«
»Wie meinen Sie das?«
»Kein Mann gibt gerne zu, dass er Hilfe braucht.«
Sie waren im Revier angekommen, und Elin wollte gleich mit Kommissar Ludwig in Remscheid telefonieren.
»Ich komme sofort. Gehen Sie schon mal vor«, sagte Schröder und deutete auf die Herrentoilette. Schröder betrat den gekachelten Raum und ging zu den Waschbecken. Er ließ das Wasser laufen, holte seine Tabletten heraus und steckte sich drei weitere in den Mund. Er wollte einen Schluck Wasser nehmen, als er wieder einen Hieb wie von einem Schwert spürte. Es trat oberhalb der Hüfte in seinen Rücken ein und schob sich hinunter bis in seinen Oberschenkel. Er glaubte, seine Nerven würden zerreißen, und er krallte sich an das Waschbecken. Doch seine Beine gaben nach, knickten ein, und er glitt zu Boden. Stöhnend und ächzend lag er auf der Seite und wartete darauf, dass die Tabletten endlich anfingen zu wirken. Er lag einige Minuten am Boden und hatte keine Vorstellung, wie er allein wieder hochkommen sollte. Da klopfte es an die Tür.
»Schröder? Alles in Ordnung bei ihnen?«, rief Elin.
»Ja, ja, ich komme gleich!«, rief er zurück und unterdrückte einen Schrei.
Elin öffnete einfach die Tür und spähte hinein. Als sie ihn dort liegen sah, stieß sie die Tür auf und rannte zu ihm.
»Schröder!« Sie berührte ihn an der Schulter und drehte sich zur Tür um.
»Ich brauche Hilfe hier drin!«
»Was schreien Sie denn so, es ist alles in Ordnung!«
»Ihr Rücken?«, fragte sie.
»Ja, aber lassen Sie mir nur einen Moment!«
»Hallo! Kann mir jemand helfen, bitte!«, rief sie erneut.
»Machen Sie doch nicht so einen Aufstand! Mir geht’s gleich besser!«
Die Tür sprang auf, und ein Polizeibeamter eilte herein. Er kam auf Schröder zugeschossen und versuchte ungeschickt, ihn von hinten hochzuheben. Dabei verlor er seine Polizeimütze, die mit einem hohl klingenden Geräusch auf dem Boden landete.
»Lass mich hier liegen, verdammt!«, rief Schröder und der Beamte ließ gehorsam von ihm ab.
»Gebt mir nur einen Augenblick, Herrgott!« Der Beamte machte einen Schritt zurück.
»Tut mir leid«, sagte er unsicher.
»Ja, ja, schon gut! Und was platzen Sie eigentlich hier so rein? Das ist die verdammte Herrentoilette!«, herrschte er Elin an.
»Wir haben schon wieder eine Vermisste! Eine 23-Jährige aus Lingen!«
Schröder ließ verzweifelt seinen Kopf auf die Fliesen sinken. Die Mütze des Beamten lag direkt vor ihm. Er starrte auf das Polizeiabzeichen, während Elin ihm die Umstände des Verschwindens der Vermissten schilderte.
»Sie ist gestern Nacht nicht mehr nach Hause gekommen. Sie ist Kellnerin in einer Bar und fährt einen Roller. Wohnt mit ihrem Freund zusammen, der die Polizei anrief, als sie morgens noch nicht zu Hause war. Der Roller stand an einer Landstraße. Der Schlüssel steckte noch.«
Schröder hob den Kopf. Er fixierte das Abzeichen auf der Polizeimütze. Ein goldener Polizeistern mit dem niedersächsischen Wappen darin. Und plötzlich war es, als hätte er ein Suchbild aufgelöst. Plötzlich konnte er in dem ganzen Durcheinander ein Bild erkennen. In dem Wappen bäumte sich ein rotes Pferd auf.
»Elin! Erinnern Sie sich an Maries Zeichnungen?«, fragte er.
»Natürlich!«
»Sehen Sie sich das Wappen auf der Mütze an! Das Pferd! Marie hat dieses Pferd gezeichnet!« Elin nahm die Mütze in die Hand.
»Der Mörder ist einer von uns! Er ist ein Polizist!«, sagte Schröder, und die Stille, die darauf folgte, war ohrenbetäubend.
Schröder wollte seinen Verdacht niemandem sonst mitteilen. Für ihn war jeder verdächtig, auch in diesem Revier.
Elin konnte seine Vermutung nachvollziehen, doch für sie blieb es nur eine Vermutung.
»Schröder, ich verstehe Sie. Und die Ähnlichkeiten zwischen den Bildern und dem Wappentier sind sehr auffällig. Dennoch ist das noch kein Beweis.«
»Ich kann es Ihnen beweisen!«, sagte Schröder.
Schröder hatte ein Satellitenfoto der Lichtung an eine Tafel geheftet. Auf dem Foto war eine Stelle mit einem roten Kreis markiert. Schröder und Elin standen vor den vier Polizisten, die damals bei dem Einsatz dabei gewesen waren. Schröder las eine Anwesenheitsliste vor.
»Lange!«
»Hier!«
»Wessel!«
»Hier!«
»Peters!«
»Hier!«
»Und Jovic!«
»Hier!«
»Sie sind die Einsatztruppe, die die Fundstelle untersucht und die Gräber ausgehoben hat. Ich habe Sie heute zusammengerufen, weil wir etwas klären müssen, das immens wichtig für diesen Fall ist. Es geht um einen Schuhabdruck.«
Schröder machte einen Schritt zur Seite und deutete auf das Foto.
»An dieser Stelle, etwa zwanzig Meter nordwestlich von dem Massengrab, haben wir auf einem Trampelpfad einen Abdruck gefunden, der von einem Polizeischuh stammt. Ich möchte, dass Sie versuchen, sich jetzt genau zu erinnern, wo Sie sich an diesem Tag aufgehalten haben und ob der Abdruck vielleicht von Ihnen stammen könnte. Nehmen Sie sich Zeit. Sie können auch nach vorne kommen und das Foto genau betrachten.«
Kaum hatte Schröder den Satz beendet, ging eine Hand nach oben. Der junge Wessel meldete sich.
»Ja?«
»Ich habe dort gesucht! Das war mein Sektor! Ich kann mich noch erinnern, dass dort eine Pfütze war. Ich dachte, ich sollte da besser nicht reintreten, also bin ich rübergestiegen. Aber, dass ein Abdruck darin war, konnte ich nicht erkennen.«
»Sind Sie sich wirklich sicher? Das ist schon eine Weile her.«
»Ich bin mir sicher! Diesen Tag werde ich bestimmt nicht vergessen!«
Der junge Polizist musste um seine Fassung kämpfen. Schröder und Elin sahen auch den anderen an, was dieser Tag in ihnen hinterlassen hatte. Eine bedrückende Stille füllte den Raum. Schröder musste sich räuspern, bevor er weitersprechen konnte.
»Vielen Dank! Sie können gehen!«
Die Männer erhoben sich und verließen den Raum. Als Wessel an Schröder vorbeiging, klopfte er dem jungen Mann auf die Schulter. Wortlos entfernte sich die Gruppe, und Schröder und Elin blieben allein zurück.
»Er war also dort! In seiner Uniform!«, sagte Elin.
»Jensen lag falsch! Der Polizist war nicht übergewichtig, er trug die Leiche auf seinen Schultern. Deswegen war er so schwer.«
»Jetzt verstehe ich! Das ist seine Masche. Er stellt sich nachts auf die Landstraßen und fingiert eine Polizeikontrolle. Auf diese Weise kann er sich die Mädchen heraussieben. Deshalb stehen die Autos am Straßenrand. Deshalb stecken die Schlüssel, stehen die Türen offen. Natürlich. Sie steigen aus oder von ihrem Roller und gehen mit einem Polizisten mit. Mit jemandem, von dem man zuallerletzt glaubt, dass er … Sie haben ihm alle vertraut und sind mit ihm gegangen! Direkt in ihr Verderben!«
Schröder sah Elin tief in die Augen.
»Jetzt haben wir ihn! Ich weiß, wer es ist!«, sagte er leise, fast flüsternd.
»Was? Wen meinen sie?«
»Niemals haben wir Spuren an den Fahrzeugen finden können. Weil er nie in ihrem Auto war. Sie stiegen ja alle aus! Nur einmal hat er den Fehler gemacht, selbst einzusteigen. Als er ein abgestelltes Auto an der Straße untersuchen musste. Wir waren bereits bei ihm! Das Haar von dem Hirsch stammt von einer Trophäe! Es ist Winkler!«
Kapitel 24
Es war Nacht. Schröder, Elin und acht weitere Einsatzkräfte bereiteten sich auf den Zugriff vor. Der Einsatz war unter höchster Geheimhaltungsstufe organisiert worden. Nur eine Handvoll Beamte war eingeweiht.
Das Einsatzkommando sowie Schröder und Elin waren in Schwarz gekleidet. Drei Scharfschützen präparierten ihre Gewehre und Zielfernrohre. Schröder lud seine Waffe durch, und Elin legte eine schusssichere Weste an.
»Wo ist Ihre Weste?«, fragte sie.
»Mit dem Ding am Körper könnte ich nicht aufrecht stehen.«
»Passen Sie auf, dass Ihr Rücken Sie nicht mal das Leben kostet, Schröder! Würden Sie einen gut gemeinten Rat von mir annehmen?«
»Nein!«
»Gehen Sie zur Osteopathie!«
»Ich weiß nicht mal, was das ist«, sagte er abwertend. Für Unterhaltungen dieser Art war jetzt nicht die Zeit. Jeder musste hundertprozentig konzentriert sein auf das Ziel.
Schröder blickte prüfend zu seinen Kollegen.
»Fertig? Es geht los!«
Sie stiegen in die Autos. Schröder fuhr mit Elin voraus. Sein Herz galoppierte. Er hatte so viel Adrenalin und Schmerzmittel in den Adern, dass sein Rücken völlig taub war. Er fühlte sich an wie ein Stück Holz. Sein Gesicht war kochend heiß, als hätte er Fieber, doch seine Hände waren eiskalt. Gleich würden sie bei ihm sein. Gleich standen sie dem Monster gegenüber. Nur, dass er nicht wie ein Monster aussah. Im Gegenteil. Schröder hatte ihn ganz sympathisch gefunden damals. Aber das war nur eine Maske gewesen. Heute Nacht würde er ihnen sein wahres Gesicht zeigen.
Schröder prüfte im Rückspiegel, ob alle Autos folgten. Als er in die nächste Straße einbog, sah er schon das Haus mit dem Polizeischild. Die Lichter waren alle gelöscht. Ein Team war bereits vor Ort und hatte Winkler seit sechs Stunden observiert. Er war zu Hause. Umsonst würden sie heute nicht kommen.
Nachdem die Scharfschützen sich postiert hatten, stiegen Schröder und Elin aus. Mit vier Beamten gingen sie die Treppe hinauf zur Eingangstür. Ein letztes Mal blickten sie sich alle in die Augen. Als Schröder klingelte und kein Klingelzeichen zu hören war, wurde die Tür aufgebrochen. Die vier Einsatzkräfte gingen zuerst rein. Dann folgten Schröder und Elin. Mit Taschenlampen und Waffen im Anschlag arbeiteten sie sich durch den Flur vor. Geisterhaft starrten die Hirschköpfe sie aus ihren toten Augen an. Ein Beamter ging nach links in die Küche, ein anderer rechts den Treppenaufgang hoch. Ein dritter betrat das Büro am Ende des Ganges. Hier hing Winklers Uniform über einer Stuhllehne. Doch von ihm keine Spur. Geradeaus führte eine Tür ins Wohnzimmer. Der vierte Polizist öffnete sie und fand auch diesen Raum verlassen und dunkel vor. Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen flogen umher und beleuchteten ein altes Sofa, auf dem verschiedene Kleidungsstücke lagen, einen Sessel mit einer Fernbedienung auf der Lehne und einen Tisch, vollgestellt mit Tellern, Tassen und Essensresten. In einem Wandschrank standen ein Fernseher und ein DVD-Spieler. Unzählige DVDs lagen in den Fächern des Schrankes. Schröder stand inmitten des Zimmers und lauschte in die Dunkelheit. Elin sah sich ratlos um und ließ ihre Waffe sinken.
»Das ist er nicht! Wir haben den falschen Mann!«
Schröder deutete ihr wütend an, dass sie ruhig sein solle.
Die anderen Beamten stießen zu ihnen.
»Das Haus ist ein Chaos! Es ist der Falsche, glauben sie mir!«
Schröder zeigte mit dem Finger auf den zugezogenen Vorhang. Der Saum bewegte sich leicht. Schröder ging vorsichtig näher und schob ihn beiseite. Eine Terrassentür kam zum Vorschein. Sie war geöffnet und führte in einen Garten. Dort stand ein kleines Häuschen, durch dessen winziges Fenster schwaches Licht auf den Rasen fiel. Über Funk wurden die Scharfschützen reingerufen, die sich als Erste im Garten in Stellung brachten. Dann gingen sie raus. Elin folgte als Letzte. Sie hatte ihre Waffe wieder eingesteckt, weil sie keine Gefahr mehr sah. Irgendwo war ihnen ein Fehler unterlaufen. Vielleicht hatte sie Schröder und seinem Verdacht zu schnell Glauben geschenkt. Vielleicht war das Zusammenkommen so vieler Fakten und Indizien doch nur ein simpler Zufall gewesen. Sie würden Winkler wahrscheinlich beim Fahrradflicken oder beim Biertrinken mit ein paar Freunden überraschen, mehr nicht.
Schröder fixierte die Tür des Gartenhäuschens über Kimme und Korn. Ein Schatten huschte an dem schmutzigen Fenster vorbei und beinahe hätte er abgedrückt. Sein Herz machte einen Sprung und verschlug ihm den Atem. Er holte einmal tief Luft und ging weiter. An der Tür streckte er langsam die Hand aus und berührte die Türklinke. Er musste gegen seine Angst ankämpfen, spürte die Nähe der anderen Polizisten in seinem Rücken und an seiner Seite, und dann drückte er die Klinke herunter und stieß die Tür auf.
Niemand konnte diesen Anblick begreifen. Das Bild, das sich ihnen darbot, war so fremd und brutal, dass zunächst keiner die Gefahr spürte. Das Bild musste erst von ihrem Verstand verarbeitet werden, nachdem sie in Sekundenbruchteilen alle seine Einzelteile wahrgenommen hatten. Als das geschah, als das Begreifen einsetzte, reagierten die Ersten. Ihre Körper spannten sich, die Arme streckten die Waffen weiter vor. Elin ging instinktiv in Deckung und zog ihre Pistole. Schröders Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Seine Augen waren weit geöffnet, sodass sie alles sehen und auf alles reagieren konnten.
In der Mitte des Raumes hing kopfüber ein ausgeweideter Hirsch. Der Bauch war aufgeschlitzt und klaffte auseinander. Seine Kehle war durchgeschnitten und Blut tropfte aus der Wunde in einen kleinen Abfluss im Boden. Die Zunge hing ihm weit aus dem Maul. Verschiedene Eimer und Wannen aus rostigem Metall standen herum. Eine Wanne war mit den noch dampfenden Gedärmen des Tieres gefüllt. In einer anderen befand sich Blut. Eine nackte Gestalt kniete davor. Sie war über und über mit Blut besudelt. Die Gestalt hatte ihren Kopf in die Wanne getaucht und schien das Blut zu trinken. Plötzlich schoss der Kopf aus dem Blut empor. Ein Regen aus Blutstropfen peitschte über die Wände und die Decke. Winkler atmete tief ein und gab einen Laut von sich, der wie ein Wimmern und ein Lachen zugleich klang. Er strich sich die nassen Haare nach hinten, hielt inne und schien zu bemerken, dass er nicht mehr allein war. Langsam drehte er sich um. Er sah grauenerregend aus. Seine Haare glänzten schwarz, der ganze Körper war rot und nackt, nur seine Augen stachen leuchtend weiß aus dem Blut hervor. Er stand auf. Schröder folgte seiner Bewegung mit der Waffe.
»Oh Gott! Es ist vorbei! Es tut mir Leid! Es tut mir Leid!«, sagte Winkler mit tränenerstickter Stimme.
Schröder und Elin standen nachdenklich im Wohnzimmer. Um sie herum sicherten die Kriminaltechniker die Spuren.
»Ich war mir so sicher, dass wir falsch lagen! Alles hier ist anders, als ich es im Profil beschrieben habe! Ich kann mir das nicht erklären! Ich habe Sie in Gefahr gebracht!«
»Schon gut.«, sagte Schröder. Franke kam ins Wohnzimmer.
»Ich denke, Sie haben einen Volltreffer gelandet! In seinem Auto lag eine rote Decke. Sie könnte zu den Faserspuren passen, die wir sichergestellt haben. Und wir haben eben etwas im Kühlschrank gefunden, das wie Menschenfleisch aussieht!«
Schröder blickte in den Flur, wo gerade ein Techniker mit einem Einmachglas aus der Küche kam. Das Glas wurde von einem Scheinwerfer durchleuchtet, und Schröder erkannte ein fast quadratisches Stück Fleisch in einer gelblichen Flüssigkeit. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Er hatte immer noch den Geruch von Blut in der Nase. Dieses Haus war das Grauen. Allein hier zu stehen, kostete ihn Überwindung.
»Ich dachte, ich würde mich freuen, wenn wir ihn schnappen.«, sagte er enttäuscht und schleppte sich müde aus dem Wohnzimmer.
Kapitel 25
Schröder saß im Wartezimmer von Dr. Frambach und warf einen Blick auf die Bilder an der Wand. Ein Bild zeigte einen großen See und viele Kinder, die sich an den Händen hielten und um das Ufer herumliefen. Schröder fiel auf, dass die Tür zum Sprechzimmer nicht ganz geschlossen war. Durch einen winzigen Spalt konnte er hineinsehen.
Da er nichts hörte und vermutete, dass Frambach nicht im Zimmer war, öffnete er die Tür und trat ein. Spielzeug war überall auf dem Boden verteilt. Eine Schublade im Aktenschrank stand offen. Schröder ging weiter. Stifte lagen auf dem Kindertisch und verschiedene Zeichnungen. Darunter auch eine Zeichnung von einem roten Pferd. Hinten links an der Wand stand eine lederne Couch, die vorher von dem massiven Tisch verdeckt worden war. Ein Teddybär lag darauf. Ihm fehlte ein Auge. Rechts befand sich eine weitere Tür, und an der Wand hingen einige Fotos. Auf einem Foto sah man Frambach mit seiner Frau und zwei Kindern. Schröder erschrak über das, was er auf einem anderen Foto entdeckte. Dort waren Dr. Frambach, Dr. Petri und Dr. Voss abgebildet. Sie standen auf einem Boot und hielten einen riesigen Fisch in ihren Händen. Schröder machte einen Schritt nach vorn, um das Bild näher betrachten zu können. Da hörte er ein Plätschern. Er war in eine Pfütze getreten. Seine Fußspitzen standen in einer Wasserlache, die aus dem anderen Zimmer drang. Als er die Tür öffnete, blickte er in komplette Dunkelheit. Mit einer Hand tastete er nach einem Lichtschalter an der Wand und bekam ihn endlich zu fassen. Er betätigte ihn, und an der Decke flackerten Neonröhren auf, die in zwei Reihen längs des Raumes verliefen. Es war ein ungewöhnlich langer, schlauchartiger Raum. Im zuckenden Licht konnte Schröder zunächst nur Schemen erkennen, doch dann brannten die Röhren konstant. Schröder fuhr ein eiskalter Schock in die Glieder. Unter den Neonröhren standen Seziertische mit Aquarien darauf. Sie bildeten eine Art Spalier bis zum Ende des Raumes, wo ein Aquarium quer stand. In den Wasserbecken lagen tote Frauen, und in dem letzten, querstehenden lag Marie. Als Schröder sie erkannte, öffnete sie ihre Augen, drehte sich zu Schröder und begann zu schreien. Luftblasen sprudelten aus ihrem Mund, und sie schlug mit einer Hand gegen das Glas.
Schröder schreckte aus dem Traum hoch. Er lag auf der Couch in seinem Wohnzimmer und trug sogar noch seine Jacke. Er war schweißgebadet.
Karl kam im Schlafanzug aus seinem Zimmer und lachte über seinen Sohn.
»Na, lange Nacht, was?«
»Ja, viel zu lang!«
Karl humpelte in die Küche und stellte den Wasserkocher an.
»Wir haben ihn!«, sagte Schröder, und es klang furchtbar harmlos.
»Im Ernst? Wer ist es?«, fragte Karl.
»Ein Polizist aus Belm!«
»Ein Polizist?«
»Ja! Jetzt werden wir etwas mehr Zeit haben. Und ich werde eine Woche lang nur schlafen.«
»Das musst du mir in Ruhe erzählen. Ich geh schnell ins Bad«, sagte Karl.
»Ruf mich, wenn du Hilfe brauchst! Und nicht abschließen!«
»Oh, da hat übrigens jemand für dich angerufen. Die Nummer hab ich aufgeschrieben.«
»Wie hieß er denn?«
Aber Karl war bereits im Bad verschwunden. Schröder rieb sich die Augen, stand auf und ging zum Telefon. Die Nummer war ihm unbekannt. Er nahm den Hörer in die Hand, um die Nummer zu wählen, da klingelte das Telefon.
»Schröder?«
Es war Wegener. Schröder hörte, was er zu sagen hatte, und legte auf. Dann steckte er den Zettel mit der Nummer in die Jackentasche und fuhr so, wie er war, aufs Revier.
Winkler saß im selben Verhörraum wie Mike damals. Seine Hände und Füße waren an einen ledernden Gürtel gefesselt. Schröder und Elin saßen ihm an einem Tisch gegenüber. Winkler starrte auf die weiße Tischplatte und grinste.
»Sie wollten uns sprechen?«, fragte Schröder.
Winkler sah auf.
»Das stimmt! Ich wollte gestehen! Ein Geständnis ablegen!«
»Was wollen Sie denn gestehen?«
»Wie haben Sie mich gekriegt? Wie sind Sie auf mich gekommen?«, fragte er.
»Sie haben Fehler gemacht. Es gibt keinen perfekten Mord. Man findet immer Spuren. Jeder Täter verrät sich.«, sagte Elin.
»Ist das so?«
»Dumm, dass Sie in das Auto gestiegen sind. Dumm, dass Marie ihnen entwischt ist.«
Winkler musste lächeln.
»Dumm, dass Sie einen Fußabdruck hinterlassen haben.«
»Sie haben recht! Ich bin wohl dumm.«
»Wo sind die anderen Leichen vergraben?«, fragte Schröder.
Winkler reagierte nicht, starrte nur vor sich hin.
»Was bedeutet Ihnen die Mathematik?«, fragte Elin.
»Ich habe die Mädchen eingefangen. Sie kamen alle mit mir. Alle!«
»Wo haben Sie sie hingebracht?«
»Ich habe sie getötet!«
»Das wissen wir. Aber warum Wasser, warum haben Sie sie ertränkt?«
»Wasser reinigt!«
»Und die Verstümmelungen? Wieso?«, wollte Schröder wissen.
»Ich brauche ihr Blut! Ihr Fleisch! Sonst wäre ich selbst gestorben! Niemand will doch sterben! Ich brauche das Blut. Ich habe eine Krankheit, wissen Sie? Ich kann leider kein normales Essen zu mir nehmen, so wie Sie. Ich bin auf Blut angewiesen. Sonst versagen meine Organe. Das ist eine sehr seltene Erkrankung des vegetativen Nervensystems. Blutarmut. Mein eigenes Blut löst sich einfach auf. Ich muss Blut zu mir nehmen, um meinen eigenen Bluthaushalt zu stabilisieren.«
Schröder wusste nicht, ob er lachen sollte. Nahm Winkler wirklich ernst, was er sagte, oder versuchte er sie lächerlich zu machen?
Doch er sah aus, als sei dieses Gefasel seine volle Überzeugung. Auch Elin zweifelte plötzlich an seinem Geisteszustand.
»Wissen Sie, was die Wurzel aus 121 ist?«, fragte sie.
Winkler reagierte nicht.
»Die Hauptstadt von Frankreich?«
»Sind das Ihre Methoden, um meine Zurechnungsfähigkeit zu prüfen? Eine Rechenaufgabe und ein wenig Geographie? Wenn ich das falsch beantworte, komme ich nur in die Klapse und nicht in den Knast, stimmt’s? Glauben Sie, wenn ich zurechnungsfähig wäre, dass ich diese Fragen dann wahrheitsgemäß beantworten würde? Oder würde ich Sie anlügen?«
Winkler beugte sich nach vorn und freute sich auf eine Antwort. Elin sagte nichts.
»Fünf und Belgrad! Ich will Ihnen was sagen, Kollegin! Ich sage Ihnen, wie es sich anfühlt, Blut zu trinken! Blut, das direkt aus den Adern eines Menschen fließt. Es ist herrlich warm, und es ist dicker, vollmundiger als Wasser, aber nicht so breiig wie Tomatensaft, eher wie Orangensaft, ganz weich und warm. Und der Geschmack explodiert förmlich im Mund, sofort hat man das Gefühl, den Geschmack überall zu schmecken, zu riechen und zu fühlen. Er füllt einen ganz aus. Es ist wie flüssige Energie. Der Körper saugt das Blut förmlich auf, und jede Zelle trinkt und trinkt, bis sie voll ist mit diesem wunderbaren Rot. Dieses Rot–«
»Schluss jetzt!«, sagte Schröder laut und stand auf. Diese Unterredung wurde immer mehr zur Farce. Winkler nutzte sie, um sich darzustellen, um sie zu verunsichern. Er spielte mit ihnen. Schröder wollte das jetzt beenden.
»Es ist das Leben, das Sie trinken, und dadurch werden Sie selbst zu Leben!«
Auch Elin erhob sich. Sie gingen zur Tür.
»Versuchen Sie es mal, Kollegin! Sie werden es nicht bereuen!«
Sie verließen den Raum, gingen über den Flur zur nächsten Tür und traten ein. Wegener, Trostmann und Keller saßen hier und beobachteten Winkler durch den Spiegel. Der saß ganz ruhig da und grinste wieder.
»Er hat eine ausgeprägte Psychose! Sie wissen, was das heißt?«
»Aber wir haben ein Geständnis von ihm! Es ist vorbei! Er wird nie wieder rauskommen, egal, wo man ihn hinsteckt! Das war gute Arbeit!«, sagte Wegener anerkennend und reichte Elin die Hand.
»Das war allein Schröders Verdienst! Ich habe dermaßen falsch gelegen, dass ich mir das immer noch nicht erklären kann!«
»Ach, vergessen Sie’s! Heute Abend trifft sich die ganze Soko noch mal zum gemeinsamen Essen. Ein Abschiedsabend. Es wäre schön, wenn Sie auch kommen könnten«, sagte Wegener. Er konnte seine Euphorie über den Ausgang des Falls nicht mehr verheimlichen.
»Sicher, gern«, sagte Elin.
»Schröder, du bist selbstverständlich auch eingeladen!«
»Warum sollte ich nicht eingeladen sein?«, fragte Schröder und ging hinaus.
Kapitel 26
Schröder saß allein an der Bar und beobachtete die anderen. Hin und wieder nippte er an seinem Bier. Die meisten waren in ausgelassener Stimmung und hatten das ein oder andere Glas zuviel getrunken. Verständlich, nach den Wochen höchster Anstrengung und Anspannung. Jetzt lachten und scherzten sie miteinander. Eine Gruppe hatte sich um die Jukebox versammelt und sang lauthals die Lieder mit. Elin stand mit ein paar Leuten von der Kriminaltechnik zusammen, und einige versuchten, mit ihr zu flirten. Schröder nahm zwei Schmerztabletten und spülte sie mit seinem Bier hinunter. Keller gesellte sich zu ihm.
»Na, vertragen sich deine Pillen mit Alkohol? Heute ist es auch egal, was? Du musst nicht immer so ernst nehmen, was ich und Trostmann sagen. Wir machen nur ’n bisschen Spaß. Das mit dem Vampir war echt ’ne große Leistung! Hut ab!« Keller klopfte Schröder ein paarmal auf die Schulter und torkelte dann zur Jukebox. Der Titel Marmor, Stein und Eisen bricht erklang, und Keller umarmte Trostmann, und alle grölten den Song mit. Schröder wurde es zu laut, obwohl es ganz lustig war. Er ging hinaus und setzte sich auf die Stufen. Es begann, leicht zu nieseln. Die Tür öffnete sich, und Elin lugte heraus. Drinnen sang Drafi gerade Weine nicht, wenn der Regen fällt, und Schröder stellten sich die Nackenhaare auf, als er diese Zeilen hörte. Ein unangenehmes Gefühl kroch seinen Rücken herauf, wie eine winzige Schlange. Elin setzte sich zu ihm und musterte ihn neugierig.
»Nicht in Feierlaune?«, fragte sie. Schröder antwortete nicht. Er stellte sich vor, wie der Mörder den Mädchen dieses Lied vorspielte, doch der Mörder war nicht Winkler, sondern wieder diese in Schwarz gekleidete gesichtslose Gestalt. Weine nicht, wenn der Regen fällt. Dieser Satz passte auf so morbide und ironische Weise zu diesem Sommer. Der Sinn hatte sich umgekehrt, obwohl der Satz derselbe geblieben war. Dieselben Worte, in derselben Reihenfolge. Und trotzdem entstand ein verkehrter Sinn.
»Ich fahre morgen wieder.«, sagte Elin.
Schröder starrte nur geradeaus.
Elin wollte ihm eine Reaktion entlocken und rempelte ihn mit der Schulter an.
»Sie sind echt schwierig, Schröder!« Sie stand wieder auf. Nach allem, was sie zusammen erlebt hatten, war sie ein wenig beleidigt, dass Schröder so gar nicht auf sie reagierte.
»Ich bring Sie hin.«, sagte Schröder plötzlich. Er kehrte aus seinen Gedanken zurück, kurz bevor Elin in der Kneipe verschwunden war.
»Was?«
»Zum Bahnhof! Ich bring Sie hin!« Elin lächelte und zog die Tür auf. An der Jukebox jubelten die Männer vor Begeisterung und schrien vor Lachen. Aber Schröder konnten sie damit nicht anstecken.
Schröder trug Elins Koffer zum Bahnsteig. Elin hatte ein wenig Angst vor diesem Moment. Sie wusste nicht, wie sie sich von Schröder verabschieden sollte. Irgendwie war er ihr doch ans Herz gewachsen.
»Tja, da sind wir!«, sagte sie. Der Regen pladderte müde auf die Überdachung des Bahnsteigs. An einigen rissigen Stellen hatten sich bereits größere braungeränderte Wasserflecken gebildet, von denen jetzt schwere Tropfen herabfielen.
»Sie fahren nach Hause. Warum so betrübt?«, fragte Schröder.
Elin blickte verloren auf die glänzenden Gleise.
»Zu Hause! Das ist auch nur ein Raum mit ein paar Möbeln drin. Morgen geht’s gleich weiter nach Freiburg zum nächsten Fall.«
»Sie sind ein Wanderpokal«, lächelte Schröder.
»Ja, das bin ich wohl.«
Der Zug fuhr ein, ohne dass einer von ihnen die Durchsage gehört hätte. Ein Windstoß erfasste sie, als die Lok sie passierte, und Elins Haarsträhnen tanzten auf ihrer Stirn. Die Bremsen kreischten ohrenbetäubend. Elin nahm ihren Koffer. Sie war sich sicher, dass Schröder ihr nicht die Hand geben wollte, also reichte sie sie ihm erst gar nicht.
»Machen Sie’s gut! Und ziehen Sie Ihre Bleiweste an!«
»Alles Gute! Wir waren kein schlechtes Team!«
»Find ich auch!«
Hinter der spiegelnden Scheibe sah Schröder Elin einen Platz suchen. Seine Augen veränderten scheinbar selbstständig den Fokus und stellten Schröders Spiegelbild scharf. Er sah sich allein auf dem Bahnsteig stehen. Ein Tropfen tippte auf seine Schulter wie ein Finger, der ihn daran erinnerte, jetzt besser zu gehen. Elin sollte nicht sehen, wie er sich fühlte. Dieses dumme Ding. Vorlaut und taktlos war sie. Viel zu jung für diesen Job. Aber ehrgeizig genug. Und eine freche Göre.
Er vermisste sie jetzt schon.
Mit Elin verließen auch die Medien die Stadt. Jetzt, wo alles vorbei war, war Osnabrück wieder das, was es immer gewesen war und auch immer bleiben würde. Eine Provinzstadt mitten im ländlichen Niemandsland. Ein schönes Niemandsland.
Alles flüchtete aus den Hotels, füllte die Straßen, Autobahnen und Luftwege. Osnabrück lief aus, wie eine volle Badewanne. Es gurgelte laut im Abfluss, und dann kehrte Ruhe ein. Osnabrück entspannte sich wieder.
Kapitel 27
»Soll ich mich jetzt ausziehen?«, fragte Schröder. Er stand unsicher vor Frau Weber, die ihn schmunzelnd begutachtete.
»Wenn Sie sich dann besser fühlen?«
»Nein, ich weiß nicht …«
»Sie waren noch nie bei der Osteopathie?«
»Ich weiß eigentlich gar nicht, was das ist. Eine Freundin hat mir geraten, Sie aufzusuchen.«
»Ich fänd’s klasse, wenn wir erst mal ein bisschen reden würden.«
Frau Weber ging hinter ihren Schreibtisch, und Schröder nahm auf einem Stuhl Platz.
»Es geht um meinen Rücken! Ich habe starke Probleme mit dem Rücken, schon seit Jahren. Jetzt war ich erst beim Kernspin, und die haben gesagt, dass ich einen Bandscheibenvorfall habe, der irgendwelche Nerven abklemmt.«
»Woher haben Sie den Bandscheibenvorfall?«
Schröder stutzte.
»Was weiß ich?«
»Sie hatten also keinen Unfall, auf den die Verletzung zurückzuführen wäre?«
»Nein!«
»Ich möchte eine Akte anlegen. Schildern Sie mir doch mal alle ihre Verletzungen! Am besten in chronologischer Reihenfolge.«
»Auch die als Kind?«
»Alles ist wichtig!«
»Ja, also mit vier, glaub ich, hab ich mir den linken Arm gebrochen. Die Speiche, das weiß ich noch. Dann später als Jugendlicher mit vierzehn, fünfzehn hatte ich mal einen Bänderriss im Knie, Innenband. Und beim Schlittenfahren hab ich mir mal den kleinen Finger gebrochen, da war ich acht oder so. In der Ausbildung bei der Polizei hab ich mir einen Bänderriss im Sprunggelenk zugezogen. Mit fünfunddreißig ein Schuss in die Schulter. Seitdem nichts, bis auf den Rücken halt.«
»Knie und Sprunggelenk waren auf welcher Seite?«
»Beide rechts.«
»Und die Schussverletzung?«
»Links.«
»Na, das ist doch schon mal was! Und was machen Sie beruflich?«
»Ich bin Polizist.«
»Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«
»Neunundvierzig.«
»Okay, dann können Sie sich hinlegen. Auf den Rücken, bitte.«
Schröder legte sich unter Schmerzen auf die Liege und versuchte, eine halbwegs bequeme Position einzunehmen. Frau Weber kontrollierte die Länge seiner Beine. Dann winkelte sie das rechte Bein an und griff mit einer Hand unter seinen Rücken.
»Ganz locker lassen! Nicht mithelfen!«
Sie legte das Bein wieder ab und ging zum Kopfende, wo sie ihre Hände unter Schröders Kopf legte.
»So, Herr Schröder, ich behandle am liebsten nach der craniosakralen Methode. Das heißt, dass ich nur über den Kopf arbeite.«
»Okay«, sagte Schröder, ohne wirklich zu verstehen, was sie meinte.
»Gut! Also, Sie wissen noch gar nichts über Osteopathie. Aber Sie legen sich bereitwillig auf den Tisch. Das heißt, dass Sie wirklich verzweifelt sind, was?«
Schröder musste lachen und bekam sogleich die Quittung in Form von einem Schmerzschub.
»In der Osteopathie sehen wir den Menschen als Ganzes. Der menschliche Körper ist ein komplexes System, das aus Tausenden Einzelteilen besteht. Und wie bei einem Uhrwerk sind alle diese Einzelteile miteinander verzahnt durch Sehnen, Bänder, Muskeln, Haut und Knochen. Ich erfühle an ihrem Hinterkopf Verspannungen in ihrer Muskulatur im ganzen Körper. Hier oben beginnt alles. Und ich kann die Verspannungen auch von hier lösen.«
Schröder fühlte, wie sein Nacken wohlig zu kitzeln begann, doch gleichzeitig spürte er auch eine Spannung, die unangenehm war. Er schloss seine Augen. Bilder flammten auf. Bilder aus seiner Vergangenheit, Bilder aus der Gegenwart. Unendlich schnell schossen sie auf ihn zu, dass ihm fast schwindelig wurde. Er hatte das Gefühl, in seinen Kopf einzusinken und aus großer Höhe rücklings zu fallen.
Schnell öffnete er seine Augen wieder.
»Jede Verletzung ist nicht nur lokal begrenzt, sie hat immer auch Auswirkungen auf andere Teile des Körpers«, sagte Frau Weber.
Schröder mochte ihre Stimme. Sie beruhigte ihn, und er schloss die Augen wieder. Diesmal sah er nur ein Bild. Er blickte durch den doppelseitigen Spiegel in das Verhörzimmer. Dort standen ein Tisch und der Stuhl, auf dem Winkler gesessen hatte.
»Die Begründung für Ihre Rückenschmerzen ist unbestritten ihr Bandscheibenvorfall. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass der Bandscheibenvorfall auch die Ursache ist. Vielleicht ist der Vorfall auch nur ein Symptom! Manchmal muss man in längeren Ketten denken, um die Zusammenhänge zu erklären. Sie liegen meist verborgen und sind nicht so offensichtlich!«
Schröder sah immer noch den leeren Verhörraum vor sich, als plötzlich eine riesige Wasserfontäne den Raum flutete und Tisch und Stuhl mit sich riss und gegen die Wand schleuderte. Immer mehr Wassermassen drängten in den Raum, der sich weiter und weiter auffüllte. Der Pegel stieg immer höher, bis der Raum komplett unter Wasser stand. Der Stuhl schlug gegen die Scheibe, die spinnennetzartig zersprang. Schröder öffnete seine Augen und atmete tief ein.
»Ihr Problem sind Ihre alten Verletzungen, die Ihren Körper über Jahre hinweg gezwungen haben, sich auszugleichen. Muskeln und Sehnen verkrampften und verkürzten sich, und unten im Lendenwirbelbereich kam alles zusammen. Ihre Wirbel wurden förmlich herausgehoben. Eine OP kann den Bandscheibenvorfall beheben. Aber Ihre Probleme werden bleiben, weil der Vorfall nur ein Symptom ist!«
»Das klingt fast logisch, wie Sie’s erklären.«, sagte Schröder.
»Es wird ein paar Sitzungen dauern, aber ich denke, wir kriegen das in den Griff. Wenn Sie wiederkommen möchten.«
Schröder setzte sich auf und blinzelte, als wäre er gerade aus tiefem Schlaf erwacht.
»Oh Mann, ich bin total hinüber!«
»Nach den ersten Behandlungen können Erschöpfungszustände auftreten, das ist normal.«
Schröder stellte sich auf die Füße und richtete sich vorsichtig auf. Er wartete auf den Schmerz, doch er kam nicht. Schließlich stand er kerzengerade vor Frau Weber. Der Schmerz war so abgeschwächt, als hätte man seine Nerven in Watte gepackt.
»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte er, und zum ersten Mal seit langer Zeit empfand er so etwas wie Freude. Er konnte sein Glück gar nicht fassen.
»Lassen Sie sich vorne neue Termine geben! Bis dann!«, sagte Frau Weber und ging hinaus.
Schröder zog seine Schuhe an. Selbst beim Bücken kam er ohne Probleme hin.
Schröder ging zur Rezeption und erblickte dort ein bekanntes Gesicht. Es war Veronika, die ehemalige Sprechstundenhilfe von Petri.
»Veronika? Was machen Sie denn hier?«
»Herr Schröder! Das ist ja witzig!«, freute sie sich.
»Ich hab Sie schon vermisst bei Dr. Petri! Ihre Nachfolgerin ist … na ja, Sie waren besser!«
»Danke schön! Und Ihr Rücken hat Sie bis hierher geführt?«, fragte sie.
»Ja, Petri weigert sich, mich zu behandeln!«
»Brauchen Sie noch Termine?«
»Ja, richtig!«
Veronika holte einen Block hervor und blätterte darin. Schröder sah sich die junge Frau eindringlicher an. Er lehnte sich weiter über den Tresen zu ihr.
»Also, nächsten Mittwoch wäre abends um halb sechs was frei.«
»Ist gut. Darf ich Sie etwas fragen, Veronika?«
Veronika ließ ihre Augen fest auf den Block geheftet. Sie wusste, was Schröder fragen wollte.
»Warum haben Sie gekündigt? Petri hat so komisch reagiert, als ich ihn gefragt habe.«
»Und die Woche drauf, wieder zur selben Zeit?«, fragte sie.
»Ich habe Sie was gefragt!«
»Was geht Sie das an?«
»Petri ist mein Freund. Ich habe Angst, dass ich ihn nicht richtig kenne.«
Veronika blätterte immer weiter und versuchte, ihre Tränen zu verstecken.
»Veronika, bitte!«
»Wir waren eines Abends allein in der Praxis, und da hat er versucht, sich mir zu nähern. Sind Sie jetzt zufrieden?«
»Ist er handgreiflich geworden?«
Veronika nickte und rieb sich die laufende Nase.
»Er war plötzlich so verwandelt. Ganz anders als sonst.«
Eine heiße Wut stieg in Schröder hoch. Er konnte nicht glauben, dass sein eigener Freund so etwas getan hatte. Er fühlte sich betrogen.
»Hat er Sie vergewaltigt?«, fragte Schröder, und Veronika blickte sich entsetzt um, ob jemand das gehört haben konnte. Aber sie waren allein.
»Nein, ich bin weggelaufen!«
Schröder hätte gern ein Wort des Trostes gesagt. Aber seine Wut konnte ihn keine Sekunde länger hier verharren lassen.
Schröder raste durch die Stadt. Er wollte Petri zur Rede stellen, wollte ihm in die Augen sehen und ihn bestrafen für das, was er getan hatte. Aber eine weitere Frage bohrte sich in Schröders Kopf und ließ ihn nicht mehr los. Die Frage lautete: Was hatte Petri noch getan?
Schröders Handy klingelte, als er gerade eine rote Ampel überfahren hatte. Franke war am anderen Ende der Leitung.
»Hören Sie, Schröder, Sie müssen ins Labor kommen, so schnell wie möglich!«
»Ich muss noch was erledigen!«, sagte Schröder barsch.
»Das hat Zeit, glauben Sie mir! Kommen Sie sofort her!« Franke legte auf, und Schröder ahnte etwas ganz Schreckliches.
Franke saß über ein Mikroskop gebeugt, als Schröder das Labor betrat.
»Was gibt’s?«
»Wir haben ein Problem!«
»Erklär’s mir so, dass ich es verstehe!«
»Da gibt’s nicht viel zu verstehen. Ich hatte nach der Festnahme natürlich noch etliche Tests durchzuführen. Das Sperma, das wir gefunden haben, ist nicht von Winkler! Ich hab einen DNA-Test gemacht. Aber das ist noch nicht alles. Sieh dir das an!«
Franke schob einen Gebissabdruck aus Gips in die Mitte des Tisches.
»Den hab ich mir von Winklers Zahnarzt besorgt. Denn in dem Gewebe, das wir im Kühlschrank fanden, habe ich Bissspuren entdeckt!«
Franke legte eine Folie mit den markierten Bissspuren aus dem Gewebe auf den Tisch und legte den oberen Gipsabdruck darauf.
»Sie passen nicht zusammen.«
Franke sah Schröder fast entschuldigend an. Schröders Gedanken schossen wie Blitze durch seinen Kopf.
»Ich kann nicht sagen, ob Winkler der Mörder ist. Aber vergewaltigt und gebissen hat er sie nicht«, sagte Franke, aber Schröder schien ihm gar nicht mehr zuzuhören.
»Winkler ist nicht die Ursache. Winkler ist das Symptom«, sagte Schröder.
»Wie bitte?« Franke konnte sich keinen Reim darauf machen.
»Winkler ist nur ein Symptom!«
Kapitel 28
Schröder rannte die Stufen zu seinem Büro hinauf. Er war so in Gedanken, dass er gar nicht registrierte, wie lange er das schon nicht mehr hatte machen können. Im zweiten Stock angekommen, riss er die Tür auf und prallte mit jemandem zusammen. Zu seiner Überraschung stand Elin vor ihm.
»Elin!«
»Die haben mir gesagt, Sie seien unten im Labor. Ich muss Sie sprechen!«, sagte sie aufgeregt.
»Was ist?«
»Hören Sie, Schröder! Winkler war nicht allein! Sie waren zu zweit, verstehen Sie? Es waren zwei!«
»Ich weiß! Wie sind Sie drauf gekommen?«
»Sie sagten am Bahnhof, wir wären kein schlechtes Team gewesen! Das ging mir die ganze Zeit durch den Kopf, und dann machte es ›Klick‹! Jetzt ist alles wieder logisch, jetzt ergibt alles einen Sinn! Die Spuren, das Profil! Wir haben den richtigen Mann!«
»Ja, einen von ihnen!«, sagte Schröder.
Ihr erster Weg führte sie zurück zu Winkler. Sie mussten ihn erneut verhören. Er hatte einen Komplizen. Schröder wollte alles daran setzen, die Identität von ihm zu erfahren.
»Und was wollen Sie jetzt von mir hören? Einen Namen? Eine Adresse?«, fragte Winkler und grinste selbstgefällig. Er wusste, dass er in der besseren Position war. Sie wollten etwas von ihm erfahren, durften aber nur »Bitte« sagen, mehr nicht. Schröders Geduld war nach diesem ersten Satz bereits am Ende.
»Sie können sich doch selber denken, dass ich das nie tun würde! Niemals!«, sagte Winkler.
»Sie werden für Ihre Taten in die Klapse kommen, für den Rest ihres Lebens! Ein kleiner Raum in einem langen Trakt und lauter Irre um Sie herum. Und Psychologen, die Sie jeden Tag vollquatschen. Glauben Sie mir, da drin werden Sie wirklich wahnsinnig!«
»Halten Sie mich für dumm, oder sind Sie es selber? Ihre Fallen sind ebenso armselig wie die von Frau Nowak!«
Schröder beugte sich vor und stützte sich auf seinen Knien ab.
»Sie werden kein Blut mehr bekommen! Nicht einen Tropfen Blut! Ihre Krankheit wird sich ungebremst ausbreiten können!«
Schröder hatte ins Schwarze getroffen. Augenblicklich sah man die Angst in Winklers Augen flackern.
»Sie werden grausam an Ihrer Krankheit krepieren! Und der andere läuft da draußen rum und lacht Sie aus! Er lacht, weil Sie dumm sind!«
»Lieber krepiere ich, als ihn zu verraten! Ich würde sowieso sterben, wenn ich es täte!«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Elin.
»Er würde sich an mir rächen!«
»Der kommt nicht an Sie heran! Zumindest davor sind Sie sicher!«
»Sind Sie wirklich so naiv?«, fragte Winkler.
»Sie waren sein Handlanger! Er hat Sie benutzt und dann weggeworfen!«, sagte Elin.
»Nein! Er hat mich gut behandelt! Er war der einzige Mensch, der mich jemals gut behandelt hat! Er ist so groß, ein wahrhaft großer Mensch! Er gab mir erst die Möglichkeit, gesund zu werden! Er hat mich geheilt! Er gab mir das Blut! Ohne ihn wäre ich längst tot. Sie kennen ihn nicht. Sie wissen ja nicht, mit wem Sie es tun haben!«
»Doch, wissen wir!«, sagte Elin selbstbewusst.
»Sie lügen! Sie wissen gar nichts! Sie sind den Dreck an seinen Schuhen nicht wert! Er ist so viel größer als Sie! Sie werden ihn niemals kriegen! Er wird weitermachen und weitermachen, und Sie können nichts dagegen unternehmen! Er wird unsterblich werden!«
»Auch er macht Fehler! Marie Karmann ist ihm entwischt!«
»Sie glauben, sie ist ihm entwischt? Er hat sie gehen lassen! Ich habe die Falsche ausgesucht! Er wollte sie nicht und ließ sie frei! Sie sind ja so einfältig! Ihre Dummheit kotzt mich an! Sie kotzen mich an!«, schrie er.
Schröder zog plötzlich ein Messer aus seiner Tasche, ließ es aufschnappen und schnitt sich damit in die Hand. Elin und Winkler sahen ihn entsetzt an. Schröder hielt seine Hand über den Tisch. Blut tropfte aus der Wunde auf die weiße Tischoberfläche. Es tropfte und tropfte, bis sich eine kleine Pfütze gebildet hatte. Winkler starrte wie wahnsinnig auf das Blut. Jede Faser in seinem Körper strebte nach der roten Flüssigkeit. Er wollte sie trinken, doch er musste seine Gier bändigen. Schweiß lief ihm die Schläfen hinab. Er begann zu zittern. Er konnte es nicht länger aushalten und schnellte nach vorn. Wie ein Tier leckte er die Lache vom Tisch. Schröder zog seine Hand zurück.
»Nie wieder Blut! Das waren die letzten Tropfen, die Sie in ihrem Leben bekommen werden! Es sei denn, Sie reden mit uns!«
Winkler blickte sehnsüchtig auf Schröders Hand. Er begann zu weinen, doch dann wandelte sich das Weinen in ein Lachen.
»Ich kann leiden! Ich leide mein ganzes Leben! Können Sie auch leiden, Kommissar Schröder? Können Sie das? Man muss leiden können in dieser Welt!«
Winkler blickte zu Elin.
»Ja, ich leide! Sie ist wunderschön! Haben Sie sie schon gefickt, Schröder?«
»Hör auf!«
»Nein? Aber Sie wollen sie ficken! Und Sie wollen sie leiden sehen dabei, damit das Leid Sie beide vereint!«
Schröder sprang auf und packte Winkler am Kragen. Sie stürzten zu Boden, und Schröder drückte seinen Unterarm auf Winklers Kehle.
»He, he, Vorsicht, alter Mann! Dein Rücken!« Winkler lachte, obwohl sich sein Gesicht schon tiefrot verfärbt hatte.
»Schröder!«, rief Elin und zog ihn von Winkler herunter.
Elin machte einen Schritt zurück, als sie Schröders Gesicht sah. Er sah aus wie ein wildes Tier. Wie ein wütendes wildes Tier.
Sie hatten sich entschlossen, alle Akten über die Hinweise aus der Bevölkerung mit nach Hause zu nehmen. Das alles hatte niemand mehr durchgesehen, seit sie Winkler gefasst hatten.
»Was schleppt Ihr denn da an?«, fragte Karl.
»1243 Hinweise auf unseren Mörder«, sagte Elin. Und zu Schröder meinte sie: »Sie lesen 622, ich 621.«
»Ich bestell uns mal was zu essen«, sagte Schröder.
Drei Pizzen und etliche Akten später lasen Elin und Schröder einige Hinweise vor.
»Eine Frau Strabert hat unsere Dienststelle kontaktiert, um anzugeben, dass ihr Papagei wisse, wer die Mädchen umgebracht habe! Jeden Tag würde er den Namen des Mörders wiederholen! Es sei der Name ihres Ex-Mannes!«, berichtete Elin.
»Den Vogel können wir gebrauchen! Ich wette, wir haben hier mindestens zweihundert Hinweise auf tatsächliche Straftaten, die aber mit unserem Fall gar nichts zu tun haben. Der Rest ist Papageischeiße«, sagte Schröder.
Elin musste lächeln und las weiter. Schröders Gedanken schweiften ab. Etwas irritierte ihn. Es war eine Irritation ganz weit hinten in seinem Kopf wie ein feines Kitzeln. Ein unangenehmes Kitzeln.
»Woher wusste Winkler, dass ich Rückenprobleme habe?«
»Wie bitte?«
»Vorhin sagte er ›Vorsicht, alter Mann, dein Rücken‹ oder so was, als ich auf ihn los bin. Woher konnte er das wissen?«