Kapitel 29

Am nächsten Tag geschah etwas, das mit Sicherheit Elins Informationspolitik zu verdanken war. Aber vielleicht war es auch mehr als das. Vielleicht war es Schicksal oder Vorsehung, vielleicht ein Wink des Himmels. Auf jeden Fall war es ein Wendepunkt.

Schröder und Elin erledigten gerade die unangenehme Aufgabe, Wegener klarzumachen, dass es einen zweiten Mörder gab und die Ermittlungen wieder aufgenommen werden mussten. Die Soko musste zurückbeordert werden. Alles musste von vorn beginnen.

»Es ist ja nicht so, dass wir umsonst gearbeitet hätten«, beruhigte Elin Wegener. »Wir haben einen Teilerfolg errungen. Aber wir müssen weitermachen!«

Keller steckte seinen Kopf durch die Tür, während Wegener verzweifelt sein Gesicht in den Händen vergrub.

»Schröder, da ist ein alter Mann, der dich und Frau Nowak sprechen will.«

»Ist gut«, sagte Schröder und blickte über die Köpfe der Mitarbeiter hinweg auf den älteren Herrn. Ihre Blicke trafen sich, und augenblicklich wusste Schröder, dass dieser Mann von Bedeutung war. Eine tiefe Sicherheit erfüllte Schröder, und dem Mann schien es ebenso zu gehen. Ihre Blicke ließen sich nicht mehr los, und Schröder ging wie an der Schnur gezogen zum ihm hinüber.

»Sind Sie Kommissar Schröder?«, fragte ihn der alte Mann.

»Ja.«

»Kann ich Sie und Frau Nowak allein sprechen?«

»Natürlich.«

Schröder, Elin und Herr Brender, wie er sich vorstellte, saßen in der Einsatzzentrale.

Hier waren alle Arbeitsplätze noch vollständig ausgerüstet, sogar einige Unterlagen waren noch auf den Tischen gestapelt. Nur die Menschen fehlten, was dem Raum etwas Geisterhaftes verlieh.

Die drei hatten sich an den vordersten Tisch vor der Tafel gesetzt, an der immer noch die Bilder der identifizierten Opfer hingen.

»Ich habe in der Zeitung von dem Fall gelesen«, begann Brender, »Und als ich das Profil las, da … oh Gott, ich hoffe, ich tue das Richtige!«, schluchzte er.

»Ist schon gut! Es ist alles in Ordnung!«, sagte Elin.

»Was tue ich hier eigentlich? Plötzlich kommt mir alles so abwegig vor!«

»Wohnen Sie hier in Osnabrück?«, fragte Schröder.

»Nein, in Berlin.«

»Etwas hat Sie den ganzen Weg von Berlin hierher fahren lassen. Was ist es?«

»Ich las das Profil und dachte, es könnte vielleicht auf jemanden passen, den ich kenne. Es fällt mir unendlich schwer, das zu sagen, weil ich das Gefühl habe, ihn zu verraten. Aber ich glaube, es könnte mein Sohn sein!«

Brenders Augen schwammen in Tränen. Sein Kinn zitterte.

»Ihr Sohn? Das ist in der Tat ein schwerer Schritt für Sie! Wie kommen Sie darauf?«

»Es passt alles! Mein Sohn ist jetzt 45 Jahre alt. Er war schon immer sehr ordentlich, wissen Sie? Schon als Kind! So ein Kinderzimmer haben Sie noch nicht gesehen! Fast so, als wohne niemand darin. Er war sehr gut in der Schule, besonders in Mathematik. Aber er war ein Außenseiter. Hatte eigentlich keine Freunde. Ich hab nie Freunde von ihm bei uns zu Hause gesehen. Komisch, nicht? Ein Junge sollte doch mit anderen Fußball spielen oder Unsinn machen. Er nicht. Er war schwer zugänglich, sehr verschlossen. Da war immer eine Distanz zwischen uns. Ich weiß auch nicht. Später hat er dann Medizin studiert. Und als meine Frau und ich uns trennten, wohnte er bei mir. Er hat das nur schwer verwunden, glaube ich. Die Trennung. Er ist … er hat psychische Probleme bekommen. Wir waren aber nie beim Arzt mit ihm. Er war nur manchmal sehr schwermütig, manchmal auch aggressiv. Ich bin sicher, er hätte Hilfe gebraucht, professionelle meine ich. Ich hätte besser auf ihn achten müssen. Ich hätte besser auf ihn achten müssen!«

»Herr Brender, in der Tat trifft ihre Beschreibung teilweise auf das Profil zu. Aber das kann doch nicht der Grund sein, warum Sie hier sind! Sie müssen doch einen Grund haben, warum Sie denken, dass Ihr eigener Sohn fähig wäre, mehrere Menschen zu ermorden!«, sagte Elin.

Brenders Verzweiflung brach aus ihm heraus. Tränen liefen ihm übers Gesicht, die er schnell mit einem Stofftaschentuch wegwischte. Er schämte sich furchtbar für seine Tränen und für das, was er hier tat und früher getan hatte.

»Mein Sohn … noch als er klein war, so zwölf oder dreizehn, da hab ich ihn in unserem Badezimmer erwischt. Unsere Nachbarn hatten ein Katze, wissen Sie? Er hatte die Katze getötet und in die Badewanne gelegt. Da war überall Blut. Er hatte ihr die Pfoten abgeschnitten und den Schwanz. Ich habe ihn erwischt, wie er … wie er … er onanierte. Und die Katze lag da in der Wanne …

Aber das ist noch nicht alles. Oh Gott, ich schäme mich so, ich habe alles falsch gemacht, ich hätte etwas tun müssen …«

Elin legte ihre Hand auf die von Brender. Schröder registrierte diese Geste mit einem Gefühl von Stolz und Befriedigung.

»Ich glaube, so was mit Tieren hat er öfter gemacht. Ich hab es zwar nie gesehen, aber man hörte ja, wenn in der Nachbarschaft wieder ein Tier verschwunden war. Als er dann bei mir wohnte, da war er ja schon siebzehn, achtzehn, da stand plötzlich die Polizei vor der Tür. Angeblich sollte er eine Frau angegriffen haben. Er hatte ein Messer und wollte sie umbringen. Aber die Frau schrie um Hilfe, und es kamen andere Leute. Einer wollte meinen Sohn erkannt haben. Es kam sogar zu einer Anklage, doch die wurde aus Mangel an Beweisen fallengelassen.«

Schröder und Elin sahen sich an. Beide hatten immer mehr das Gefühl, dass dieser Mann gerade die Geschichte des Mörders schilderte, den sie suchten.

»Ich erzähle Ihnen das, weil ich mich schuldig fühle. Ich habe das jahrelang für mich behalten. Ich habe nie darüber gesprochen, mit niemandem. Ich muss es jetzt sagen, ich muss darüber reden!

Ein paar Monate danach wurden in Berlin und in der Umgebung junge Frauen als vermisst gemeldet. Das war sehr ungewöhnlich bei uns. Oh, hatte ich erwähnt, dass wir in Ost-Berlin lebten? Ich weiß nicht mehr.«

»Sie haben in der DDR gelebt?«, fragte Schröder.

»Ja. Und da war ein Verschwinden … so was gab es nicht. Wo konnten wir schon hin? Jedenfalls waren drei oder vier Mädchen verschwunden, als eines Tages die Polizei bei mir auf der Arbeit auftauchte. Sie nahmen mich mit. Ich wusste gleich, dass ich jetzt zur Stasi gebracht wurde. Sie brachten mich in einen Verhörraum, ohne Fenster, kalt, nackte Wände und nur ein Licht. Sie legten mir Fotos von dem Mädchen vor, das mein Sohn angegriffen haben sollte. Und sie zeigten mir auch Fotos einer Frauenleiche, die sie gefunden hatten. Wie ich später erfuhr, war das nur ein Trick, um mich dazu zu bewegen, für sie zu arbeiten. Es hat funktioniert. Auch dafür schäme ich mich.«

»Sie wurden auf Ihren eigenen Sohn angesetzt?«

Brender nickte traurig.

»Wir wohnten zusammen! Ich musste alles protokollieren. Wann und wie lange er aus dem Haus ging, mit wem er sich traf, seine sexuellen Vorlieben … einfach alles.

Ein Jahr später zog er aus. Aber ich besuchte ihn öfters. Ich wusste, dass mit ihm etwas nicht stimmte, ich wusste, dass er schreckliche Dinge tat, und ich habe nichts gesagt!«

»Sie logen gegenüber der Stasi?«, fragte Schröder.

»Er ist mein Sohn. Ich weiß nicht, ob Sie Kinder haben, aber man will doch seine Kinder schützen um alles in der Welt! Ich konnte es ihnen nicht sagen! Man hätte ihn getötet, exekutiert!«

»Sie sagten, Sie wussten, was er tat?«, hakte Elin nach.

»Ich ahnte es. Man hörte ja von den vermissten Frauen, und die Stasi machte mir Druck. Eines Abends kamen sie zu mir und zeigten mir Bilder von einem Massengrab, das sie gefunden hatten. Zehn junge Frauen hatten sie darin gefunden! Zehn! Wenn Sie so etwas sehen … ich habe das nicht mehr mit meinem Sohn in Verbindung gebracht! So etwas Schreckliches ist zu weit entfernt von einem selbst, verstehen Sie? Ich denke, von da an habe ich mich auch selbst belogen.«

In dem Moment, da Brender das Grab erwähnte, gab es keine Zweifel mehr. Schröder und Elin waren wie von einem Stromschlag getroffen. Trotzdem wollte Elin ganz sichergehen.

»Dieses Grab, gab es da irgendwelche Besonderheiten? Wo war es?«

»Sie hatten es in einem Waldgebiet am Müggelsee entdeckt! Mein Sohn kannte das Gebiet. Wir waren früher oft im Urlaub dort.«

»Er hat also ein großes Loch ausgehoben?«

»Nein! Das war merkwürdig! Er hatte sie alle einzeln vergraben. In zwei Linien. Es sah aus wie eine Eins, wie eine große Eins!« Brender malte die Form auf der Tischplatte nach. Er war der Vater des Mörders. Sie hatten den Vater des Mörders vor sich sitzen!

»Herr Brender, wo ist Ihr Sohn jetzt?« Elin konnte ihre Aufregung kaum noch verbergen. Ihre Stimme zitterte.

»Ich weiß es nicht! Aber denken Sie denn, dass er es wirklich ist?«

»Herr Brender, die Gräber, die wir gefunden haben, waren ebenso angeordnet, wie Sie es beschrieben haben. Die Zahlen sagen etwas über die Anzahl der Opfer aus. Es sind insgesamt 108!«

Brender war zutiefst erschüttert. Seine Gesichtszüge verzogen sich zu einer Grimasse aus Schmerz und Hilflosigkeit.

»Was passierte weiter? Hat die Stasi ihren Angaben Glauben geschenkt?«

»Die Wende! Die Wende kam! Plötzlich waren die Grenzen offen! Plötzlich war irgendwie alles vorbei! Und mein Sohn war verschwunden. Noch in der ersten Nacht. Seit der Grenzöffnung habe ich ihn nicht mehr gesehen. Er ist einfach verschwunden, ohne sich jemals wieder zu melden.«

»Haben Sie ein Foto von ihm?«, fragte Elin.

Brender kramte tränenblind ein Foto aus seiner Manteltasche und reichte es Elin. Es zeigte einen beleibten jungen Mann, der auf einer Couch saß und die Hand ausstreckte, weil er nicht fotografiert werden wollte.

»Das ist von Weihnachten 1988.«

»Wie heißt Ihr Sohn?«, fragte Schröder.

»Axel. Axel Brender.«

Kapitel 30

In der Kriminaltechnik ließen sie ein Computerbild des Fotos erstellen, wie Axel heute aussehen könnte und gaben es an die Presse.

Es gab kaum eine Tageszeitung, die das Foto nicht abdruckte. Auch in den Nachrichtenmagazinen im Fernsehen wurden das Computerbild und das alte Foto von Axel Brender gezeigt, mit dem Aufruf, sich bei der nächsten Polizeidienststelle zu melden, wenn man glaubte, ihn zu erkennen. Und es wurde ein Kopfgeld ausgesetzt. Für sachdienliche Hinweise zu seiner Ergreifung gab es eine Belohnung von 50 000 Euro.

Sicher hätte sich Axel längst einer plastischen Operation unterzogen haben können. Selbst wenn er nur seine Haare verändert hatte und man den natürlichen Alterungsprozess hinzurechnete, konnte man ihn heute vielleicht schon nicht mehr wiedererkennen. Dennoch war der Versuch notwendig. Und es gab jemanden, der ihn in jedem Fall wiedererkennen würde, wenn er ihn sähe. Sein Vater.

Schröder und Elin hatten nun den Druck auf den Mörder erhöht. Er war zu einem Gejagten geworden, und praktisch die gesamte Nation war hinter ihm her. Er würde reagieren müssen, er würde sich andere Methoden suchen müssen, um an seine Opfer zu kommen. Methoden, die ihn aus der Öffentlichkeit fernhielten.

»Mit Winkler ist die Tour auf der Landstraße für ihn gestorben. Was meinen Sie, wie er jetzt versucht an die Frauen heranzukommen?«, fragte Elin. Sie waren gerade auf dem Weg in das Hotel, in dem sie Brender untergebracht hatten. Dunkle Wolken flogen gehetzt über einen windigen Himmel, sodass sich zwischen den Regenschauern immer mal wieder die Sonne zeigte. Der nasse Asphalt blendete Schröder. Er musste seine Augen zusammenkneifen, um sehen zu können.

»Ich würde wahrscheinlich auf Kontaktanzeigen antworten oder eine aufgeben. So kann er sich aussuchen, wen er will und anonym dabei bleiben.«, sagte Schröder und klappte die Sonnenblende herunter.

»Stimmt! Oder im Chat! Er hatte Winkler im Chat kennengelernt, wir haben alte Dateien in Winklers Computer gefunden. Es liegt also nahe, dass er es wieder so versuchen könnte. Keller und Trostmann habe ich mit der Aquariengeschichte beauftragt. Es gibt sieben Ärzte aus Osnabrück und dem Umland, die Sonderanfertigungen bestellt haben. Wir beide sollten uns jetzt darauf konzentrieren, eine Anzeige zu schalten und uns im Chatroom anzumelden. Wir müssen einen Köder auswerfen!«

»Ist gut. Ich muss kurz noch was erledigen.«, sagte Schröder und hielt vor einem Einfamilienhaus. Elin löste ihren Gurt und fragte: »Wo sind wir hier?«

»Ist was Privates. Ich bin gleich wieder da.«

»Oh, natürlich!«, sagte Elin und schnallte sich wieder an. Sie blickte Schröder hinterher, wie er mit gesenktem Kopf durch den Vorgarten zum Haus ging.

Schröder klingelte bei Petri. Hier hatte er noch eine Rechnung offen.

Susanne, Petris Frau, öffnete die Tür. Er hatte befürchtet, dass sie zu Hause war. Lieber hätte er mit Petri allein gesprochen. Er mochte Susanne und wollte sie nicht verängstigen oder gar verletzen.

»Schröder! Das ist ja schön! Komm rein!«

»Stör ich?«

»Ganz und gar nicht! Wie geht’s deinem Rücken?«

»Besser!«

»Du Lügner!«

Sie gingen durch den Flur ins Wohnzimmer. Schröder war nicht wohl bei dem, was er vorhatte. In seinem Magen machte sich eine wachsende Übelkeit breit.

»Willst du was trinken?«

»Nein, nichts! Ist Rolf da?«

»Du hast Pech. Er ist übers Wochenende auf Fortbildung.« Susanne freute sich über Schröders Gesellschaft. Sie hatten sich lange nicht gesehen. Sie rückte einen Stuhl vom Esstisch ab, um sich zu setzen, doch Schröder verschränkte die Hände auf dem Rücken und machte einen Schritt zurück.

»Wo ist die Fortbildung?«

»In Berlin. Rolf hat mir von deiner Partnerin erzählt. Hält dich ganz schön auf Trab, sagt er!«

»Was erzählt er denn sonst so?«

»Na ja, von diesem Fall! Schreckliche Geschichte!«

»Sag mal, hat Rolf dir jemals erzählt, warum Veronika gekündigt hat?«

»Veronika? Nein! Schröder, was ist los?« Ihre Mundwinkel zuckten nervös.

»Nichts, ich geh wieder.«

Schröder ging zur Tür, und Susanne folgte ihm besorgt. Sie wusste nicht, was seine Fragen bedeuten sollten. Behutsam legte sie ihm eine Hand auf den Rücken.

»Schröder?«

Er drehte sich um. Susanne stand hilflos da. Beinahe hätte er ihr von seinem Verdacht erzählt. Beinahe.

»Mach’s gut!«

Er ging hinaus. Susanne blieb in der Tür stehen. Der Regen war wieder stärker geworden und prasselte auf das Vordach des Hauses.

Schröder stieg zu Elin ins Auto.

»Probleme?«, fragt sie mit einem Blick auf Susanne, die frierend unter dem Vordach stand.

»Nein.«

»Wenn das mit unserem Fall zu tun hätte, würden Sie mir das doch sagen, oder?«

»Das war rein privat.«, sagte Schröder und warf den Motor an.

Brender bot Schröder und Elin einen Stuhl an. Es waren nur zwei Stühle vorhanden, also setzte Schröder sich auf das Bett. Es sah noch vollständig unbenutzt aus. Er hatte wohl die ganze Nacht nicht geschlafen.

»Herr Brender, wir würden gerne mehr über Axels Kindheit erfahren. Aus Ihren Erzählungen klingt heraus, dass Sie ihren Sohn sehr geliebt haben.«

»Ich tue es immer noch!«

»Aber jemand, der geliebt wird, tut solche Dinge nicht! Ihr Sohn war in seiner Kindheit bereits sehr krank. Was hat ihn so krank gemacht, Herr Brender?«, fragte Elin. Brenders Finger drehten fahrig an einem Knopf seiner Strickjacke herum.

»Ich weiß nicht, was Sie von mir wissen wollen! Er war halt anders als die anderen Kinder! Aber das habe ich Ihnen doch schon erzählt!«

»Sie sagten, Ihr Sohn habe die Trennung zwischen Ihnen und Ihrer Frau nicht verkraftet. Aber Sie sagten auch, dass er bereits mit zwölf Jahren Tiere quälte und sogar tötete. Bis man zu so etwas fähig ist, trägt man ein jahrelanges Trauma mit sich herum.« Elins Satz stand wie eine Anschuldigung im Raum, felsenfest und unverrückbar.

Brender sah Elin hilflos an. Er wusste nichts darauf zu antworten.

»Hat Ihr Sohn denn immer mitbekommen, wenn es Streit gab mit ihrer Frau?«, fragte Schröder.

»Wir haben uns nicht gestritten.«

»Sie haben sie bis jetzt kaum erwähnt. Warum?«

»Nun, sie war ja nicht mehr da! Ich und Axel waren allein.«

»Wie war das Verhältnis zwischen Axel und seiner Mutter?«, wollte Elin wissen.

»Gut! Sie war eine gute Mutter.«

»Was war denn der Grund für ihre Trennung?«

»Wir hatten Probleme. Wie das halt so ist. Man lebt sich auseinander …« Brenders Gedanken reisten zurück in die Vergangenheit. In eine schmerzliche Vergangenheit. Seine wuchtigen weißen Augenbrauen verengten sich und verbargen fast vollständig seine Augen.

»Herr Brender …«, begann Elin, doch Schröder schnitt ihr den Satz ab.

»Ich glaube, das reicht. Wir müssen wieder gehen. Vielen Dank!«

Elin verstand nicht, was Schröder damit bezweckte, doch sie fügte sich.

Sie gingen zur Tür, und Elin trat auf den Flur hinaus. Schröder wollte ihr folgen, als er sich noch mal umdrehte.

»Ach, Herr Brender …«

»Ja?«

»Gehen Sie doch schon mal vor, ich komme sofort!«, sagte Schröder zu Elin.

Schröder trat wieder ein und schloss die Tür hinter sich. Brender blickte irritiert auf, dann erhob er sich von seinem Stuhl und trat auf Schröder zu.

»Ich dachte mir, Sie fühlen sich vielleicht wohler, wenn nur wir sprechen würden. Manchmal hat man Hemmungen im Beisein einer so jungen Dame.«

»Ich weiß nicht.«

»Herr Brender, erzählen Sie mir von Ihrer Frau.«

Brender kämpfte mit sich und den alten Dämonen, die Schröder wieder heraufbeschwören wollte.

»Ich kann das nicht!«

»Ich bitte Sie! Er wird nicht aufhören, bevor wir ihn nicht schnappen. Aber dazu müssen wir ihn verstehen!«

»Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht!«, platzte es aus ihm heraus. »Sie hat es mir nie gesagt! Sie hat etwas mit ihm gemacht! Sie hat ihn nie lieben können, ich weiß nicht warum! Sie hat ihn kaputt gemacht! Er hatte solche Angst vor ihr. Solche Angst! Sie haben beide nichts gesagt. Ich weiß es nicht! Seit Jahren, seit fast vierzig Jahren lebe ich mit dieser Ungewissheit. Vierzig Jahre! Das bringt mich noch um! Es nicht zu wissen. Nicht zu wissen, was passiert ist. Aber es ist etwas passiert! Und ich hab mir schon alles vorgestellt, glauben Sie mir, alles! Es hilft mir nicht. Niemand kann mir meine Fragen beantworten.«

Natürlich gab es jemanden, der das konnte, dachte Schröder.

»Wissen Sie, wo Ihre Exfrau jetzt lebt?«

»Nein, nach der Wende ging sie nach Nürnberg. Das ist alles, was ich weiß.«

»Keine Telefonnummer?«

Brender schüttelte den Kopf und gab Schröder einen vergilbten Zettel. »Das war ihre letzte Adresse in Nürnberg!«

»Vielen Dank, Herr Brender.«

Brender wendete sich ab und schlurfte ans Fenster. Er musste sich mit einer Hand am Tisch abstützen, so als sei ihm schwindelig. Schröder ließ den Mann mit seinen Erinnerungen allein.

Kapitel 31

Schröder hatte eine Fahndung nach Carmen Brender rausgegeben, und er und Elin waren jetzt bei ihm zu Hause. Elin meldete sich gerade in einem Chatroom an.

»Wie viele von diesen Chatrooms gibt es, was meinen Sie?«

»Tausende. Wir konzentrieren uns nur auf die Bekanntesten!« Schröder setzte sich neben Elin und schaute erstaunt auf Elins Hände, die nur so über die Tastatur flogen. Karl war auf der Couch eingeschlafen und schnarchte vor sich hin.

»Und wie soll er gerade auf uns aufmerksam werden?«, fragte Schröder, ohne eine Hoffnung zu haben, dass Axel den Köder nehmen könnte. Die Chancen standen eins zu einer Million, wenn nicht noch schlechter.

»Daran habe ich schon gedacht!«

Elin zog eine Digitalkamera und eine Perücke aus ihrer Handtasche.

»Jetzt ist mein Alter doch ausnahmsweise mal von Vorteil!«, grinste sie.

»Sie wollen Ihr eigenes Bild da reinstellen? Was, wenn er Sie erkennt? Winkler wusste von meinem Rückenproblem. Glauben Sie im Ernst, er kennt Sie nicht? Sie waren im Fernsehen, verdammt!«

»Ich trage eine Perücke! Ich kann mich schminken, dass mich nicht mal meine eigene Mutter wiedererkennen würde!«

»Wir verraten unsere Strategie. Und Sie bringen sich in Gefahr. Das gefällt mir nicht.« Schröder rieb sich angestrengt die Stirn.

»Schröder, wann sagen Sie mir endlich, was Sie wirklich denken? Sie glauben, Sie kennen den Mörder, nicht wahr? Wer war die Frau vorhin?«

Er überlegte eine Weile und biss sich dabei ständig auf die Unterlippe.

»Machen Sie schon! Setzen Sie das verdammte Ding auf!«, sagte Schröder und warf Elin die Perücke in den Schoß.

Elin verdrehte die Augen. Schröders Sturheit machte sie noch verrückt. Aber das hier würde sie durchziehen. Mit oder ohne ihn.

Zehn Minuten später öffnete sich die Badezimmertür, und Elin kam in ihrer Maskerade heraus. Schröder klappte der Kiefer herunter. Es war fast unheimlich, wie verändert Elin aussah. Sie war ihm fremd. Eine andere Person. Durch die langen Haare wirkte ihr Gesicht viel schmaler, und ihre Augen und Lippen hatte sie derart betont, dass sie ein ganz anderer Typ Frau geworden war.

»Verdammt!«, sagte Schröder.

»Das hatte ich hören wollen!«, freute sich Elin.

Wegener hatte Schröder und Elin in sein Büro gebeten. Keller und Trostmann stießen ebenfalls hinzu. Wegener wollte eine Zusammenfassung der neuen Fakten und Beweise haben.

»Wir haben zwei Ärzte gefunden, die infrage kämen«, sagte Keller, »Ein Zahnarzt und ein Chirurg. Der Zahnarzt hat einen riesigen Teich über mehrere Ebenen mit Kois und dem ganzen Quatsch. Der andere hat ein Aquarium mit Piranhas. Komischer Kerl, aber beide haben Alibis für mindestens zwei Morde!«

»So kommen wir nicht weiter!«, ärgerte sich Wegener.

»Ist dieser Brender wirklich der Vater von unserem Mann?«, wollte er wissen.

»Ich habe keinen Zweifel!«, sagte Elin.

»Können wir das irgendwie nutzen? Was, wenn er sich im Fernsehen an seinen Sohn wendet? Ihn überredet, sich zu stellen?«

»Das wird nichts bringen.«

Schröders Handy klingelte. Er stellte sich etwas abseits und ging ran.

»Es gibt keine Vernunft, die ihn dazu bewegen könnte aufzuhören. Er muss töten, wie er atmen und essen muss.«

»Aber wir brauchen Ergebnisse! Das ganze verdammte Land schaut auf uns! CNN, sogar das neuseeländische Fernsehen steht da draußen und lauert auf jeden einzelnen kleinen Schritt, den wir tun!«

Schröder legte auf und kam wieder dazu.

»Wir haben die Mutter gefunden! Sie wohnt hier in Osnabrück!«

Kapitel 32

»Das ist kein Zufall!«, sagte Elin.

»Was meinen Sie?«, fragte Wegener nervös.

»Er ist hier, weil sie hier ist! Trostmann, Keller, ich will, dass Sie beide überprüfen, wo die Mutter überall gewohnt hat. Ich wette, dass er seiner Mutter seit Jahren folgt. Wenn er in Remscheid war, wird sie auch dort gelebt haben. In jedem ihrer Wohnorte werden wir mindestens eins der Gräber finden. Seine Mutter ist der Schlüssel! Er will ihr etwas zeigen! Er tut das alles, um sie zu beeindrucken. Er tut es für sie!«

Er saß am Computer und gab sein Passwort ein, drückte die ENTER-Taste, und schon war er drin. Mitten in einer unendlichen Welt, einem Schlaraffenland. Ein riesiges Kaufhaus, durch dessen Gänge man jahrelang gehen konnte. Die Regale waren vollgestopft mit Waren, die man sich einfach nehmen konnte. Es kostete nichts. Ihn kostete es nichts. Sie kostete es das Leben. Dies war sein Land, das nur für ihn gemacht worden war. Es gehörte ihm und alle, die darin waren, auch. Sie waren sein Besitz.

Er machte einen Spaziergang, einen Schaufensterbummel. Er klickte Bild um Bild an, bis plötzlich dieses eine Foto auftauchte. Elins Gesicht war auf seinem Bildschirm zu sehen. Seine Hand schwebte über der Maus. Langsam hob er sie, führte sie zum Bildschirm und strich Elin vorsichtig über die Wange.

Schröder und Elin hatten Frau Brender aufgesucht. Herr Traber, ihr Lebensgefährte, hatte ihnen die Tür geöffnet. Er führte sie ins Wohnzimmer, und Frau Brender kam durch die Terrassentür herein. Sie wohnten in einem kleinen Reihenhaus in der Nähe der englischen Kasernen. Das Haus machte einen gepflegten, aber etwas sterilen Eindruck. Alles war dekoriert wie in einem Möbelhaus. Schröder fand, dass ein wenig Leben fehlte. Alles war so systematisch hergerichtet. Eine Wohnung sagte viel über ihre Besitzer aus. Hier hatte Schröder das Gefühl, nichts über die Menschen in diesem Haus erfahren zu können.

Frau Brender zog ihre Gartenhandschuhe aus, machte aber keine Anstalten, ihnen die Hand zu geben.

»Kriminalpolizei? Ich bin etwas irritiert«, sagte sie.

»Vielleicht können wir uns setzen? Es geht um Ihren Sohn.«, sagte Schröder, und dieser Satz schlug ein wie eine Bombe. Frau Brenders Gesicht verfinsterte sich augenblicklich. Sie spürte den Blick ihres Lebensgefährten in ihrem Rücken. Herr Traber hatte nicht gewusst, dass sie einen Sohn hat.

Frau Brender schloss die Terrassentür. Draußen stand ein Blumenkübel, der halb mit Primeln bepflanzt war. Die restlichen Blumen lagen noch daneben.

»Setzen Sie sich doch!«, sagte Herr Traber und bot ihnen einen Platz auf zwei Sesseln an. Er setzte sich auf die Couch, und Frau Brender gesellte sich zu ihm, aber so, dass ihre Körper sich nicht berührten. Ihr war es unangenehm, dass er bei dem Gespräch dabei war. Sie versteifte sich, als spürte sie eine Spinne ihren Rücken hochkrabbeln.

»Frau Brender, ich weiß, dass das jetzt ein Schock für Sie sein muss, aber wir vermuten, dass Ihr Sohn mehrere Morde begangen hat.«, fing Schröder an.

Herr Traber war entsetzt. Frau Brender erstarrte zu Stein. Nur in ihren Augen war noch Bewegung. Sie glänzten wässrig.

»Ihr Mann, Ihr Exmann, hat Kontakt zu uns aufgenommen, weil er befürchtete, dass Ihr Sohn für die Morde in Frage käme. Vielleicht haben Sie es in der Presse verfolgt, dass wir dabei sind, eine Serie von Morden aufzuklären, die sich hier und in anderen Teilen Deutschlands ereignet hat.

Einen Mann konnten wir im Zuge unserer Ermittlungen bereits festnehmen. Es ist jedoch so, dass er einen Komplizen gehabt haben muss. Und eben dieser Mann ist mit großer Wahrscheinlichkeit Ihr Sohn Axel Brender. Es tut mir leid, Ihnen das so schonungslos sagen zu müssen.«

Schröder und Elin warteten auf eine Reaktion, doch das Einzige, was sie sahen, war eine wachsende ängstliche Ungeduld bei Herrn Traber. Er hielt es offensichtlich kaum noch aus in seiner Haut.

»Frau Brender, haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?«, fragte Elin.

»Sicher!«, sagte sie mit spitzer Stimme. Sie hatte ihre Lippen so fest zusammengepresst, dass sich kleine Falten um ihren Mund herum bildeten. Sie sahen aus wie kleine Nadelstiche, wie ein zugenähter Mund.

»Frau Brender, wir brauchen jetzt Ihre Hilfe, um Ihren Sohn ausfindig zu machen. Ich bin Polizeipsychologin und habe ein psychologisches Profil Ihres Sohnes erstellt. Doch um ihn noch besser verstehen zu können, brauchen wir Informationen, die nur Sie uns geben können. Wie es aussieht, hat Ihr Sohn eine ganz besondere Bindung zu Ihnen. Frau Brender, haben Sie einmal in Remscheid gelebt?«

Sie antwortete nicht. Herr Traber sah seine Partnerin an, als sei sie eine Fremde, und er wusste nicht, wie sie hierher in dieses Haus und an seine Seite geraten war. Diese Frau kannte er nicht. Er stand auf und verließ den Raum. Frau Brender schien das wenig zu beeindrucken. Erst als er draußen war, nickte sie, um Elins Frage zu beantworten.

»Das dachte ich mir. Ich vermute, dass Ihr Sohn Ihnen über Jahre gefolgt ist. Wir überprüfen das gerade noch, aber ich denke, dass überall, wo Sie gewohnt haben, auch er hingezogen ist. Wussten Sie das? Haben Sie ihn in letzter Zeit gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf und blickte auf ihre Hände.

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«, fragte Elin.

Sie antwortete nicht. Ihre Stirn glänzte wie Granit.

»Wir verstehen, dass das alles zu viel für Sie sein muss. Doch wir haben nicht viel Zeit. Er wird wieder töten. Und wir müssen Ihnen ein paar unbequeme und sehr private Fragen stellen.

Frau Brender, Ihr Exmann sagte uns, dass er glaube, dass Sie Ihren Sohn nicht geliebt haben oder nicht lieben konnten. Er denkt, dass zwischen Ihnen etwas vorgefallen ist. Etwas, über das Sie und auch Ihr Sohn niemals gesprochen haben«, sagte Schröder. Er glaubte, dass es Zeit war, sie mit den harten Fakten zu konfrontieren. Vielleicht musste er sie erst provozieren, um sie aus der Reserve zu locken.

»Welche Beziehung hatte Ihr Sohn zu Wasser?«, zog Elin nach.

Jetzt ging zum ersten Mal ein Flackern über Frau Brenders Augenlider. Sie rieb sich die Finger, so als seien sie beschmutzt.

»Wasser ist etwas sehr Wichtiges für Ihren Sohn. Es ist Teil seiner sadistischen Phantasien! Ihr Sohn hat über dreißig Frauen brutal ermordet und wahrscheinlich noch viel mehr! Ich will Ihnen die Details ersparen, weil sie zu grausam sind, aber ich bitte Sie, reden Sie endlich mit uns! Niemand will Sie beschuldigen. Wir wollen lediglich Informationen!«, sagte Elin.

Frau Brender hob ihren Kopf mit einer Geste, die so etwas wie Stolz ausdrückte und blickte aus dem Fenster. Schröder hatte genug. Er ging hinaus und suchte Traber. Er fand ihn in der Küche über das Spülbecken gebeugt. Der Wasserhahn tropfte.

»Sie haben nichts gewusst?«

»Nein!«, sagte Traber, ohne sich umzudrehen.

»Wie lange kennen Sie sich?«

»Elf Jahre!«

Schröder stellte sich neben ihn und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. So konnte er Trabers Reaktionen im Profil erkennen.

»Was ist Frau Brender für eine Person?«

»Nun, sie weiß, was sie will und wie sie es haben will!«

»Sie kommt mir sehr resolut vor.«

»Ja, sie hat ihren eigenen Kopf. Und manchmal kann sie sehr verschlossen sein.« Traber drehte den Wasserhahn zu.

»Wie haben Sie sich kennengelernt?«

»Über eine Kontaktanzeige.«

»Tatsächlich? Hier in der Osnabrücker Zeitung?«

»Nein, in einem Magazin.«

»Ein Magazin?«

»Ja, wir haben dieselben Vorlieben.«

»Sie meinen …«

»Ja, ich meine! Ich war immer dafür, offen darüber zu sprechen! Das ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Wir sind in der Sadomaso-Szene. Ich bin ihr Sklave, sie ist meine Herrin. Und trotzdem lieben wir uns. Das ist sehr wohl möglich!«

»Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen«, sagte Schröder.

»Manche Leute verstehen das nicht.«

»Ich geb mir Mühe, alles zu verstehen«, sagte Schröder.

Elin tauchte in der Tür auf.

»Willst du noch mit ihr sprechen? Mit mir redet sie kein Wort.«

»Nein, wir gehen. Tut mir leid, Herr Traber, wenn wir Sie verstört haben.«

»Nicht Sie haben mich verstört«, sagte Traber.

Schröder und Elin gingen, und Traber suchte seine Partnerin im Wohnzimmer. Die Frau, die er seit elf Jahren liebte, mit der er ein Bett teilte, der er sich seit elf Jahren unterwarf, der er vertraute. Sie war bereits wieder draußen und stopfte die neuen Blumen unsanft in die Erde.

»Willst du drüber reden?«, fragte er und trat hinaus auf die Terrasse.

»Es gibt nichts, was du wissen müsstest«, sagte sie.