Kapitel 33

Sie fuhren zurück ins Revier. Elin war noch völlig aufgebracht über Frau Brenders Sturheit.

»Und, haben Sie mit Ihrer feinfühligen Art noch etwas bei Traber rausbekommen?«

»Sie sind wütend!«

»Was Sie nicht sagen! Die Brender hat sicher allen Grund nichts zu sagen!«

»Sie sind in der SM-Szene!«

»Brender und Traber? Das hat er Ihnen eben mal so erzählt?«, staunte sie laut.

»Er hat keinerlei Problem damit«, sagte Schröder.

Schröders Handy klingelte. Auf dem Display stand Petris Name. Seine Stimme bekam schlagartig eine ganz dunkle Klangfarbe, als er sich meldete.

»Ja?«

»Schröder, du wolltest mich sprechen?«

»Stimmt!«

»Ich bin schon aus Berlin zurück. Wenn du Zeit hast, ich bin im Fitnessstudio.«

»Ich komme«, sagte Schröder und legte auf.

»Wer war das?«, fragte Elin. Schröder fuhr rechts ran.

»Ich muss Sie hier rauslassen! Nehmen Sie sich ein Taxi!«

»Wie bitte?«

»Ich muss was erledigen, allein!«, sagte Schröder.

»Wo wollen Sie hin?«

»Steigen Sie aus!«

»Nein!«, wehrte sich Elin. Sie wollte sich nicht einfach so abschieben lassen.

»Ich sage es Ihnen später!«

»Versprechen Sie mir das?«, fragte Elin und sah ihm tief in die Augen.

»Ja, und jetzt steigen Sie aus!«

Elin verließ den Wagen.

»Machen Sie keinen Unsinn, Schröder!«, sagte sie ängstlich und warf die Tür zu.

Schröder war weg, und Elin hatte keine Ahnung, wo sie war. Ein paar Meter weiter entdeckte sie einen Kiosk.

»Entschuldigung? Können Sie mir sagen, wie die Straße hier heißt?«

»Lotter Straße! Wollen Sie auch was kaufen?«, fragte der Kioskbesitzer.

»Nein, vielen Dank!« Mürrisch setzte sich der Mann wieder, und Elin rief sich ein Taxi über ihr Handy. Während sie wartete, stellte sie sich unter das mit Zeitschriften vollgestopfte Vordach des Kiosks, um sich vor dem Regen zu schützen. Sie drehte dem Besitzer den Rücken zu. Schröders Alleingang gefiel ihr nicht. Nicht nur, dass er sie damit völlig ausschloss und ihr somit das Vertrauen entzog, nein, sie fürchtete auch, dass Schröder sich in etwas verrannte. Er war ein guter Polizist, ohne Zweifel, doch dieser Fall nagte zu sehr an ihm, und seine Schmerzen und die Sorge um seinen Vater belasteten ihn so sehr, dass ihm das alles über den Kopf zu wachsen schien. Warum sagte er nichts, warum hielt er seinen Verdacht geheim, wen versuchte er zu schützen? Ihre Augen wanderten über die Fotos und Überschriften der Zeitungen und Magazine in der Auslage. Die Reifen der vorbeifahrenden Autos zischten auf der nassen Fahrbahn und warfen einen feinen Regen auf den Gehweg. Elin war ganz auf die Fragen in ihrem Kopf konzentriert. Bis etwas sie aus ihren Gedanken riss und zurück in diese Welt holte. Ihre Augen waren wie von selbst auf einem Foto haften geblieben, als wollten sie ihr sagen: Sieh hin, sieh genau hin!

Es war eine Modezeitschrift. Auf dem Titelcover war eine junge Frau vor einem weißen Hintergrund abgebildet. Sie hatte brünettes, langes Haar und ein ovales Gesicht mit hohen Wangenknochen. Sie war wunderschön, dachte Elin. Wunderschön. Der Mörder würde das auch denken. Der Mörder würde sie auswählen, wenn er die Wahl hätte, dachte Elin. Sie glaubte nicht an Zeichen. Aber dieses Bild sprang ihr förmlich entgegen. Die Augen des Models schienen sie festzuhalten, und ihr Mund schien ihr etwas zuflüstern zu wollen. Elin zog das Magazin aus dem Ständer und schlug es auf. Sie wusste nicht, was sie suchte, bis sie es fand. Den Anzeigenteil ganz hinten in der Zeitschrift. Mit dem Zeigefinger fuhr sie über die Überschriften und las und las. Dann blieb ihr Finger auf einer Überschrift stehen. Fotograf sucht Model! Ausgebildeter Fotograf sucht Models zwischen 20 und 28 Jahren, brünett, lange Haare, für Aufnahmen in Modemagazin! Tel.: 0168/189 109. Elin blickte lange auf diese Anzeige. Sie fühlte, dass sich dahinter etwas verbarg, dass diese Anzeige eine Maske war, seine Maske! Das Taxi hielt auf der Straße. Als Elin keine Anstalten machte einzusteigen, hupte der Fahrer einmal. Elin schrak auf.

»Ich will die hier!«, sagte sie eilig zum Kioskbesitzer.

»Drei Euro fünfzig!«, sagte er und tippte den Betrag in die Kasse ein. Elin warf ihm einen Fünfeuroschein hin und lief zum Taxi.

»Wo soll’s hingehen?«, fragte der Fahrer und blickte Elin im Rückspiegel an.

»Fahren Sie einfach los!«, sagte Elin und legte das Magazin aufgeschlagen neben sich auf den Rücksitz. Die nassen Häuserfassaden huschten an den beschlagenen Fenstern vorbei. Die Regentropfen auf der Scheibe zitterten im Fahrtwind. Elin fragte sich, wie viele Tropfen es wohl sein mochten. Sie zitterten, wie die Menschen vor ihm zitterten, bevor er kam und sie wie der Wind einfach davonschleifte und zerriss. Wie viele? 1000? 2000 Tropfen? Eine noch größere Zahl? Zahlen! Er liebt Zahlen, schoss es Elin durch den Kopf. Sie griff so schnell nach der Zeitung, dass eine Seite anriss. Er liebt Zahlen! Sie blickte auf die angegebene Handynummer. 0168/189 109. Eine sechsstellige Rufnummer war ungewöhnlich. Meistens waren sie sieben- oder achtstellig. 1 – 8-9-1-0-9. Es musste eine Bedeutung haben! Was bezweckte er? Er wollte über die Anzeige sein nächstes Opfer suchen. Es würde das 109. Opfer sein. Und plötzlich war Elin alles klar. Plötzlich hatte diese Nummer ein System. 18 – 9-109. 18 Leichen. Das Grab Nummer 9. Und das 109. Opfer. Das war es!

»Langsam müsste ich aber wissen, wo ich hinfahren soll!«, sagte der Fahrer und blickte wieder in den Rückspiegel. Elin hatte ihn gar nicht gehört. Sie rief den Mobilfunkanbieter an.

»Ja, hier Nowak, bieten sie auch Wunschrufnummern an?«

»Ja, das machen wir!«

»Sie meinen, ich kann mir jede beliebige Nummer bei Ihnen aussuchen?«

»Wenn sie nicht schon vergeben ist, ja! Wir müssen nur im Com…« Elin legte auf. Doch nur, um eine weitere Nummer zu wählen. 0168/189 109.