Rita sitzt an der Kasse und lächelt.

Sie verhält sich unauffällig. Obwohl sie am liebsten ausbrechen und alles hinter sich lassen würde, ist sie zurück im Supermarkt, packt Waren aus, schildert Preise aus, kassiert. Alles ist beinahe so wie immer. Am Morgen kommt sie, am Abend geht sie. Wenn Kamals Platz im Büro nicht leer wäre, würde sie nichts daran erinnern, dass ihre Welt aus den Fugen geraten ist.

Sie versucht auszublenden, dass sie sich in Gefahr befindet, sie möchte keine Angst mehr davor haben müssen, dass jemand sie umbringt. Sie möchte sich keine Gedanken mehr darüber machen müssen, dass sie irgendwann dem Mann wiederbegegnet, der den Albaner in ihrem Schlafzimmer erschlagen hat. Bachmair. Sie denkt an ihn.

Und sie denkt an Aaron.

Und Manfred.

Er hat frei.

Er ist zu Hause.

Er trinkt und wartet auf sie.

Rita wird den Schlussdienst machen, zu ihm fahren und für ihn kochen. Sie wird neben ihm auf der Couch sitzen und darauf warten, bis er so betrunken ist, dass er einschläft. Dann wird sie zu Gerda gehen und reden. Wie am Vortag. Und auch am Tag davor.

Reden und Tee trinken.

Weil sie nicht aufhören können damit.

Weil es der einzige Ausweg für sie beide ist.

Das weiße Pulver aus dem Karton im Vorratsschrank hat sie glücklich gemacht. Gerda fühlt sich gesund und kräftig, und Rita ist ohne Angst. Sie ist mutig. Sagt einfach Ja, als Aaron Martinek sie fragt, ob sie mit ihm verreisen möchte.

Es ist der Anruf, auf den sie schon seit Tagen gewartet hat.

Plötzlich ist da seine Stimme, nach der sie sich so gesehnt hat.

Die Einladung, die er einfach ausspricht.

Ich habe bereits gebucht, sagt er.

Verschwörerisch am Telefon. Aaron und Rita.

Die Sehnsucht nach diesem Gefühl treibt sie an. Beide wollen sie wieder zurück in diese Nähe der ersten Nacht.

Wir verschwinden einfach für ein paar Tage, sagt er.

Wie Jugendliche sind sie, die etwas Verbotenes tun.

Wir fliegen irgendwohin, wo niemand uns kennt.

Aufgeregt sind sie.

Paris, Rita.

Ihr Herz schlägt wieder laut und wild.

So wie vor zehn Tagen, als sie sich entschieden hat, den Bananenkarton mit nach Hause zu nehmen. Kurz zögert sie noch. Sagt ihm, dass sie es sich überlegen muss. Sie wird ihn zurückrufen. Gleich.

Rita muss vorher mit Gerda reden. Sie um Rat fragen. Rita will, dass sie ihr die Zweifel nimmt. Ihr sagt, was sie tun soll.

Der Rat einer guten Freundin.

Scheiß drauf, sagt Gerda.

Wenn du es nicht tust, gehe ich zur Polizei, Rita.

Du wirst mit diesem Mann auf den verdammten Eiffelturm steigen.

Oder ich rufe die Albanermafia an.

So eine Chance bekommst du kein zweites Mal, Mädchen.

Genieß es einfach.

Besser du stirbst im Kugelhagel als mit Manfred auf der Couch.

Rita küsst Gerda auf die Stirn.

Dann ruft sie Aaron zurück und sagt zu.

Fliegt mit ihm weg.

Einfach so.

Es ist wie im Märchen.

Paris.

Hand in Hand mit diesem fremden Mann, der ihr plötzlich so nah ist.

Außer Atem mitten in dieser wunderschönen Stadt.

Stundenlang lieben sie sich in diesem hübschen Hotel am Montmartre.

Der Blick auf Sacre Coeur und Aarons Lippen auf Ritas Haut.

Ohne Scham ist sie. Weil Aaron sie ihr nimmt.

Wie wundervoll du bist, sagt er.

Und Rita saugt alles in sich auf.

Sie tut es einfach. Auch wenn es ihr immer noch schwerfällt zu glauben, dass sie es ist, die das alles erlebt. Aaron, der ihre Hand nimmt und mit ihr durch die Straßen läuft. So viele schöne Dinge sieht sie, staunend steht sie vor den Bildern im Centre Pompidou, zum ersten Mal ist sie in einem Museum für moderne Kunst. Rita ist beeindruckt, sie kann sich nicht sattsehen. Sie genießt es.

Das alles hier ist so unwirklich, schreibt Rita.

Danke, Gerda.

Diese Stadt ist ein Traum.

Ich könnte für immer hierbleiben. Mit diesem Mann hier leben.
Weißbrot und Käse essen.

Ihn küssen.

Eine Kurznachricht. Dieses zerbrechliche kleine Stück Glück, an dem Rita ihre Freundin teilhaben lässt. Eine gute Nachricht in all dem Chaos.

Und Gerda freut sich. Sie schreibt zurück, dass sie mehr wissen will, sie ist neugierig.

Nimm dir alles, was du kriegen kannst, Rita.

Und hör auf, nachzudenken.

La vie est belle.

Du hast es dir verdient.

Und dazu passend noch eine Frage.

Wie ist er eigentlich im Bett?

Rita hört Gerda lachen.

Es ist schön, mit ihr dieses Gefühl zu teilen. Rita möchte sie am liebsten anrufen, ihr alles erzählen. Doch zieht sie weiter mit Aaron durch die Stadt, jede Minute verbringt sie mit ihm. Rita ist aufgeregt, sie fühlt sich jung, Er gibt ihr das Gefühl, dass sie etwas Besonderes ist. Jeden Augenblick, den sie zusammen sind.

Sie umarmen sich.

Sie spucken vom Eiffelturm.

In einem Laden für Haushaltswaren kaufen sie ein Vorhängeschloss und machen es an einem Brückengeländer fest. Wie verliebte Jugendliche irren sie über einen Friedhof, der so groß ist wie ein ganzes Dorf. Sie suchen das Grab von Jim Morrison. Völlig falsch summen sie ein Lied und trinken Whiskey aus einer Flasche, die man ihnen entgegenstreckt.

Riders on the Storm.

Sie lachen und laufen immer weiter.

Irgendwo unter einem Baum bleiben sie stehen.

Aaron schaut Rita an. Er flüstert.

Gut, dass er uns einander vorgestellt hat, Rita.

Bachmair hat endlich mal etwas Vernünftiges gemacht.

Wahrscheinlich bist du das Beste, was mir je passiert ist.

Es ist ein Geschenk, das aus seinem Mund kommt.

Komplimente in einer bezaubernden Stadt. Rita versteht zwar nicht, wie es sein kann, dass er seinen Kopf komplett verloren hat, aber sie versucht sich diesem Gefühl hinzugeben, sich treiben zu lassen, nicht nachzudenken. Warum er sie ausgesucht hat. Warum er mit ihr hierhergekommen ist und seine Frau betrügt. Warum er bereits von solchen Gefühlen spricht, obwohl er Rita gerade mal ein paar Tage lang kennt. Sie fragt nicht nach. Macht einfach ihre Augen zu.

Und Aaron küsst sie.

Sie lernen sich kennen.

Lebensgeschichten im Schnelldurchlauf.

Rita bemüht sich, nicht zu viel über ihre vermeintliche Arbeit zu sprechen. Sie verrät wenig über Brüssel, wenig über ihr Leben als Anwältin, sie spricht lieber von ihrer Kindheit auf dem Bauernhof. Erzählt ihm, dass ihre Eltern bei einem Erdrutsch gestorben sind. Und auch von Theo. Davon, dass ihr Kind gestorben ist, bevor es zehn Jahre alt werden konnte. Rita weint sogar. Sie zimmert für Aaron eine nachvollziehbare Lebensgeschichte zurecht. Kindheit, Jugend, dann das Studium, Auslandsaufenthalte. Irgendwann sei sie in der EU-Kommission gelandet, sagt sie. Rita spickt ihre Lügen mit Wahrheit. Es klingt glaubhaft, das alles, Aaron zweifelt keine Sekunde an dem, was sie sagt. Und bald auch sie selbst nicht mehr.

Rita ist authentisch, für ihn ist sie perfekt. Das sagt er ihr, als sie auf dem Flug zurück ihren Kopf in seine Arme legt.

Er ist zärtlich. Streichelt sie, solange es geht.

Ich will, dass wir zusammenbleiben, sagt er.

Das wäre schön, sagt sie.

Weil sie über das Wochenende beinahe vergessen hat, wie ihr anderes Leben aussieht. Wie dunkel alles ist. Wie bedrohlich.

Widerwillig kehrt sie dorthin zurück.

Weil sie wieder landen.

Weil der gemeinsame Flug vorbei ist.

Dieses wunderbare Wochenende mit ihm allein.

Glücklich und traurig zugleich verabschiedet sie sich von ihm.

Danke, sagt sie.

Bis bald, sagt er.

Dann trennen sie sich.

Rita schläft mit diesem Bauch voller Schmetterlinge ein. Und sie wacht wieder damit auf. Zurück in ihrer Wohnung denkt sie an ihn. Es geht nur noch um Aaron Martinek. Um niemanden und nichts sonst.

Sie arbeitet, sie isst, sie schläft, sie träumt von ihm.

Sie ignoriert die Gefahr, die sie umgibt, sie will keine Entscheidungen mehr treffen müssen, nur einen Augenblick lang stillstehen, ein paar Stunden, ein paar Tage. Sie lebt einfach mit diesem Lächeln im Gesicht vor sich hin.

Sie sehnt sich nach Aaron, nach einem Anruf von ihm.

Bachmairs Anrufe lässt sie unbeantwortet.

Seit sieben Tagen ignoriert sie ihn. Sie schiebt das Unausweichliche vor sich her, Rita lässt ihn warten, sie kränkt ihn. Auch wenn sie weiß, dass es falsch ist, hat sie beschlossen, nicht hechelnd um ihn herumzuschwänzeln wie alle anderen. Sie will nicht rennen, wenn er pfeift. Sie weiß, dass er innerlich kocht, dass die Nachrichten, die er auf ihrer Mobilbox hinterlässt, ernst gemeint sind.

Melde dich verdammt noch mal, sagt er.

Trotzdem ruft sie ihn nicht zurück.

Sie zögert noch. Weil sie tausendmal lieber den anderen Mann treffen würde, der in ihr Leben geplatzt ist. Sie möchte Aaron treffen, und nicht Bachmair. Doch sie kann ihn nicht mehr länger warten lassen. Seine Stimme auf der Mailbox lässt ihr keine Wahl mehr. Jeder Satz, den er gesagt hat, macht ihr jetzt Angst. Er hat keine Geduld mehr.

Bachmair will die Kontrolle zurück.

Wo warst du in den letzten sieben Tagen, Rita?

Du enttäuschst mich.

Kommst jetzt sofort zu mir.

Du wirst es wiedergutmachen, Rita.

Du wirst hier auftauchen und das Kokain mitbringen.

Alles, was du hast.

Sofort nach der Arbeit.

Sonst landest du im Gefängnis.

Hast du das verstanden, Rita?

Hat sie.

Rita weiß, dass er es ernst meint. Er wird dafür sorgen, dass sie untergeht, wenn sie nicht tut, was er sagt. Wenn sie nicht für ihn tanzt.

Auch wenn sie es so nicht geplant hat, sie muss den Karton aus Gerdas Vorratskammer holen, bevor sie zu ihm fährt.

Sie muss ihm geben, was er von ihr will.

Ich habe keine andere Wahl, Gerda.

Gerda nickt nur.

Sie versteht es, versucht nicht, es Rita auszureden.

Auch sie weiß, wie es enden kann, wenn Rita sich jetzt wehrt.

Sie hilft ihrer Freundin, die Päckchen in eine Sporttasche zu legen.

Die meisten davon.

Aber nicht alle.

Warte, Gerda.

Kurz steht alles still.

So wird es nicht enden, Gerda.

Sie wird nicht einfach alles wieder hergeben. Noch ist es nicht vorbei.

Dafür ist sie dieses Risiko nicht eingegangen. Dafür muss Kamal nicht leiden. Dafür ist sie nicht mit einer Leiche quer durch das Land gefahren und hat Blut vom Boden gewischt. Sie hat den Karton nicht für Bachmair mit nach Hause genommen.

Nicht für ihn.

Nein. Nicht alles wird er bekommen.

Fünfeinhalb Kilo.

Den Rest wird sie behalten.

Bachmair weiß ja nicht, wie viel es insgesamt war. Er wird nicht damit rechnen, dass sie ihm etwas vorenthält. Sie wird die Hälfte der Drogen behalten. Irgendetwas wird ihr einfallen, sie wird das Kokain zu Geld machen, sie wird nicht in dieser Wohnung neben Manfred alt werden und sterben. Sie wird mit dem Geld ein neues Leben anfangen.

Rita will glücklich sein.

Und Bachmair wird sie nicht daran hindern.

Er wird sich zufrieden geben mit dem, was sie ihm gibt.

Sie wird ihn beruhigen. Ihn davon überzeugen, dass sie keine Gefahr für ihn ist, dass sie niemals ein Wort über das verlieren würde, was in ihrem Schlafzimmer passiert ist. Rita weiß, dass Bachmair nervös ist. Dass er Angst hat, die Kontrolle zu verlieren. Mit aller Kraft blendet sie aus, dass er den Albaner eiskalt erschlagen und entsorgt hat.

Er hatte keine andere Wahl, sagt sie sich.

Alles andere wäre Wahnsinn.

Sie akzeptiert die grausame Wirklichkeit, tut so, als wäre es völlig normal. Anstatt zur Polizei zu rennen und ihn zu belasten, färbt sie alles schön. Rita hat einen Plan. Und sie will daran festhalten. Mit Gewalt glaubt sie an ein gutes Ende. Sie lässt alles über sich ergehen. Setzt sich weiter der Gefahr aus. Sie spielt mit.

Katze und Maus.

Er frisst sie nicht, er verwundet sie nur.

Er schaut zu, wie sie um ihr Leben kämpft.

Rita Dalek.

Sie führt ihn an der Nase herum.

Lächelt ihn an, als sie seinen Salon betritt.

Die Sporttasche in der Hand.

Ich musste arbeiten, rechtfertigt sie sich.

Die letzten Tage war ich im Supermarkt.

Am Abend war ich müde, noch verwirrt, von dem, was passiert ist.

Und am Wochenende lag ich im Bett.

Ich wollte niemanden sehen.

Bachmair hört zu. Er schaut sie an, lässt ihre Worte kurz wirken, dann aber holt er aus. Schlägt zu. Sagt ihr, dass er bereits alles weiß.

Warum lügst du mich an, Rita?

Warum sagst du mir nicht einfach, dass du mit Martinek in Paris warst?

Ich habe deinen verfickten Zahnarzt getroffen.

Ihr habt Händchen gehalten, hat er gesagt.

Warum tust du mir das an?

Fotze.

Sie starrt ihn an.

Weil es völlig absurd ist, wie er reagiert.

Bachmair ist eifersüchtig. Er duldet es nicht, dass außer ihm noch jemand eine Rolle in ihrem Leben spielt. Er beschimpft sie. Er flucht. Doch er hat die Rechnung ohne Rita gemacht. Sie unterbricht ihn. Lässt es nicht zu, dass er sie noch weiter in die Ecke drängt. Geht in die Offensive, erzählt ihm alles, was er wissen will. Jedes Detail. Was sie gegessen haben, wohin Martinek sie ausgeführt hat, in welchem Hotel sie geschlafen haben.

Rita beichtet.

Und Bachmair nimmt ihr diese Beichte ab.

Seine Stimme wird ruhiger.

Das hättest du nicht tun sollen, Rita.

Ich dachte, da ist etwas Besonderes zwischen uns.

Aber bei der erstbesten Gelegenheit treibst du es mit meinem Freund.

Das verletzt mich.

Rita steht vor ihm und rührt sich nicht.

Die Tasche hält sie immer noch in der Hand. Sie reagiert aus dem Bauch heraus, obwohl sie sich am liebsten auf die Zunge beißen würde. Sie sagt es einfach. Sie ist Schauspielerin.

Es klingt glaubhaft.

Es tut mir leid.

Ich wusste nicht, dass das ein Problem sein könnte.

Ich wollte dich nicht verletzen, glaub mir.

Es ist einfach passiert.

Das hat nichts mit dem zu tun, was zwischen uns beiden ist.

Rita entschuldigt sich. Es ist so, als wäre Bachmair ihr Geliebter, den sie brutal vor den Kopf gestoßen hat. Als hätte sie ihn betrogen, und nicht Manfred. Aber sie weiß, dass es notwendig ist, Bachmair würde sonst nicht aufhören. Sie hat den Narzissten gekränkt, ihn gedemütigt, und sie muss es so schnell wie möglich wiedergutmachen.

Aaron bedeutet mir nichts.

Es war einfach nur eine Herausforderung, die ich annehmen wollte.

Ich wollte sehen, ob ich ihm den Kopf verdrehen kann.

Außerdem weißt du ja, wie das Zeug hier wirkt, oder?

Also sei mir bitte nicht böse.

Bachmair genießt es. Was sie sagt, gefällt ihm.

Er mag es, dass sie sich ihm ohne Gegenwehr unterwirft. Alles, was Rita sagt, besänftigt ihn. Ihre devote Haltung, ihr reuevoller Blick. Sie ist demütig, kriecht vor dem Milliardär auf dem Boden herum, sie bringt ihn dazu, sie wieder großzügig anzulächeln.

Rita bringt das Schiff zurück auf Kurs.

Bachmair grinst.

Na gut, sagt er.

Dann zeig mir mal, was in der Tasche ist.