45. KAPITEL
Während Hugo in Afrika Whisky trank, bemühten Jenny und Kevin sich nach Kräften, einander und dem Massai die Zeit zu vertreiben. Erst das Moderna Museet.
Die beiden waren nun zwar schon ein Paar, doch weil es dabei etwas überstürzt zugegangen war, tat ihnen jedes Gemeinschaftserlebnis gut, mit dem sie ihre Gefühle füreinander festigten. Etwa ihre gemeinsame Begegnung mit Sigrid Hjertén, einer der wenigen schwedischen Vertreterinnen des Expressionismus. Auf einem ihrer Werke hatte sie eine feine Dame auf einem Balkon über dem betriebsamen Stockholm gemalt. Unten ein Gewimmel von Pferdekutschen, Straßenbahnen, Handel und Wandel. Im Vordergrund die Frau auf dem Balkon mit besonders hohem Geländer, wie eine Gefangene ihrer Gesellschaftsschicht.
Kevin fand, das Werk sei wie eine Begegnung des Expressionismus mit dem damals noch nicht erfundenen Feminismus. Jenny verstand, was er meinte. Ihre Gefühle für ihren Verlobten nahmen von Tag zu Tag zu.
»Warum sieht sie so böse aus?«, sagte Ole Mbatian.
Nach dem Museum schlug Jenny einen Besuch in Skansen vor, dem berühmten Freilichtmuseum. Dort gab es spannende Tiere und historische Gebäude zu sehen. Ole sagte, er habe zeitlebens mehr als genug Tiere zu Gesicht bekommen. Als er erfuhr, dass manche der historischen Gebäude jahrhundertealt waren, verstimmte ihn das bloß. Es erinnerte ihn daran, dass bei ihm zu Hause keine Hütte länger als vier Jahre stand, ehe sie einstürzte und neu aufgebaut werden musste.
Das mit Skansen war auch in anderer Hinsicht keine gute Idee. Die Außentemperatur lag immer noch unter null, und Ole Mbatian hatte nicht vor, sich von seiner Shúkà zu trennen.
Dann war vielleicht ein Einkaufszentrum angesagt? Das hörte sich gut an, fand Ole, er wollte nämlich ein bisschen was einkaufen. Vor allem brauchte er eine neue Ausrüstung mit Waffen. Messer und Speer hatten sie ja bereits in Nairobi beschlagnahmt. Die Wurfkeule hatte es zwar bis nach Schweden geschafft, aber jetzt hatte die Polizei sich die geschnappt, nur weil sie versehentlich einem von denen an die Stirn geflogen war.
Jenny und Kevin schlugen einen Ausflug in die Mall of Scandinavia vor – über zweihundert Geschäfte, Restaurants und Vergnügungsstätten auf einer Fläche von hunderttausend Quadratmetern. Dort wetteiferten alle nur erdenklichen internationalen Marken miteinander um Kunden: exklusive Bekleidung, Haus- und Wohnungseinrichtung, Technik … Wer unbedingt wollte, konnte sich sogar an Ort und Stelle ein Elektroauto kaufen.
Letzteres machte keinen besonderen Eindruck. Ole Mbatian ging davon aus, dass ein Elektroauto Elektrizität brauchte, was es für ihn daheim im Dorf wertlos machte. Häuptling Zahnlos hatte für mehr als nur dies und das Rechenschaft abzulegen, wenn die Stunde schlug.
Ein paar Kleider unter der Shúkà könnten freilich nicht schaden. Der Medizinmann wollte nicht klagen, aber die Kälte biss ihn in die Knochen.
Obwohl Jenny und Kevin alle Waffenkäufe abbogen, wurde das Einkaufszentrum ein Erfolg, nicht zuletzt wegen all der vielen Rolltreppen. Ole sah sich gezwungen, auf einer davon in Gegenrichtung zu gehen, um seine These bestätigt zu finden. Faszinierend! Wie weit er auch ging, er kam nirgends an.
Auch wenn ihm nichts anzusehen war, trug er jetzt doch unter der Shúkà eine lange Hose und dazu einen dünnen Rollkragenpulli. An den Händen ein Paar schwarze Handschuhe aus echtem Leder. Natürlich wusste Ole, was Handschuhe waren, auch wenn er noch nie zuvor welche angehabt hatte.
»Das Schwarz passt zu den Karostreifen auf der Shúkà«, stellte er zufrieden fest.
»Du hast Modebewusstsein«, sagte Jenny.
Blieben die Füße. Der Medizinmann wollte nicht so rückständig wirken wie sein Häuptling, aber so toll sich Handschuhe auch anfühlten, so eingezwängt fühlte er sich in Schuhen. Er wollte die Sandalen anbehalten, konnte sich aber Socken an den Füßen vorstellen, solange sich das Wetter darauf versteifte, so zu bleiben, wie es war.
Socken in Sandalen? Von wegen Modebewusstsein.
Als die Schuhverkäuferin sah, wie Jenny das Gesicht verzog, ließ sie sich etwas einfallen, um doch noch zu einem Geschäft zu kommen. Sie verwies darauf, dass in dem tonangebenden Wall Street Journal
derzeit die Frage aufgeworfen wurde, ob Socken in Sandalen nicht doch und trotz allem ästhetisch akzeptabel seien. Zum aktuellen Outfit empfahl sie weinrote zu einem Paar schwarze Birkenstocks. Zufällig hatte sie beides auf Lager.
Der Medizinmann nickte.
* * *
Als Hugo zurückgekehrt war, versammelte er Jenny, Kevin und Ole Mbatian im Wohnzimmer. Der Massai trug mittlerweile draußen wie drinnen Handschuhe. Außerdem am linken Handgelenk eine Armbanduhr. Die hatte Kevin beim Trödler in Bollmora fast umsonst bekommen. Ole hatte die Uhr so lange begehrlich beäugt, bis der Sohn sie ihm geschenkt hatte. Inklusive Einführungskurs, wie man die Uhr las. Papa lernte schnell.
Hugo erzählte von seiner Begegnung mit dem Häuptling, dem schon fast rituellen Trinkgelage und den furchtbaren Kopfschmerzen am nächsten Morgen, samt der Erkenntnis, dass Victor Alderheim ihm zuvorgekommen war und jetzt die Bilder plus Beweis ihres wahren Wertes in Händen hatte. Mit kaum merklich kühlem Unterton wandte sich Hugo an Ole Mbatian: »Hast du Alderheim … dem wütenden Mann … irgendwann erzählt, dass es in der Savanne Fotos von dir und Irma gibt?«
Ole begriff, dass er das vielleicht besser gelassen hätte, doch das hatte er ja bei dem Frühstück mit Tubenkaviar nicht wissen können.
»Es stimmt, dass der Wütende meine Bilder gekauft hat. Gekauft ist gekauft. Aber etwas zu nehmen, was einem nicht gehört … weißt du, wie wir Massai das nennen?«
»Nein«, sagte Hugo.
»Diebstahl.«
Sah Hugo einen neuen Hoffnungsschimmer am Horizont? Er wies darauf hin, dass der Wert der Bilder mit ihrem Provenienznachweis stieg. Das internationale Aufsehen würde zusammen mit der bereits bewiesenen Preisentwicklung bei Irma Stern wohl über
zwei Millionen Dollar ergeben.
»Wie viel ist das?«, erkundigte sich Ole Mbatian.
Kevin rechnete es überschlagsartig durch.
»Ungefähr zweitausend Kühe, Papa.«
»Uijuijui!«
Hatte der Medizinmann begriffen, was für ein grotesk hoher Betrag auf dem Spiel stand? Hugo erkundigte sich vorsichtig, ob Ole Mbatian sich vorstellen könne, trotz allem den Verkauf abzustreiten.
»Wie meinst du das?«
»Dass du die Bilder nie verkauft hast? Dass er dich falsch verstanden hat.«
»Mich falsch verstanden?«
Da irrte Hugo sich aber gewaltig. Der wütende Mann hatte alles genau richtig verstanden, er hatte sich ja in Sekundenschnelle von böse zu heilfroh gewandelt. Danach war er zwar wieder zurückgeschwenkt, aber das lag wohl mehr an seiner Persönlichkeit. Mit dem Geschäft war alles in Butter. Hugo brauchte sich nicht wegen irgendwelcher Missverständnisse den Kopf zu zerbrechen.
Der Massai und der Ex-Creative-Director lebten in verschiedenen Welten.
»Ich meine, ob wir uns erlauben sollten, so zu tun
, als hätte er es falsch verstanden? Dann könnten wir die Bilder vielleicht zurückkriegen und sie gegen, ja, zweitausend Kühe eintauschen.«
Ole Mbatian schüttelte den Kopf. Gesagt war gesagt. Verkauft war verkauft. Wer würde außerdem zweitausend Kühe den ganzen weiten Weg aus Schweden treiben? Die armen Kühe, übrigens, bei dem Wetter. Handschuhe an den Klauen wären das Mindeste.
Das führte mal wieder zu der Frage: Was für ein Verhältnis hatte der Massai zur Wirklichkeit?
Wie betrüblich das alles in allem auch aussah, Kevin konnte sich dennoch einen gewissen Stolz auf seinen Vater nicht verkneifen, der so unverrückbar zu seinem Wort stand. Hugo empfand hauptsächlich Ärger. Und Jenny innere Leere.
Eins wollte der Medizinmann klarstellen: Gekauft war gekauft. Ebenso wie gestohlen gestohlen war. Für Letzteres hatte der Kunsthändler, dieser wütende Mann, einen gehörigen Denkzettel verdient. Gerne nach afrikanischem Brauch.
»Afrikanisch?«, sagte Hugo.
Kevin erklärte ihm das mit dem Ameisenhaufen. Bei minderen Vergehen blieb der Kopf des Schuldigen etwa eine Viertelstunde drin. Bei größeren eine halbe Stunde oder länger.
Nun war es gar nicht so leicht, in Stockholm und Umgebung einen Ameisenhaufen zu finden, und zu dieser Jahreszeit wäre er ohnehin durch und durch gefroren gewesen. Hugo interessierte aber doch, an welcher Stelle der Skala der Medizinmann das fragliche Verbrechen ansiedelte.
»Wenn wir zurückbekommen, was mir gehört, reicht eine Viertelstunde völlig«, sagte Ole. »Aber wenn er sich sträubt und wir alles andere dazurechnen, was er angestellt hat, kann durchaus das andere Extrem infrage kommen, wenn du mich fragst. Was du ja gerade getan hast.«
»Das andere Extrem?«
»Dann fesselt man dem Dieb die Hände auf dem Rücken, steckt seinen Kopf in den Ameisenhaufen und geht weg.«
Als Alternative zum Ameisenhaufen schlug der Massai vor, dass sie sich gemeinsam mit allem bewaffneten, was sie in Hugos Garage auftreiben konnten, und zum Kunsthändler zogen, um ihm eine Lektion zu erteilen.
Dazu waren die anderen nicht bereit. Auch wenn Alderheim so einiges verdient hatte, würde doch alles außer Kontrolle geraten, wenn Ole Mbatian das Kommando übernahm. Insbesondere der Massai selbst, der seinen Antrag offenbar schon zurückgezogen hatte. Während die anderen über die nächsten Schritte nachdachten, durchschnitt er mit den behandschuhten Händen die Luft, wenn er nicht gerade seine Armbanduhr konsultierte, um die Uhrzeit zu verkünden. War er anwesend? Abwesend? Ganz bewusst im Hier und Jetzt? Wer konnte das schon sagen.
Hugo hatte das Gefühl, dass ihm sein Hirn den Dienst verweigerte. Er verfluchte den Whisky. Für ihn fühlte es sich so an, als hätte er immer noch Restalkohol im Blut. Es musste an der Kombination von Alkohol und dem interkontinentalen Hin- und Rückflug liegen. Er hatte sich doch hoffentlich nichts eingefangen?
Ole nickte verständnisvoll, als das braune Getränk angesprochen wurde. Er, der Häuptling und Glenfiddich kamen traditionsgemäß jeden Donnerstag nach Sonnenuntergang zu einer Besprechung zusammen. Dabei ging es so zu, dass der Häuptling Blödsinn verzapfte und der Medizinmann ihn berichtigte.
»So gegen neunzehn Uhr, will ich meinen«, sagte er mit Hinweis auf seine schicke Uhr. »Oder sieben, wie wir zu sagen pflegen.«
Auf das Treffen zwischen dem Häuptling und dem Medizinmann folgte dann am nächsten Vormittag ein kurzes Nachtreffen, bei dem sie sich gegenseitig daran zu erinnern versuchten, was am Vorabend nicht beschlossen werden konnte, weil sie sich nie einigten.
»Zwischen zehn und halb elf Uhr. Ungefähr. Vielleicht auch um elf. Aber zu keiner späteren Uhrzeit.«
* * *
Sie konnten den Verkauf nicht anfechten, da zog Ole nicht mit. Sie konnten nicht zum Kunsthändler gehen und die Rückgabe des Diebesguts verlangen, da zog Ole nicht mit, wenn er dem Mann keine Lektion erteilen durfte. Worauf die anderen sich wiederum nicht einlassen konnten, auch wenn Ameisenhaufen offenkundig dünn gesät waren.
Hugo musste nachdenken. Und Schlaf nachholen. Vielleicht in umgekehrter Reihenfolge. Anscheinend brütete er etwas aus. Er bat die anderen, ihn in Ruhe zu lassen, bis er wieder von sich hören ließ. Es konnten ein, zwei Tage vergehen.
Während Hugo sich ausruhte und über die Zukunft nachdachte, vergnügten sich der Massai, der Halbmassai und die Exfrau des großen Feindes mit Rodeln auf einem Kinderhügel in der Nähe. Hin und wieder liefen sie Hugo in der Küche über den Weg.
»Möchtest du nicht mit Schlitten fahren?«, sagte Kevin. »Du kannst doch nicht immerzu arbeiten.«
»Es ist Viertel nach zwei«, sagte Ole. »Vierzehn Uhr fünfzehn.«
»Danke, aber nein danke. Und danke für die Zeitansage, Ole. Jetzt weiß ich Bescheid.«
Er nahm seine Kaffeetasse und verzog sich wieder ins Schlafzimmer im ersten Stock. Dort hatte er genügend Ruhe, um sich ganz darauf zu konzentrieren, wie es wirklich um alles stand und was daraus werden sollte. Der Anblick eines Massai in Shúkà, Handschuhen und Sandalen auf einem Schlitten hätte ihn unrettbar in unwirkliche Sphären abdriften lassen.
Mittendrin brach das aus, was Hugo im Anflug gespürt hatte. Er bekam eine fiebrige Erkältung. Er, der sich als Einziger von ihnen nicht den ganzen Tag im Schnee wälzte. Die Welt war so ungerecht.
Der international renommierte Kreativkopf brauchte drei Tage, um mithilfe von viel Schlaf und noch mehr Ingwergetränk wieder zu sich zu kommen und einen neuen Lösungsweg zu finden. Oder eher einen neuen alten Weg. Erst zum Wochenende war er wieder gesund und mit Nachdenken fertig.
Er musste den Massai mit ins Boot holen, da kam es sehr auf die Wortwahl an. Hugo berief eine neue Vollversammlung ein und wandte sich gleich zu Beginn an Ole Mbatian:
»Du hast die Frau unter Sonnenschirm
und den Knaben am Bach
an Victor Alderheim verkauft und möchtest nichts daran ändern. So weit korrekt?«
»Hab noch nie leckerere Brote gegessen«, sagte Ole Mbatian.
»Und alle Fotos und Briefe von früher gehören immer noch dir?«
»Diebstahl«, sagte Ole Mbatian. »Gebt mir eine Wurfkeule, einen Ameisenhaufen oder beides, dann regele ich die Angelegenheit.«
Hugo hatte seine Idee mit der Verhältnismäßigkeit zugefügter Rache noch nicht aufgegeben.
»Das können wir nicht zulassen«, sagte er. »Ich weiß, was du von Diebstahl hältst, aber was hältst du von einem Einbruch, um zurückzustehlen, was dir gehört?«
Der Massai dachte nach. Das wäre ja, wie ins Nachbardorf zu ziehen, um seine eigenen Ziegen zurückzuholen.
»Nur mit dem Unterschied, dass wir diesmal niemanden erschlagen«, sagte Hugo.
Der Creative Director schämte sich, dass er mehrere Tage gebraucht hatte, um auf die Lösung eines neuen nächtlichen Gruppenbesuchs bei Victor Alderheim zu kommen. Er schob es auf die Erkältung. Oder hatte er unbewusst versucht, die angedachte Lösung bis zuletzt aufzuschieben, wegen des Risikos, dass das Diebesgut, das sie zurückstehlen wollten, nicht im Laden im Erdgeschoss war, sondern in der Wohnung im ersten Stock? Womöglich unter dem Kopfkissen eines schlafenden Victor Alderheim?
Gelinde gesagt ein Hochrisikoprojekt. Aber wenn den Bildern ihre Echtheit endgültig bescheinigt wurde, war es mit allem aus. Unechte Bilder konnten immer noch auf verschlungenen Pfaden dort hingelangen, wohin sie gehörten. Trotz des Massai.
In der folgenden Nacht stand also ein neuer Besuch beim Kunsthändler an. Nein, lieber in der Nacht auf Montag, wenn es in der Stadt am ruhigsten war. Falls der Kunsthändler genauso dumm war, wie Jenny angedeutet hatte, oder nach Möglichkeit sogar etwas dümmer, hatte er das Schloss noch nicht ausgetauscht.