67. KAPITEL
Ein Vorteil von Victor Alderheims Dahinscheiden war, dass sein Sohn Kevin neue spannende Wörter lernte. Wie etwa Totenschein
, Verwandtschaftsnachweis
, Nachlassverzeichnisverwalter
, Nachlassgläubiger
und Fremdverwalter
.
Da Kevin das Finanzamt auf seiner Seite hatte, bestanden behördlicherseits keine Zweifel. Aber in Schweden war alles um einen Todesfall herum genau geregelt, bis hin zur Zahlungspflicht bei eventuell unbeglichenen Müllabfuhrgebühren, vorausgesetzt, dass der Tote das nicht selbst aus dem Jenseits regelte. Was es bisher noch nie gegeben hatte.
Jedenfalls war Kevin gut damit beschäftigt, den Papierkram zu bewältigen. Jenny half ihm dabei, während Hugo zu Hause saß und über den Sinn des Lebens nachdachte.
Wo nun bald solch ein Geldsegen auf Kevin niederprasseln würde, war nicht anzunehmen, dass er und Jenny ihm als Mitarbeiter der Rache ist süß GmbH
erhalten blieben. Nicht einmal, wenn der Chef die Verpflegungspauschale erhöhte oder den beiden etwa gar Gehalt zahlte. Nein, sie würden mit Ole Mbatian nach Afrika fliegen. Und am allerärgerlichsten war, dass Malte sich ihnen dann anschließen würde.
Hugo dachte noch etwas über die Finanzlage nach. Erinnerte sich an die Absprache mit Jenny und Kevin. Die Rache ist süß GmbH
hatte den Fall Victor Alderheim kostenlos übernommen, unter der Bedingung, dass sämtliche eventuellen Einnahmen der Firma zufielen. Lange hatte es nach nichts als Ausgaben ausgesehen. Aber was war jetzt? Hugo konnte selbstverständlich keinen Anspruch auf das Erbe erheben, oder auch nur auf einen Anteil daran. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, fühlte es sich nicht richtig an, überhaupt irgendetwas zu beanspruchen. Sie hatten Kevins biologischen Vater erschlagen; so eine Tat stellte man lieber nicht in Rechnung.
Während Hugo einsam vor sich hin grübelte, verstanden sich der Medizinmann und der Augenarzt immer besser. Gemeinsam schufen sie eine Nachmittagstradition: auf Hugos Sofa in Gesellschaft einer Flasche Glenfiddich über Heilkunde fachsimpeln.
Malte erinnerte sich aus seinem Medizinstudium, was ihm über Naturheilmittel beigebracht worden war und wie viel Respekt sie auch ohne wissenschaftliche Beweise für ihre Wirksamkeit verdienten. Pflanzen enthielten ja jede Menge unterschiedliche Phytochemikalien und Sekundärmetaboliten. Doch davon, wie genau die alle einzeln, zusammengenommen oder in diversen Kombinationen wirkten, hatte Malte wenig Ahnung.
»Soweit ich weiß, erzeugen Chemikalien in Heilpflanzen katalytisch und synergetisch einen kombinierten Effekt, wobei aus eins plus eins drei werden soll. Kannst du mir mehr darüber erzählen, Ole?«
»Nein, kann ich nicht.«
Ole Mbatian mochte den Augenarzt wirklich gut leiden, aber manchmal war er ihm zu kompliziert.
Nach zwei Gläsern geschah, was immer geschah, wenn Ole Mbatian einer Flasche Glenfiddich zu nahe kam. Er wurde sentimental. Zum wer weiß wievielten Mal beklagte er seinen großen Kummer, dass sein Sohn nicht in seine Fußstapfen treten würde. Kevin war zu spät vom Himmel gefallen, um als Erbe in den medizinischen Beruf hineinwachsen zu können. Zuerst war die Ausbildung zum Massaikrieger gekommen, ohne die man ihn ohnehin nicht zum Sammeln von Kräutern und Wurzeln in die Savanne hätte rausschicken können. Nicht, wenn man wollte, dass er wiederkam, und das wollte man ja.
Kurz vor dem vierten Glas wuchs der Weltschmerz. Da war er also, mit seinen acht Töchtern und dem Sohn, der alles andere als ein Medizinmann war. Wie alt genau Ole Mbatian der Jüngere war, wusste keiner, auf die Angabe im Pass konnte man sich nicht verlassen – sein Geburtsjahr hatte er zusammen mit Wilson mit den Stempeln auf der Autofahrt nach Nairobi grob geschätzt. Aber er selbst wurde nicht jünger. Wenn die Umstände es nur erlauben würden, hätte er seine Praxis schon längst an die nächste Generation übergeben und sich zur Ruhe gesetzt.
Jetzt war er wohl eher gezwungen, auf seinem Posten zu sterben. Den Gedanken, dass ein Amateur aus irgendeinem Nachbardorf seinen Platz einnehmen und von seinem guten Ruf profitieren könnte, ertrug er nicht.
Malte nickte und bedauerte ihn.
Hugo horchte aus dem ersten Stock. Vollkommen nüchtern.
Überlegte. Und wurde kreativ.
Ohne es selbst richtig zu begreifen, hatte er damit angefangen, seine Zukunft und die seiner Mitstreiter zu gestalten. Stück für Stück.