Betty beobachtete, wie der Regen die Gehwege zwischen den Doppelhäusern in dicken Matsch verwandelte, was die Bauarbeiter aber nicht daran zu hindern schien, den letzten Abschnitt des Sicherheitszauns fertigzustellen. In jedem Fall war Betty dankbar dafür, sich in einem Haus zu befinden. Sie fror immer noch, obwohl sie ihren Mantel trug und der Heizlüfter auf Hochtouren lief.
Vor dem Fenster eilte ein durchnässter Wachmann mit hochgestelltem Kragen vorbei und betrat eines der anderen Doppelhäuser. Kurz danach kam er mit zwei weiteren Wachleuten heraus und zeigte auf den Hügel, der sich hinter dem offenen Feld erhob.
Währenddessen leistete der alte Mann Maryam und Betty Gesellschaft. Gemeinsam sahen sie den Bauarbeitern zu, wie sie in ihrer schmutzigen gelben Arbeitskleidung und den orangefarbenen Warnwesten einen drei Meter hohen Sicherheitszaun um die Siedlung errichteten.
Betty nickte dem Mann freundlich zu, als er den Küchenschrank neben ihr durchsuchte. Dann lächelte er Betty an und redete in einer Sprache mit ihr, die sie nicht einordnen konnte.
Sie reichte dem Mann ihre Wasserflasche. So durstig sie auch war, bisher hatte sie an ihrem Wasser nur genippt. Dankbar nahm der Mann die Flasche entgegen und füllte zwei Plastikbecher, von denen er einen Betty gab, ehe er weitersprach.
«Er sagt, die Basare in Damaskus seien eine Schande für die Stadt und das Land», dolmetschte Maryam. «Aber gleichzeitig kann sich kein Land der Welt mit der Gastfreundlichkeit messen, die man in einem syrischen Zuhause erfährt.»
«Ich hoffe, ich darf sie eines Tages erleben», sagte Betty und trank einen Schluck Wasser, was ihr guttat, denn sie spürte, dass sich Kopfschmerzen anbahnten.
«Er lädt dich zum Tee bei sich ein, wenn er wieder daheim ist.»
Alle drei kehrten in den Gemeinschaftsraum zurück, wo sich der Mann neben seiner Frau aufs Sofa fallen ließ, die dort mit über dem Bauch gefalteten Händen eingeschlafen war. Auf der Armlehne neben ihr hatte sie ihre persönlichen Gegenstände abgelegt – ein zerknittertes Familienfoto, eine Brille mit gesprungenem Glas, ein Lederportemonnaie und eine goldene Armbanduhr. Ihr Mann legte seinen Arm um sie, schloss die Augen und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Für einen kurzen Moment war es vollkommen still im Haus. Auch die Familie mit den Teenagersöhnen hatte sich in eines der Schlafzimmer zurückgezogen und ruhte sich dort aus.
«Seit ihr Dorf zerbombt wurde, haben sie kein Haus mehr betreten», sagte Maryam.
Betty bemerkte eine blutige Träne auf Maryams Wange. «Tut es weh?»
«Nein. Nicht mehr.»
«Im Internet habe ich ein Foto von einem Arzt in Paris gefunden, der während eines Vortrags Bilder von dir gezeigt hat.»
«Mein Onkel …»
«Er nannte sie Jungfrauentränen.»
«Damit wollte er einen medizinischen Fachbegriff etablieren. Außerdem war er sehr religiös und litt unter Depressionen.»
«Was macht er jetzt?»
«Er ist an Krebs gestorben.»
«Das tut mir leid.»
«Ich stand ihm näher als meinem eigenen Vater, den ich wegen der vielen Auslandsreisen nur selten sehen konnte. Vor drei Monaten hat er sich aber plötzlich in Paris bei mir gemeldet, weil er wollte, dass ich nach Hause komme. Ich sollte bei den Friedensverhandlungen dabei sein. Aus Trotz wäre ich beinahe nicht gefahren.» Maryam wischte sich die Bluttränen mit einer Papierserviette von der Wange und sah die Flecken darauf so eindringlich an, als versuchte sie, ihre Zukunft vorherzusagen. «Ich hatte tatsächlich geglaubt, es gäbe eine echte Chance auf Frieden oder wenigstens einen Waffenstillstand. Namhafte Vertreter waren um den runden Tisch versammelt und hatten eine hunderttägige Feuerpause sowie einen permanenten Stopp für Luftangriffe ausgehandelt.»
«Wie ist dein Vater gestorben?»
«Offiziell war es ein Autounfall.»
«Was glaubst du?»
«Ich glaube, sein Tod hatte etwas mit der Thermitforschung zu tun. Das hier solltest du dir ansehen.»
«Das werde ich auf jeden Fall tun.»
Aus einer Manteltasche hatte Maryam den USB-Stick gezogen, den sie Betty so vorsichtig übergab, als wäre er radioaktiv verstrahlt. Betty sah sich den Stick an. «Worüber haben Jonatan und du gesprochen?»
«Wann?»
«Im Bus, als ich telefoniert habe.»
Maryam zuckte mit den Schultern. «Er will die Schuldigen erwischen.»
«Sonst nichts?»
Mit prüfendem Blick sah Maryam Betty an, ohne etwas zu sagen. «Er hat Angst um seine Freundin, außerdem scheint er nicht der Typ zu sein, der Gefühle zeigt.»
«Nein, die behält er gerne für sich.»
«Ihr kennt euch also besser?»
Betty legte ihr Handy auf den Couchtisch und lehnte sich zurück. Sie spürte, wie das weiche Kissen sich um ihren Nacken schloss, und wollte nichts lieber, als für eine Weile die Augen zu schließen.
«Wir haben zusammen in der Regierungskanzlei gearbeitet», erzählte sie schließlich. «Ich war Pressechefin und Jonatan Berater. Ist gefühlt schon Ewigkeiten her.»
«Was ist passiert?»
«Der Staatsminister musste zurücktreten, und ich wurde gefeuert. Seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen, aber das Letzte, das ich von ihm gehört habe, war, dass er sich mit dem Oligarchen Susjinskij getroffen hat.»
Maryams abgemagertes Gesicht, das voller Sorgenfalten war, blieb ausdruckslos. «Über Susjinskij weiß ich nicht viel», sagte sie, «aber was ich gehört habe, macht mir Angst.»
«Ist außer den Informationen zu den Thermitwaffen noch etwas anderes auf dem Stick?»
«Mein Vater hat alles kopiert, was er in die Hände bekam. Darunter sind auch Informationen, die Ostrovskij wohl nicht so gerne veröffentlicht sehen will, denn das syrische Regime hatte Zugriff auf Material des russischen Geheimdienstes.»
Über den Couchtisch hinweg sah der ältere Mann die beiden Frauen an. Er wirkte froh über die Gesellschaft, und Betty vermutete, dass seine Freundlichkeit ihr geholfen hatte, Maryams Vertrauen zu gewinnen.
«Es sind fürchterliche Waffen», sagte Maryam. «Frauen, Kinder und Alte verschwinden nach den Granatenangriffen spurlos. Als mein Vater sich entschloss, darüber zu reden, unterschrieb er sein Todesurteil. Und jetzt gilt das auch für mich.»
Die beiden Teenagerjungen kamen aus dem angrenzenden Zimmer und flüsterten sich etwas zu, ehe sie vor Betty traten und sie in Zeichensprache fragten, ob sie Zigaretten für sie habe. Betty schüttelte den Kopf, worauf die Jungen nach draußen gehen wollten, aber von ihrer Mutter abgefangen und zurück in ihr gemeinsames Zimmer geführt wurden.
«Komm mit zurück», sagte Betty an Maryam gerichtet.
«Wohin?»
«Hier kannst du nicht bleiben.»
Mit gesenktem Blick betrachtete Maryam ihre Hände.
«Ich organisiere uns ein Hotelzimmer, damit wir ungestört reden können», fuhr Betty fort. «Je schneller das alles ans Licht kommt, desto sicherer bist du. Meine Zeitung wird dich unterstützen, sobald sie dort begriffen haben, wie wichtig deine Geschichte ist.»
«Welche Art von Unterstützung können sie mir denn geben?», fragte Maryam und sah wieder auf.
«Alles, was du brauchst. Ich muss nur erst einige Dinge klären.»
Maryam nickte unsicher.
«Das ist nicht gerade optimal, aber es ist die beste Alternative.» Als Betty aufstand, machten sich ihre Kopfschmerzen wieder bemerkbar, und sie ging ins Bad, um sich das Gesicht abzuspülen. Der Wasserhahn ächzte, als sie ihn aufdrehte. Dann formte sie ihre Hände zu einer Schale und spritzte sich das kalte Wasser auf Gesicht und Nacken. Anschließend betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre Augen waren gerötet, die Haare standen zu allen Seiten ab. Schließlich schaltete sie das Licht aus und spürte einen kalten Luftzug im Nacken. Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, war Maryam verschwunden.
Der ältere Mann zeigte auf die Haustür, und Betty stellte mit Schrecken fest, dass ihr Handy ebenfalls nicht mehr da war.
Sie sprintete nach draußen, konnte Maryam aber nirgends entdecken. Mit schnellen Schritten lief sie den Kiesweg entlang, bis plötzlich eine Gruppe uniformierter Wachleute vor ihr auftauchte. Zwei der Männer gingen direkt auf sie zu, machten aber auf einmal halt und drehten um.
Dann sah Betty die Helferin aus dem Bus, die ihr aus einem der Doppelhäuser entgegenkam und anscheinend dachte, Betty suchte nach ihr. «Es ist Zeit», sagte sie. «Kommen Sie mit?»
«Haben Sie hier eine Frau vorbeikommen sehen?», fragte Betty, anstatt ihr zu antworten. «Ich bin mit ihr hergekommen.»
Die Helferin schüttelte den Kopf.
Ehe Betty weitersprechen konnte, schoss ein Pick-up vom Parkplatz auf der anderen Straßenseite und raste davon. Sie sah nur noch, wie ein Wachmann, der sich dem Wagen in den Weg gestellt hatte, zur Seite sprang.
Der achtzylindrige Motor des Pick-ups ließ das Tempo von neunzig Kilometern in der Stunde wie einhundertvierzig klingen.
«Wessen Auto ist das?», fragte Maryam.
«Keine Ahnung», antwortete Jonatan. «Die Schlüssel haben gesteckt.»
«Warum haben wir Betty zurückgelassen?»
«Sie kann auf sich selbst aufpassen.»
«Aber ging es nicht darum, die Medien einzuschalten?»
«Den Job erledigt Betty am besten allein», sagte Jonatan, ohne wirklich überzeugt zu klingen. «Hast du ihr den USB-Stick gegeben?»
Maryam verstummte plötzlich. Als zweifelt sie daran, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, ihm zu glauben, als er ihr im Bus versprochen hatte, sie an einen sicheren Ort in der Stadt zu bringen.
«Du vertraust ihr nicht», stellte Maryam enttäuscht fest.
«Doch, eigentlich schon.»
«Aber?»
«Ich vertraue ihr als Journalistin, aber nicht darauf, dass sie den Ernst der Situation versteht, in der sie sich befindet.»
Maryam drehte sich zur Ladefläche um, als könnte sich unter der zusammengerollten Plane, die dort lag, jemand verstecken.
«Wir müssen uns ein wenig Spielraum verschaffen», sagte Jonatan. «Ich kann mir nicht vorstellen, was du durchgemacht hast und welche Dinge du hast opfern müssen, um hierherzukommen. Aber ich habe Fragen, und ich hoffe, du kannst sie mir beantworten.»
Völlig bewegungslos und mit ausdrucksloser Miene saß Maryam da.
«Ich hatte gehofft», fuhr Jonatan fort, «dass du mir von den Friedensverhandlungen erzählen kannst.»
«Sie haben zu nichts geführt.»
«Wo fanden sie statt?»
«In Damaskus, im Four Seasons.»
«Welche Rolle hast du dabei gespielt?»
«Ich habe meinen Vater unterstützt.»
«So weit hatte ich das schon verstanden.»
Maryam sprach langsam und machte immer wieder lange Pausen, als sie berichtete, wie ihr Vater Karim Shatnawi vom jordanischen Königshaus beauftragt worden war, die gegnerischen Seiten im Syrienkonflikt zu Friedensverhandlungen zusammenzubringen. Die NATO war nicht eingeladen worden, da sie, wie Maryam betonte, im Land an Ansehen verloren hatte. Russland hingegen hatte einen festen Platz am runden Tisch bekommen, denn Präsident Dimitrij genoss das große Vertrauen der beteiligten Parteien.
Detailliert schilderte Maryam, wie die anderen Teilnehmer reagiert hatten, als Oleg Ostrovskij als Abgeordneter des Kremls aufgetreten war. Dass der Präsident ihn geschickt hatte, deutete auf den Wunsch des Kremls hin, die Verhandlungen so diskret wie möglich abzuwickeln.
Zweiundsiebzig Stunden lang argumentierte Ostrovskij für einen Waffenstillstand und fand letztlich auch Gehör. Trotz dieses großen Fortschritts schickte Karim Shatnawi am Ende des ersten Tages einen eher pessimistischen Bericht an das jordanische Königshaus. Ihm sei bewusst gewesen, erklärte Maryam, dass es sich schnell herumgesprochen hätte, wenn er einen diplomatischen Erfolg erwähnt hätte, und es sei sein Bestreben gewesen, genau das zu vermeiden, um keine falschen Hoffnungen zu wecken. Außerdem habe ihn inzwischen der Verdacht beschlichen, dass die Verhandlungen ein wenig zu gut liefen.
Jonatan unterbrach sie. «Was hat er also unternommen?»
«Alle Teilnehmer wohnten im selben Hotel, und es war riskant, sich während solch sensibler Verhandlungen gemeinsam mit anderen in der Lobby sehen zu lassen.» Maryam legte eine kurze Pause ein, um Kraft zu sammeln. «Vater suchte nach Ostrovskij, doch in seinem Zimmer fand er ihn nicht. Stattdessen entdeckte er ihn im Konferenzsaal mit Abgeordneten des syrischen Regimes, wo sie gerade ein Geschäft miteinander abschlossen. Mein Vater stand vor der Tür und hörte alles mit.»
«Lass mich raten, es ging um den Verkauf von Thermitwaffen?»
«Sie planten eine komplette Neuauflage des Krieges. Die Syrer hatten die Waffenruhe gebraucht, um ihre Truppen im Feld neu zu formieren – nicht, um dem Frieden näher zu kommen.»
«Wie hat dein Vater reagiert?»
«Natürlich war er enttäuscht, doch vor allem hatte er Angst. Es blieb ihm keine andere Wahl, als zurückzuschlagen.»
«Ohne jemandem davon zu erzählen oder die Informationen bestätigen zu lassen?»
«Dazu war keine Zeit. Während einer Verhandlungspause buchte er einen Flug nach Neu-Delhi, denn es gab nur einen Weg, einen erneuten Einsatz von Thermitwaffen zu verhindern. Er musste Einfluss auf ein Geschäft nehmen, das für Ballisticheskiy noch wichtiger war.»
«Indien», folgerte Jonatan.
«Mein Vater kontaktierte den indischen Verteidigungsminister und überzeugte ihn davon, Unternehmen aus der Bewerberliste zu streichen, die über Thermitwaffen geforscht oder sie sogar entwickelt hatten. Als Ostrovskij davon erfuhr, zogen sie die Übereinkunft zur Waffenruhe sofort zurück.»
«Wann fiel der Verdacht auf deinen Vater?», wollte Jonatan wissen.
«Schwer zu sagen. Aber er hatte sich schon gedacht, dass sein Hotelzimmer verwanzt war und sein Telefon abgehört wurde. Er sammelte Beweise für Ostrovskijs Handel mit Thermitwaffen, wobei ihm ein Offizier der regierungstreuen Truppen half, der den erneuten Einsatz dieser Waffen im Konflikt verhindern wollte. Durch ihn erhielten wir Zugang zu einer Datenbank, die ursprünglich in Zusammenarbeit mit Ballisticheskiy angelegt worden war.»
«Was für Informationen wurden in der Datenbank gespeichert?»
«Das ist alles auf dem USB-Stick. Ballisticheskiy hatte einen Server im syrischen Verteidigungsministerium.»
«Wie ist das möglich?»
«Das ist eine lange Geschichte. Was mein Vater auf diesem Server fand, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen: Ostrovskij hatte viel Geld eingesetzt, um seine Konkurrenten überwachen zu lassen, allen voran die schwedische Firma Hökbergs und das deutsche Unternehmen Sturm. Sie hatten eine Kartei über Mitarbeiter, Forscher, Vorstandsmitglieder und deren politische Vernetzungen angelegt. Zum Beispiel fanden wir Bilder, die jemanden vom schwedischen Geheimdienst in Stuttgart zeigen.»
«Hilft Susjinskij dabei, den Handel mit Thermitwaffen zu verschleiern?»
«Ich weiß nicht, welche Abmachung er mit Ostrovskij hat.»
Jonatan drückte das Gaspedal weiter nach unten und hörte, wie der Motor aufheulte. «Dieser Mann vom Geheimdienst, den du erwähnt hast. Woher weißt du, dass er Schwede ist?»
«In der Datei waren sogar seine Abflug- und Ankunftszeiten in Stockholm-Arlanda vermerkt.»
«Hast du Bettys Handy mitgenommen?»
«Es fühlte sich nicht richtig an, es einfach einzustecken», sagte Maryam, als sie es Jonatan gab.
«Sie bekommt es wieder.»
Er gab den Zifferncode ein, den er sich gemerkt hatte, als Betty ihr Smartphone im Bus entsperrt hatte. Während er den Pick-up lenkte, suchte er im Internet ein Bild des Säpo-Chefs Ragnar Nylund heraus.
«Ist er das?», fragte Jonatan und hielt Maryam das Handy hin.
Sie schaute kurz auf das Gesicht auf dem Display und nickte.
«Ist dir nicht der Gedanke gekommen, dass manche Kreml-Abgeordnete gar nichts von dem Thermitgeschäft wussten und womöglich sogar dagegen sind? Was, wenn die Verhandlung von vornherein nur ein Vorwand war, damit Ostrovskij Waffen an das Regime verkaufen konnte?»
«Das verstehe ich nicht», sagte Maryam und sah ihn fragend an.
«Denk doch mal nach – er war Dimitrijs Mann. Vielleicht haben sie die Verhandlungen von Anfang an als sinnlos eingestuft. Ostrovskij erklärte sich trotzdem bereit hinzufahren und nutzte seine Chance, Waffen zu verkaufen.»
Maryam sah ihn weiter an. «Das klingt wenig plausibel.»
«Warum nicht?»
«Ballisticheskiy würde niemals etwas hinter Dimitrijs Rücken aushecken.»
«Aber die Frage nach Thermitwaffen wurde für Ballisticheskiy erst dann heikel, als Indien die Bedingungen für den Auftrag änderte. Und im Prinzip sind Dimitrij Thermitwaffen doch egal, oder etwa nicht?»
«Was willst du damit sagen?»
Jonatan ließ seinen Blick an Maryam vorbeischweifen und richtete ihn dann wieder auf die Straße vor sich. «Die Mappe mit Informationen über dich kam aus der russischen Botschaft. Also muss es noch andere Fraktionen im Kreml geben, die mit dir sprechen wollen. Vielleicht hat Ostrovskij den Einsatz von Thermitwaffen geleugnet, und jetzt hat er Angst davor, dass du ihn verrätst.»
Es schien, als hätte die Dunkelheit über der Straße Maryam verschluckt, so still war sie.
«In der Hoffnung, dass du auftauchen würdest, wurde eine Mappe mit deinem Profil an die Botschaften geschickt. Wenn sie dir etwas hätten antun wollen, wären sie um einiges diskreter vorgegangen.»
Mit unsicherem Blick sah sie ihn an. «Wie konntest du wissen, dass die Person in Stuttgart der Geheimdienstchef war?»
«Das wusste ich natürlich nicht, aber als wir im Bus waren, hat Betty mit jemandem von der Säpo telefoniert. Es ist vermutlich dieselbe Person, die sie in den Hafen und zu dir gelotst hat.»
«Warum sollte der Geheimdienst solche Informationen an eine Journalistin weitergeben?»
«Aus genau den Gründen, die du gerade genannt hast», sagte Jonatan. «Susjinskij ist in die schwedischen Behörden eingedrungen, hat sie ausspioniert und Cyberattacken gegen sie geführt. Die Säpo will das ans Licht bringen und die Politiker wachrütteln, weiß aber, dass sie überwacht wird.»
«Aber wie …»
«Ich kann natürlich nur spekulieren, ausgehend von dem, was du gesagt hast und was ich gehört habe», unterbrach Jonatan sie. «Wen auch immer Betty angerufen hatte, diese Person konnte in sehr kurzer Zeit eine hochprofessionelle Polizeioperation auf die Beine stellen. Das Haus in der Nähe von Vidargården wurde von einer Spezialeinheit gestürmt. Bettys Kontakt musste also sehr weit oben angesiedelt sein.»
«Das klingt völlig verrückt», sagte Maryam.
«So ist das Leben oft.» Mit seiner rechten Hand öffnete Jonatan die Anrufliste von Bettys Handy und fand die Nummer, die sie im Bus angerufen hatte. «Wenn ich diese Nummer wähle, bekommen wir die Antwort.»
Zwar schien irgendetwas an Jonatans Vorschlag sie zu erschrecken, doch Maryam protestierte nicht.
«Ich will dir nur helfen. Wenn die schwedische Polizei wusste, dass du auf dem Weg hierher bist – warum haben sie dich dann nicht abgefangen?»
«Was machen wir jetzt?»
«Wir müssen die Wahrheit herausfinden.»