Kapitel
1

Ich hatte ein zwiegespaltenes Verhältnis zu meinem Wecker. Uns verband eine innige Hassliebe, von der sicherlich so einige Klatschmagazine berichten würden, wenn ich berühmt und mein Wecker … nun, kein Wecker wäre. Mir war schon klar, dass man keine allzu tiefe Bindung zu einem toten Gegenstand aufbauen sollte. Aber wenn so manche Jungs vor einem Spiel ihrem Football gut zureden konnten, damit er sie nicht hängen ließ, dann konnte ich auch eine persönlichere Beziehung zu meinem Wecker haben als andere Normalsterbliche.

Ja, womöglich war ich die einzige Teenagerin auf der nördlichen Hemisphäre, die noch einen klassischen Wecker benutzte und sich nicht wie jeder andere von seinem Handy und einer viel zu fröhlichen Melodie am Morgen tyrannisieren ließ. Aber mein Wecker war etwas Besonderes. Nicht Mit ihm kann man durch die Zeit reisen -besonders. Aber sentimental-besonders. Denn er hatte meiner Mutter gehört und war das Einzige, was ich von ihr besaß. Er war schwarz und mit Hunderten Sternen und Planeten bedruckt, die an vielen Stellen bereits abgekratzt und verblasst waren, da er um einiges älter war als ich, bestimmt schon dreißig Jahre alt. Doch er klingelte noch immer jeden Tag verlässlich zweimal. Einmal, wenn ich wirklich aufstehen sollte. Und einmal, wenn ich wirklich ins Bett gehen sollte.

Es war albern, das wusste ich, aber für mich fühlte es sich jedes Mal so an, als würde mir meine Mutter in Form des Weckers Guten Morgen und Gute Nacht sagen – bevor ich sie entweder müde grunzend von meinem Nachttisch warf oder hellwach ihren Kopf tätschelte. Denn ich war wirklich nicht gut darin aufzustehen. Und noch schlechter darin, schlafen zu gehen.

»Du bist ja immer noch wach!« Mein Vater steckte den Kopf durch die Tür, die ich unvorsichtigerweise nur angelehnt hatte. »Es ist halb eins, Billie!«

»Ich weiß, Dad. Ich habe bereits im Kindergarten gelernt, die Uhr zu lesen«, sagte ich freundlich und stützte mich auf die Ellenbogen, damit ich ihn über das Ende meines Bettes hinweg besser sehen konnte. Es war neu, gerade heute frisch zusammengeschraubt, und knarzte bei jeder meiner Bewegungen. Als müsse das Holz sich erst noch an seine neue Umgebung gewöhnen. Da hatten wir etwas gemeinsam. »Und was machst du noch hier? Musst du nicht auf der Arbeit sein?«

Mein Vater war Astrophysiker und arbeitete meistens nachts – was mir mehr Raum gab, länger aufzubleiben als ich sollte, und ihm weniger Raum, Dinge auf dem Herd anbrennen zu lassen, da er meistens das Mittagessen verschlief. Es war also eine Win-win-Situation.

»Ich bin praktisch auf dem Weg dorthin«, murmelte er und betrachtete mich stirnrunzelnd, bevor sein Blick durch mein nur von einer Nachttischlampe erhelltes Zimmer huschte.

»Es ist eine neue Stelle. Macht bestimmt keinen guten Eindruck, wenn du zu spät kommst«, sagte ich scheinheilig.

»So wie es keinen guten Eindruck macht, wenn du morgen an deinem ersten Schultag mitten im Unterricht einschläfst«, erinnerte er mich. »Das mögen sie in keinem der fünfzig Bundesstaaten.«

Er musste es ja wissen. Er hatte vermutlich schon in jedem einzelnen gewohnt. Bei mir waren es immerhin schon sieben gewesen.

»Ich bin nicht müde. Das muss der Jetlag sein.«

Er schnaubte, doch seine Mundwinkel zuckten. »Netter Versuch. In Houston ist es schon halb drei. Dort solltest du also erst recht schlafen.«

Mist. Ich hatte vergessen, dass es in Kalifornien immer früher war als in Texas. Seufzend ließ ich mich zurück in die Kissen fallen und warf die Arme über mein Gesicht.

»Ich bin nervös, okay?«, nuschelte ich. »Alles ist fremd, niemand kennt mich – schon wieder. In diesem Kaff gibt es mehr Bäume als Menschen. Und ich fühle mich in diesem Haus noch nicht wirklich wohl. Es ist nicht sonderlich hübsch hier und es riecht nach Mottenkugeln. Da helfen die Ausdünstungen der frischen Farbe auch nicht. Das alles ist keine optimale Atmosphäre für eine zerbrechliche, unsichere, hormongesteuerte Teenagerin wie mich.« Ich fuchtelte mit den Händen theatralisch in Richtung Decke, bevor ich sie wieder geräuschvoll auf mein Gesicht klatschen ließ.

Ich hörte meinen Vater leise lachen und im nächsten Moment spürte ich, wie die Matratze an meinem Fußende absackte und er aufmunternd mein Bein drückte. »Na, wenigstens gibst du dir Mühe und hast dein Zimmer schon richtig gemütlich eingerichtet«, bemerkte er mit einem sarkastischen Unterton.

Ich linste zwischen meinen Fingern hindurch, um gerade noch mitzubekommen, wie Dads Blick vielsagend von meiner noch schirmlosen Nachttischlampe zu dem braunen Kistenstapel an der bilderlosen Wand schwenkte. Mein noch eingerollter Teppich lag unter dem Fenster, das zu unserem verwilderten Vorgarten hinausführte, daneben stand mein für morgen gepackter Rucksack. »Billie, hast du überhaupt eine einzige Kiste ausgepackt?«

»Ja.« Die mit meinem Wecker und meinen Büchern. Ich hatte meine Prioritäten.

»Du hattest den ganzen Tag Zeit, auszupacken und dein Zimmer einzurichten …«, erinnerte er mich sanft.

»Ja, aber ich war zu beschäftigt damit, mich selbst zu bemitleiden. Das ist ein Fulltime-Job.« Ich ließ die Hände sinken und richtete mich auf, sodass ich mich gegen das Kopfteil des Bettes lehnen konnte. »Ich meine … Dad, ich möchte ja nicht überkritisch klingen, aber wie lange, denkst du, bleiben wir diesmal wohl? Lohnt es sich wirklich auszupacken?«

Seufzend fuhr mein Vater sich mit der Hand übers Gesicht, wobei er die wenigen Falten glättete, die sich um seine Augen auffächerten.

Dad war noch recht jung dafür, dass er eine siebzehnjährige Tochter hatte. Er hatte vor einem Monat seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert, sah aber trotzdem noch immer aus wie ein sehr, sehr jung gebliebener Jude Law. Nur mit etwas weiter auseinanderstehenden Augen und ohne die angegrauten Haare. Dad scherzte immer, dass seine Haut noch so faltenfrei war, weil sie zu wenig Sonnenlicht abbekam.

»Billie, ich weiß, dass das alles äußerst suboptimal ist«, sagte er leise und drückte meinen Fuß durch die Decke hindurch. »Gerade, weil es doch dein letztes Schuljahr ist und du gerade angefangen hattest, dich in Houston wohlzufühlen. Und ich weiß, dass dir Großstädte eigentlich besser gefallen als Kleinstädte, aber … mein Job ist mein Job. Sie schicken mich dorthin, wo sie mich hinschicken. Das kann ich nicht ändern, auch wenn ich es mir wirklich wünschen würde. Aber das Projekt geht mindestens ein Jahr, ich kann dir also versprechen, dass wir für dein gesamtes Senior Year hierbleiben.« Er seufzte schwer. »Und es tut mir ehrlich leid, dass du schon wieder neu anfangen musst.«

Ich biss mir auf die Unterlippe und nickte steif. Ich verstand es ja. Das war ja das Schlimme daran! Mir war klar, dass Dad nichts dafürkonnte, dass wir schon wieder umgezogen waren. Ich wusste, dass er sein Bestes gab, aber auch, dass er das Geld brauchte, um mir eine Collegeausbildung finanzieren zu können. Er war alleinerziehend, arbeitete Vollzeit, musste ja selbst immer neu anfangen … Das alles machte es so verdammt schwer, vernünftig wütend auf ihn zu sein! Er suchte sich schließlich nicht aus, wohin er versetzt wurde. Aber ausgerechnet hierhin? In ein 11 000-Seelen-Städtchen mit dem furchtbar niedlichen Namen Amber Lake , das auf halber Strecke zwischen dem Yosemite und Kings Canyon Park lag und somit womöglich den schlechtesten Internetempfang in ganz Kalifornien besaß?

Die nächste größere Stadt war Fresno, zum Teufel! Fresno war so langweilig, dass sie ein Eschenblatt auf ihre Stadtflagge hatten drucken müssen. Weil es schlichtweg nichts Interessanteres über diese Stadt zu wissen gab, als dass Fresno das spanische Wort für Esche war!

Und Dad hatte recht. Großstädte waren mir lieber. Dort war es so viel leichter, in der Masse unterzugehen. Sich unsichtbar zu machen und ein paar andere Außenseiter zu finden, die es nicht komisch fanden, dass man innerhalb von sieben Jahren fünfmal die Schule gewechselt hatte und der Vater jeden Tag bis mittags schlief, weil er die Nacht hindurch den Sternenhimmel beobachtet hatte. In Großstädten gab es meistens jedes Jahr gleich mehrere neue Schüler und Schülerinnen, sodass es leichter war, Anschluss zu finden und nicht von allen angestarrt zu werden, als wäre man ein Pferd mit drei Köpfen.

Doch in diesem Kaff … Jeder würde wissen, dass ich neu war. Jeder würde über mich urteilen. Jeder würde die nächsten Tage über mich reden, weil mein Dad und ich schlichtweg das Spannendste waren, was dieser Stadt seit Langem passiert war. Was wirklich nicht für Amber Lake sprach, denn ich war in etwa so aufregend wie Fresno.

Mein Magen flatterte und nervös zog ich an einem Faden meiner Bettwäsche herum, während das Licht der Nachttischlampe flackerte. Mit dem Strom verhielt es sich hier offenbar genauso wie mit dem Internet.

»Dad, es ist schon okay«, murmelte ich und stupste mit dem Fuß gegen seine Hüfte. »Ich verstehe es. Wirklich. Und das ganze Senior Year … ist doch toll.« Ich atmete tief durch und hob einen Mundwinkel. »Ich werde das Beste draus machen«, versprach ich und knibbelte an meinem Daumennagel, da ich den Faden aus der Decke gezogen hatte. »Und die Kisten auspacken. Morgen. Heute bin ich noch ein wenig nervös und fühle mich unwohl, okay? Weil ich keine Ahnung habe, was für Hinterwäldler hier wohnen und ob sie mich mögen oder schrecklich finden werden.«

»Ach, ich bin mir sicher, dass sie sehr freundlich sind – solange du sie nicht Hinterwäldler nennst«, meinte er, stand auf und gab mir einen Kuss auf den Scheitel. »Wenn es dir hilft: Ich find dich ziemlich fesch.«

Ich verdrehte die Augen, musste jedoch lächeln. »Das musst du sagen, du hast mich gezeugt! Und niemand benutzt mehr das Wort fesch

»Ich benutze es.«

»Ja, weil du den Bezug zur Realität verloren hast und dein bester Freund im wahrsten Sinne des Wortes der Mond ist«, meinte ich trocken. »Es könnte dir wirklich nicht schaden, diesen Neuanfang dafür zu nutzen, auch mal tagsüber durch die Straßen zu wandern. Selbst ein paar Freunde, oder – Gott bewahre! – Freundinnen zu finden.«

Mein Vater lächelte breit, kratzte sich jedoch unsicher den Nacken. »Wo denkst du hin? Du bist meine beste Freundin. Und apropos Mond: Hast du mal aus dem Fenster geschaut?«

Ich nickte. »Der Sternenhimmel ist lächerlich schön hier, oder?«

»Ja. Definitiv eine Verbesserung zu Houston. Andromeda anstelle von Wolkenkratzern am Himmel zu sehen hat auch etwas für sich.«

Wieder nickte ich und rieb mir über meinen noch immer rumorenden Magen, während mein Blick zur erneut flackernden Lampe glitt. »Wenn wir einen Stromausfall haben, ist es hier zappenduster«, sagte ich leise.

Es gab keine Laternen vor der Tür. Keine Straßenbeleuchtung. Das einzige Licht spendeten die Sterne und der Mond. Mir machte die Dunkelheit nichts aus. Eigentlich mochte ich sie sogar ganz gern. Sie gab einem so viel Raum zum Nachdenken und Durchatmen. Aber es war dennoch merkwürdig, plötzlich ganz nah an einem Waldstück zu wohnen, in dem man nachts nicht die eigene Hand vor den Augen erkennen konnte.

»Na, dann hoffen wir, dass es nicht so weit kommt«, meinte Dad und schaltete im nächsten Moment meine Nachttischlampe aus. »Und jetzt schlaf!«

Seufzend zog ich die Decke bis zu meinem Kinn. »Ist ja schon gut – und hey, Dad: Kann ich morgen das Auto nehmen?«

»Ja, ich sollte pünktlich wieder hier sein. Aber fahr vorsichtig. Du kennst die Straßen hier nicht.«

Ich verdrehte die Augen. »Denkst du ernsthaft, dass es gefährlicher ist, in diesem autoleeren Dorf zu fahren, als auf dem siebenspurigen Highway in Houston?«

»Wo du recht hast …«, meinte er nachdenklich, bevor ein schmaler Streifen Licht noch einmal mein Bett erleuchtete, als er die Tür zum Flur öffnete. »Schlaf schön, Billie. Und mach dir keine Sorgen. Morgen wird bestimmt schön. Die Frau an der Supermarktkasse heute Abend war zumindest sehr nett.«

»Ja. Nur schade, dass sie nicht mit mir zur Schule gehen wird«, wisperte ich, bevor er die Tür schloss.

Auf der Amber Lake High gab es keine Schuluniformpflicht. Jeder durfte sich kleiden, wie er wollte und seiner Persönlichkeit Ausdruck verleihen. Es war furchtbar.

Ich hatte das letzte halbe Jahr über jeden Tag genau gewusst, was ich anziehen musste. Doch an diesem Morgen stand ich vor meinem Schrank, der zurzeit aus drei Pappkartons bestand, und Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, während mein Blick über meine Kleidungsauswahl glitt.

Was trugen die Leute hier denn so? Vielleicht wuselten sie tagtäglich in voller Jack-Wolfskin-Montur durch die Wälder und Straßen, immer auf das nächste Outdoor-Abenteuer vorbereitet. Oder vielleicht waren ein Bärenfell um die Schultern und eine Waschbärenmütze auf dem Kopf ja angesagt? Oder lebten hier reiche Schnösel, die nur mit Designerhandtaschen und Gucci-Brotdosen in die Schule gingen?

Stöhnend legte ich den Kopf in den Nacken und kniff die Augen zusammen, bevor ich schließlich nach meiner Lieblingshose aus rotem Cord und einem langärmeligen weißen Shirt griff. Das erschien mir am unproblematischsten. Meine langen dunklen Haare fasste ich zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammen, damit ich nicht versucht war, sie mir ständig nervös aus dem Gesicht zu streichen.

Man sollte meinen, dass ich nach acht verschiedenen ersten Schultagen in den letzten elf Jahren nicht mehr nervös war. Aber es war jedes Mal die reinste Qual für mich. Nicht zu wissen, was mich erwartete. Wer mich erwartete. Es war hart, immer die Neue zu sein.

Ich blickte auf den Wecker und rannte fluchend mit geschultertem Rucksack in den Flur. Es war bereits Viertel nach sieben und ich brauchte allein zwanzig Minuten zur Schule, die um acht begann, und musste mich vorher noch bei der Schulleitung melden.

Auf der Treppe traf ich Dad, der mich gähnend anlächelte.

»Perfektes Timing. Viel Erfolg heute. Kaffee steht auf dem Tisch, Autoschlüssel liegt in der Schüssel an der Haustür, Geld fürs Essen auch. Und du musst wirklich nicht nervös sein: Sei einfach du selbst, dann wird es bestimmt klasse.«

Ich zog eine Grimasse. Von welchem Selbst sprach er? Dem nervösen, das alles im Umkreis von drei Metern umwarf, wenn zu viele Blicke auf ihm lagen? Oder dem etwas zu kühlen, distanzierten, zu dem ich wurde, wenn Leute mir unangenehme Fragen stellten?

Oh Gott, Billie, das ist lächerlich. Schluss jetzt . Ich musste wirklich aufhören, so zu denken. Ich war nicht schüchtern. Wenn man so oft wie ich dazu gezwungen wurde, neue Menschen kennenzulernen, konnte man sich Zurückhaltung schlichtweg nicht leisten. Ich hatte Übung darin, die Neue zu sein. Ich würde freundlich und souverän sein und mir keine einzige Peinlichkeit erlauben.

»Danke«, flüsterte ich also nur. »Wie war die Arbeit?«

»Erzähl ich später, zu müde«, sagte er mit einem weiteren Gähnen, drückte er meine Schulter und verschwand in seinem Zimmer. Sicherlich, um auf der Stelle ins Bett zu fallen.

Ich hastete in die Küche, in der sich ebenfalls die Kisten stapelten. Einzig und allein die Kaffeemaschine und der Toaster waren bereits ausgepackt. Mein Vater wusste auch, Prioritäten zu setzen. Ich warf einen Rosinen-und-Zimt-Bagel in den Toaster, stürzte den Kaffee hinunter und saß keine fünf Minuten später im Auto, das Frühstück auf meinem Schoß, den Rucksack auf dem Beifahrersitz.

Das Haus, das Dad gemietet hatte, lag am Stadtrand, fast direkt am Amber Lake , dem See, dem die Stadt ihren Namen verdankte. Wenn man durch die eng beieinanderstehenden Bäume des kleinen Waldstücks sah, durch das ich nun fuhr, konnte man in der Ferne die Wasseroberfläche glitzern sehen. Die Sonne stand noch tief am Himmel und eine weiche Schicht weißen Nebels hing träge über dem von Wurzeln durchzogenen Boden. Einzelne Lichtstrahlen verfingen sich darin und brachten ihn wie tausend Diamanten zum Funkeln. Ich biss vom Bagel ab und beugte mich tiefer übers Lenkrad, um das Spektakel genauer bewundern zu können, während Dads alter SUV über den unbefestigten Weg holperte und das Navi mir verriet, dass ich in dreihundert Metern links abbiegen musste.

Es war so … still hier. Friedlich. Kein Baustellenlärm, kein Gehupe, keine gestressten Menschen, die den Gehweg entlanghetzten. Dad hatte recht. Es war nicht mit Houston zu vergleichen und echt atemberaubend schön hier. Vielleicht war eine Kleinstadt doch gar nicht so schlecht. Vielleicht würde der Tag wundervoll werden und ich beste Freunde fürs Leben finden.

Ich hatte meine Schuhe mit einer Doppelschleife versehen, damit ich nicht über die Schnürsenkel stolpern konnte. Ich hatte zwei Schichten Mascara aufgetragen, um mir etwas mehr Selbstbewusstsein zu geben. Ich hatte Kaffee und einen halben Bagel intus, also genug Koffein und Zucker zu mir genommen, um halbwegs intelligente Sätze von mir zu geben. Es gab gar nicht so viel, das schiefgehen und sicherlich nichts, was mich aus der Fassung bringen konnte. Ich war –

Ein helles, funkelndes Licht blitzte auf und blendete mich. Erschrocken kniff ich die Augen zusammen und ließ den Bagel fallen. Die Achsen quietschten und die Reifen schlitterten geräuschvoll über den Schotter, als ich die Bremse durchtrat … und im nächsten Moment ein ohrenbetäubender metallischer Knall mein Trommelfell zu zerfetzen drohte. Der Wagen kam ruckartig zum Stillstand und der Gurt schnitt mir schmerzhaft in die Schulter, als mein Oberkörper nach vorn geworfen wurde.

Mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren und ich umklammerte das Lenkrad so fest, dass meine Hände wehtaten. Mein Atem kam in zittrigen Schüben über meine Lippen und ich blinzelte mehrfach, um wieder besser sehen zu können. Doch noch immer tanzten gleißend helle und bunte Lichter vor meinen Augen, als hätte ich zu lang in die Sonne geguckt.

»Shit«, hauchte ich, presste die Handballen auf meine Augen und versuchte meinen Atem zu regulieren.

Was war das für ein Knall gewesen? Hatte ich etwas getroffen? Oh Gott, hatte ich jemanden getroffen?

Kalte Angst glitt zäh durch meine Adern und betäubte meinen Körper. Aber das konnte nicht sein, oder? Ich hatte überhaupt nichts gesehen! Kein Reh, keinen Menschen, nur Licht, das aus dem Nichts gekommen zu sein schien.

Ich riss mich zusammen, ließ zittrig die Hände sinken und bekam endlich einen vernünftigen Blick auf die Straße vor mir.

Sie war vollkommen leer. Ich sah nach links und rechts, rechnete damit, ein verletztes Tier oder irgendetwas am Wegrand zu entdecken … doch da waren nur Bäume und Laub. Nichts weiter. Möglicherweise war der Knall gar nicht von meinem Auto aus gekommen? Vielleicht war ein Baum umgefallen oder so was? Vielleicht hatte irgendetwas das Sonnenlicht merkwürdig reflektiert und mich geblendet und eine Sekunde später war … ein Baum entwurzelt worden? Okay, das hörte sich selbst in meinen Ohren merkwürdig an und ich hatte eine beeindruckend lebendige Fantasie …

Konzentriert atmete ich durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus, bevor ich den Wagen ausschaltete und den Gurt löste. Ich öffnete die Tür des SUVs, stieg aus und rieb mir abwesend über die schmerzende Schulter.

Woher zur Hölle war das Licht gekommen? Es dämmerte noch immer. Die Luft war kühl und die Sicht eher diesig. Vorsichtig blickte ich in das Waldstück, suchte nach irgendeinem Lebenszeichen, bevor ich um den Wagen herumging … und erstarrte. Mit offenem Mund sah ich auf die Motorhaube des Autos – in der eine deutliche Delle prangte. Mindestens so breit wie ein Basketball.

Dem Rest des Wagens ging es gut. Kein Riss auf der Windschutzscheibe, keine gebrochene Stoßstange. Aber diese Delle … Die war heute Morgen sicherlich noch nicht da gewesen!

»Scheiße«, hauchte ich erneut und sah hektisch zu allen Seiten. Ich hatte doch etwas angefahren! Aber was? Und wo zur Hölle war es?

Mit wackeligen Knien lief ich den Rand der Straße ab. Ich ging sogar ein Stück in den Wald hinein. Doch ich fand nichts außer ein paar abgebrochenen Ästen und aufgewühltem Laub. Was in einem Wald wahrlich nichts Seltsames war. Die Hand an der Stirn schüttelte ich den Kopf und kehrte zum Auto zurück, um die Delle näher zu betrachten. War sie doch schon da gewesen? Hatte Dad nur vergessen zu erwähnen, dass er … nun, offenbar einen Basketball gerammt hatte?

Nervös biss ich mir auf die Unterlippe und atmete tief durch. Alles war gut. Selbst wenn ich etwas angefahren hatte, offenbar war es noch quietschfidel genug gewesen, um schnell wegzulaufen.

Was das Licht betraf … keine Ahnung. Ich würde wohl einfach besser aufpassen müssen in Zukunft. Offenbar reflektierten die taufeuchten Blätter der Bäume hier ziemlich heftig.

Zufrieden mit meiner Einschätzung der Situation, lief ich erneut zur Fahrerseite … als mir auffiel, dass der Scheibenwischer verbogen war. Ich griff danach, rückte ihn wieder gerade … und blieb mit den Fingern an einem schwarzen Stofffetzen hängen, der sich an dem Gummi verfangen hatte. Es war dicker, weicher Stoff, ein wenig abgerieben, aber eindeutig Stoff. Das Tier, das über mein Auto geschlittert und seinen Basketballhintern in die Motorhaube geschlagen hatte, rannte also mit Pullover oder Mantel durch den Wald?

»Oh, Gott, ich dreh durch«, murmelte ich und steckte den Stofffetzen in meine Hosentasche. Der Stoff konnte von überall herkommen und ich sollte mich wirklich auf Wichtigeres konzentrieren. Zum Beispiel darauf, nicht an meinem ersten Tag an der neuen Schule zu spät zu kommen …