Kapitel
6

Ich konnte nicht schlafen.

Das war nichts Neues bei mir, aber diesmal hatte es einen spezifischen Grund: Der Mantel, der über meinem Schreibtischstuhl hing. Ash war nicht noch einmal vorbeigekommen, um ihn abzuholen – war dem Kerl nicht kalt geworden? –, also hatte ich Zeit gehabt, den restlichen Nachmittag damit zu verbringen, den Stofffetzen an den Mantel zu puzzeln und zu gucken, ob er passte. Leider war ich zu keinem klaren Ergebnis gekommen. Außer dem, dass ich bescheuert war und meine Zeit verschwendete.

Ich hatte Dad erzählt, dass die Delle einfach nach der Schule in der Motorhaube gewesen war und ich nicht wusste, woher sie kam. Aber was hätte ich auch sonst sagen sollen? Dass ein Phönix oder aber einer meiner Mitschüler mir in mein Auto geflogen oder gerannt oder was auch immer war? Sicher nicht.

Die leuchtenden Ziffern meines Weckers zeigten bereits halb drei an, doch ich bekam noch immer kein Auge zu. Ich würde morgen früh hundemüde sein.

»Gott, du bist lächerlich, Billie«, flüsterte ich, drehte mich auf den Rücken und legte eine Hand an die Stirn. Und ja. Selbstgespräche waren heute bereits das zweite Anzeichen dafür, dass ich verrückt wurde.

Genervt von mir selbst, boxte ich mein Kissen in Form und wälzte mich mit dem Kopf darauf herum, um eine gemütlichere Kuhle zu erschaffen – als ein gleißender Lichtblitz mein Zimmer erhellte und mich zusammenzucken ließ. Augenblicklich saß ich kerzengerade im Bett. Es war derselbe Blitz gewesen, der mich heute Morgen fast einen Unfall hatte bauen lassen.

Gewitterte es? Ich hörte gar keinen Regen oder Donner.

Ich schlug die Decke zurück und tapste mit nackten Füßen zum Fenster, das ich vorsichtig hochschob, bevor ich in die Nacht spähte. Die Luft, die mir entgegenwehte, war kühl, aber nicht feucht. Da waren keine Tropfen, die auf das Fensterbrett fielen. Nicht einmal eine einzige Wolke war zu entdecken. Der Sternenhimmel war so klar, dass das Universum unendlich wirkte. Ich atmete tief ein, füllte meine Lunge mit der klaren, sauberen Luft, von der ich in Houston nur hatte träumen können, und ließ den Blick über das nachtschwarze Firmament gleiten. Mein Vater hatte mich früher oft mit auf die Sternwarte genommen. Er hatte immer behauptet, weil er den Gedanken nicht ertrug, mich länger als ein paar Stunden nicht zu sehen. Dass es sich dann anfühle, als wäre er Lichtjahre von mir entfernt. Heute wusste ich, dass ihm als alleinerziehender Vater mit schlecht bezahltem Wissenschaftlerjob schlichtweg das Geld für einen Babysitter gefehlt hatte und er mich nicht allein zu Hause lassen konnte. Doch es war egal, denn ich hatte die Zeit mit ihm allein geliebt. Die Abende, an denen er mir die riesigen Teleskope erklärt hatte, mit deren Hilfe er den Sternenhimmel untersuchte. An denen er mir all die verschiedenen Stern-Konstellationen gezeigt und aufgemalt hatte. Und noch heute liebte ich es, nachts in den Himmel zu starren. Weil er etwas Vertrautes an sich hatte … und ich mir so furchtbar klein vorkam, wenn ich den Kopf in den Nacken legte und nach der Venus suchte oder dem großen Wagen. Ich war völlig unbedeutend, winzig im Vergleich zu dem, was dort draußen lag. Und seltsamerweise beruhigte mich der Gedanke immer, genauso wie es die vertraute Dunkelheit und Stille taten. Denn wenn ich klein war, war es jeder Fehler, den ich machte, auch. Egal wie monumental und schrecklich er mir vorkommen mochte.

Ich entdeckte zielsicher die Venus, die heute Nacht mit ihrem gelblichen Schimmer leicht zu erkennen war, und suchte dann nach Kassiopeia und Andromeda. Den Lieblingssternbildern meines Vaters, die direkt nebeneinanderlagen. Kassiopeia und ihre Tochter Andromeda … beide laut griechischer Mythologie nur für kurze Zeit vereint. Denn die eitle Kassiopeia hatte mit der Behauptung, schöner als die Töchter des Meeresgottes Nereus zu sein, die Götter erzürnt. Poseidon schickte ein Seeungeheuer in ihre Stadt, das nur mithilfe der Opferung ihrer unschuldigen Tochter Andromeda zu besiegen sei. Doch Andromeda wurde unverhofft gerettet, ihre Mutter jedoch für immer für ihren Hochmut bestraft, indem die Götter sie kopfüber an das Firmament bannten.

Mein Dad hatte mir die Geschichte früher immer zum Einschlafen erzählt. Mir erklärt, dass meine Mutter genauso schön gewesen sei, wie Kassiopeia von sich selbst gedacht hatte. Nur sei meine Mom deutlich bescheidener gewesen.

Ich würde ihm da vertrauen müssen, denn ich hatte meine Mutter nie kennengelernt. Sie war bei meiner Geburt gestorben und nicht einmal ein Foto existierte von ihr. Weil die Beziehung meiner Eltern sehr kurz gewesen sei. Was ich frei mit Ich war Unfall eines One-Night-Stands übersetzte.

Doch jedes Mal, wenn Dad mir seine Lieblingssternbilder am Himmel gezeigt und erklärt hatte, dass Kassiopeia am Himmel noch immer darum weinen würde, so früh von ihrer Tochter getrennt worden zu sein, hatte ich mir vorgestellt, dass meine Mutter auch an den Sternenhimmel gewandert war. Und dort jeden Tag sehnsüchtig zu mir hinabsah und bereute, mich nicht kennengelernt zu haben.

Bei dem Gedanken daran zog sich meine Brust enger zusammen. Ich hatte seit Ewigkeiten nicht mehr über Kassiopeia und Andromeda nachgedacht und es mir eigentlich zur Gewohnheit gemacht, es nicht mehr zu tun. Denn ich konnte nichts daran ändern, dass meine Mutter tot war – und da ich sie nie gekannt hatte, konnte ich sie auch nicht wirklich vermissen. Außerdem reichte mir mein Dad völlig. Mir hatte nichts in meiner Kindheit gefehlt. Abgesehen von einem Ort, den ich Zuhause nennen konnte vielleicht.

Also konzentrierte ich mich stattdessen auf den Mond, der tief über den Baumwipfeln hing. Er kämpfte als dünne Sichel gegen die Finsternis an und warf silbriges Licht auf den dahinterliegenden See, von dem ich nur eine kleine Ecke erkennen konnte. Wie groß war der wohl? Und wo genau fand ich den Bernstein, von dem die anderen heute Mittag geredet hatten? Ich würde die nächsten Tage auf Erkundungstour gehen müssen. Ich könnte meine Kamera mitnehmen und ein paar Bilder schießen. Auf diesem Wege lernte ich meistens meine neue Umgebung kennen. Aber meine oberste Priorität war wohl doch erst mal das Schlafen.

Ich wollte das Fenster gerade wieder schließen, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Verwundert wandte ich den Kopf, blickte in unseren verwilderten Vorgarten, der direkt an den Wald grenzte … und erstarrte.

Da stand jemand und sah zu mir hoch. Im Schatten der Bäume. Zwei große Gestalten. Ich blinzelte und presste eine Hand auf mein wild klopfendes Herz. Denn die Waldgrenze war düster. Doch die Gestalten … die Gestalten waren schwärzer als die Nacht. Sie schienen geradewegs aus dem Boden zu sprießen, hatten weder klaren Anfang noch Ende. Und auch, wenn ich hätte schwören können, dass sie sich gerade noch bewegt hatten, standen sie jetzt stocksteif.

Mein Nacken prickelte und mein Puls pochte heftig an meinem Hals. Ich konnte keine Gesichter ausmachen, hatte keine Ahnung, warum ich dachte, dass sie hochsahen, aber … Moment, waren das überhaupt Gestalten? Oder waren es nur die Schatten der im Wind wiegenden Bäume, sodass ich deswegen gedacht hatte, sie würden sich bewegen?

Mit verengten Augen beugte ich mich vor … als ein flirrendes Licht in den Himmel stieg. Ich zuckte zusammen und stolperte vom Fenster zurück. Das Licht kam diesmal nicht vom Waldrand, sondern aus Richtung des Sees. Und nein, es stieg nicht in den Himmel, es sprang über das Wasser hinweg. Wie ein Stein, den man darüberflippen ließ. Die helle Spiegelung ließ es nur so aussehen, als schwebe es. Was zur Hölle …?

Mein Magen zog sich zusammen und das Prickeln aus meinem Nacken breitete sich auf meinem ganzen Körper aus. Tanzte über meine Haut wie das flimmernde Licht über das Wasser. Denn es war wunderschön. So unendlich warm. Es brach durch die Dunkelheit wie ein Hoffnungsschimmer durch größtes Leid. Ich wünschte, ich könnte es mit den Händen fangen. Hatte das Bedürfnis, loszurennen. Die Treppen hinunter, aus dem Haus, den flirrenden Diamantsprenkeln aus Licht entgegen. Denn es machte mein Herz schwerelos.

Mit trockenem Mund trat ich vor, während ein leichter Wind durchs Fenster und in meine Haare fuhr. Doch der Wind war nicht allein. Er brachte ein Knistern mit sich. Ein Knistern, das ich nicht hörte, sondern spürte. Das sich anfühlte, wie Brausepulver auf meiner Zunge … nur dass ich es in meinem ganzen Körper empfand.

Denn es war noch immer still. Noch immer unendlich leise. Und das Licht wurde heller. Dichter. Ich konnte keine Gestalten ausmachen. Viel eher war es ein Flackern, als hätte jemand Dutzende Fackeln auf dem See entzündet, die nun zusammengeführt wurden. Heller wurden, bis ich blinzeln musste und … es war verschwunden.

Mit offenen Lippen drängte ich mich gegens Fenster, steckte den Kopf hindurch. Doch der See lag wieder in Dunkelheit. Nur noch das kühle, silberne Mondlicht spiegelte sich darin. Mein Blick zuckte zum Waldrand, doch auch die schwarzen Gestalten konnte ich nicht mehr entdecken. Was zum …?

Ungläubig riss ich das Fenster weiter auf, rieb mir über die Augen, starrte erneut zum Waldrand … alles blieb dunkel. Alles blieb ruhig. Da war nichts außer unser Garten, das Auto, Bäume und ein wenig Wasser.

Drehte ich jetzt völlig am Rad, oder was? Gab es in Kalifornien Polarlichter!? Andere derartige Naturphänomene?

»Shit. Du brauchst wirklich Schlaf, Billie«, wisperte ich zu mir selbst und suchte ein letztes Mal die Umgebung ab, bevor ich kopfschüttelnd das Fenster schloss.

Der Wald war ein Wald. Die Lichter eine Reflexion auf dem See. Oder vielleicht war es ja auch der Bernstein, von dem die anderen mir erzählt hatten, der Licht in einem bestimmten Winkel merkwürdig reflektierte? Ich würde die Tage einfach hingehen und mich selbst davon überzeugen müssen.

Ich atmete tief durch, legte mich ins Bett, versuchte mich zu beruhigen … doch glaubte meinen eigenen Ausreden nicht. Denn das Licht mochte verschwunden sein. Die Schatten ebenso. Aber das Knistern der Luft. Das Prickeln auf meiner Haut. Das warme Gefühl in meiner Brust. Das spürte ich noch immer. Überall. Und es verschwand erst, als ich in einen unruhigen Schlaf fiel.

»Ich hab doch gesagt, der Wald ist gruselig!«, meinte Kala am nächsten Morgen auf dem Parkplatz, als ich ihr von den Lichtern und Schatten erzählte … auch wenn ich sie als einen Traum von mir verkaufte. Aber es erschien mir wie die einzige Möglichkeit, davon erzählen zu können, ohne den Vogel gezeigt zu bekommen. Und ich musste es jemandem erzählen. Außerdem hatte ich noch nicht ganz ausgeschlossen, dass es nicht wirklich einfach nur ein Traum gewesen war. Ich log also nicht einmal.

»Ja, ist er wirklich ein bisschen«, gab ich zu und lehnte mich gegen die eingedellte Motorhaube, während ich den Blick über die umherstehenden Menschen schweifen ließ. »Vielleicht … muss ich mich einfach ans neue Haus gewöhnen.«

»Ziemlich sicher. Denn ganz ehrlich: Es kann so dunkel in Amber Lake werden«, fuhr Kala fort und puhlte an einem Farbfleck auf ihrer Jeans. »Die meisten Großstädter sind es nicht gewöhnt. Weil bei ihnen sonst überall Straßenlaternen stehen oder Leuchtreklame herumhängt. Sie brauchen ein paar Wochen, um damit klarzukommen. Mich wundert es also gar nicht, dass du nicht gut geschlafen hast. Was du brauchst, sind Vorhänge!«

Ich lachte. »Nicht nur die. Mein Zimmer sieht zurzeit aus, als habe mich jemand ausgeraubt und mir im Gegenzug ein paar braune Pappkartons geschenkt. Aber ich bin einfach nicht gut darin, zu dekorieren. Ich kann ganz hübsche Fotos machen, aber ein hübsches Zimmer …«

Kalas Augen begannen zu leuchten und sie presste dramatisch beide Hände auf ihre Brust. »Eine leere Leinwand! Oh bitte, lass mich dekorieren! Ich liebe so einen Mist. Wenn ich nicht weltberühmte Künstlerin werde, dann definitiv Innenarchitektin. Lass uns hübsche Dinge shoppen gehen und deine Kisten gemeinsam ausräumen. Gemeinsam macht so was immer mehr Spaß! Bitte, bitte?«

Ich war kein Fan von Shopping – außer von Büchern –, aber mit Kala Deko zu kaufen, war definitiv besser, als das Wochenende allein zu verbringen. Und vielleicht fühlte ich mich wohler in Amber Lake, wenn ich ein schön eingerichtetes Zimmer hatte. »Sehr gerne!«, sagte ich deswegen lächelnd. »Wir könnten vielleicht sogar nach Fresno fahren? Du weißt schon, ein wenig aus der Stadt rauskommen?«

»Oh«, machte Kala und das Lächeln fiel von ihrem Gesicht, bevor sie sich mit zwei Fingern gegens Kinn tippte. »Ja, weißt du, die Fahrt nach Fresno ist furchtbar lang. Wollen wir nicht einfach hier einkaufen? Es gibt einen süßen Möbelladen mit etlichen Dekoartikeln nahe der Hauptstraße. Da kenn ich mich gut aus.«

Mein Herz sank bei der Vorstellung, in Amber Lake festzuhängen. Ich vermisste den Großstadttrubel. Aber ich wollte Kala nicht direkt wieder verscheuchen, also nickte ich nur. »Klar. Was immer du willst.«

»Wundervoll.« Begeistert klatschte sie in die Hände. »Oh, das wird toll! Wie groß ist dein Zimmer? Was hast du schon? Ach, egal, ich muss es mit eigenen Augen sehen. Du kannst mir heute Nachmittag Bilder schicken.« Sie sprach einfach weiter, erzählte mir von Farbschemata, die ihr gefielen, fragte mich, ob ich dafür offen wäre, eine Wand zu streichen und was meine Lieblingsfarbe sei. Ihr Enthusiasmus war ansteckend und als sie vorschlug, eine optische Illusion auf meinen Fußboden zu malen, sodass jeder, der in mein Zimmer kam, dachte, dass er in ein großes, schwarzes Loch fiel, musste ich lachen.

»Ich glaube nicht, dass mein Dad oder aber auch unsere Vermieterin es so cool finden würden, wenn ich direkt in der ersten Woche im neuen Haus den Boden verschandele«, gab ich zu bedenken.

»Ah, vermutlich nicht. Die Menschen sind in dem Bereich doch sehr engstirnig«, gab Kala grinsend zu. »Aber hey, ich kann dir ein Bild malen! Und du meintest, dass du hübsche Fotos machen kannst? Wir können dir eine Fotowand gestalten oder so. Oder eine Karte an deine Wand malen und du hängst Bilder von den Orten auf, an denen du schon gewohnt hast. Oh, meine Ideen sind endlos!«

Ich lächelte breit und mein Herz wurde leichter. Vielleicht war Amber Lake als Wohnort gar nicht so schlecht. Vielleicht war es doch besser als eine Großstadt. Denn ich fing an, mich ernsthaft aufs Wochenende zu freuen. Die Stadt war … irgendwie besonders.

Bei meinem letzten Gedanken fiel mein Blick auf Ash, der gerade aus einem rostigen Truck ausstieg, den er keine zehn Meter weiter geparkt hatte.

Mein Herz sprang gegen meinen Brustkorb und mein Zeigefinger kribbelte dort, wo er mir gestern den Stromschlag verpasst hatte, während ich den Blick über ihn gleiten ließ. Nach irgendetwas … Merkwürdigem suchte. Einem weiteren Riss in seiner Hose vielleicht. Doch die schwarze Jeans, die er heute trug, war makellos, wenn auch etwas zerknittert. Ebenso wie sein hellblaues T-Shirt.

Er sah müde aus. Dunkle Ringe zierten seine Augen, über denen er die Brauen zusammengezogen hatte, und seine Haare waren so durcheinander, als habe er sie seit Tagen nicht mehr gekämmt. Er besaß also weder Bügeleisen noch Bürste. Oder vielleicht war das auch einfach Teil seines Ist-mir-alles-egal-Stils. Er schlug mit Max ein, der hinter dem Truck auf ihn gewartet hatte, bevor sie einige Worte tauschten, die Max zum Grinsen brachten. Oh, bitte. Ash war nicht witzig. Ich verengte die Augen, fragte mich, ob er nur den einen Mantel hatte oder warum er sonst keine Jacke trug …

»Billie, hörst du mir zu?«

Ich blinzelte und riss meinen Blick von Ash. »Was?« Hitze stieg in meine Wangen. »Oh, ja.«

»Mhm, klar«, meinte sie amüsiert und sah in die Richtung, in die ich eben noch geschaut hatte. Dann rief sie laut: »Hey Ash, du kümmerst dich heute um Billie, richtig?«

»Was?« Mit aufgerissenen Augen sah ich zu Kala. »Was tust du?«, zischte ich.

»Gehen und dich nicht allein zurücklassen«, meinte sie unschuldig und zog ihren Rucksack vom Boden. »Außerdem weiß Ash Bescheid, dass er jetzt erst mal dran ist.«

»Womit dran?«, fragte ich verwirrt – doch Kala verschwand bereits über den Parkplatz in Richtung eines der Nebengebäude der Schule, zu dem jetzt auch Max schlenderte.

Ash hatte nicht auf Kalas Ruf geantwortet, doch als ich aufsah, bemerkte ich, wie sein Blick zielsicher auf mir landete … bevor er die Augenbrauen gleich noch ein wenig enger zusammenzog und die Lippen aufeinanderpresste. Als überlege er, ob ich eine lebensbedrohliche Krankheit oder doch nur ein Käfer auf seiner Windschutzscheibe sei. Schließlich hoben und senkten sich seine Schultern – hatte er gerade geseufzt? –, bevor er auf mich zukam. Ich schulterte meinen Rucksack und hob den Jutebeutel vom Boden auf, in den ich seinen Mantel gepackt hatte, und gab mir Mühe, eine möglichst gleichgültige Miene aufzusetzen.

»Warum genau kümmerst du dich heute um mich?«, wollte ich laut wissen.

Ash überwand die letzten Meter, blieb mit den Händen in den Taschen stehen und blickte an mir hinab. Auf meine Finger, mit denen ich nervös an meinem Jackensaum zupfte. Mist. Augenblicklich ließ ich die Hand fallen.

Ein wissender Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Gott, der gefiel mir noch viel weniger als seine zusammengezogenen Brauen. »Die gute Chemie ist schuld!«, sagte er.

Meine Wangen fingen Feuer und verwundert blinzelte ich ihn an. »Wir haben eine gute Chemie?«, rutschte es mir heraus. »Ich hab eher das Gefühl, dass wir beide noch nicht ganz entschieden haben, ob wir uns mögen.«

Ein träges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, das meinen Magen merkwürdig flau werden ließ. »New Girl? Guck auf deinen Stundenplan. Wir haben Chemie zusammen.«

Ich blinzelte. Verstand nicht … und hätte im nächsten Moment vor Scham im Boden versinken können.

Oh, Shit. Mein Kopf fühlte sich an wie eine Glühbirne kurz vorm Platzen. Doch ich weigerte mich, den Blick abzuwenden. Also starrte ich einfach nur weiter in Ashs hellblaue Augen und sagte schließlich etwas heiser: »Das … äh … wusste ich. Hab nur einen Witz gemacht.«

Sein Grinsen wurde breiter. »Du bist eine lausige Lügnerin.«

Ja, das war die allgemeine Meinung. Mein Dad meinte immer, er mache sich gar keine Sorgen darum, dass ich mich nachts heimlich davonstehlen oder Drogen nehmen könnte. Denn mein Gesicht würde es ihm sofort verraten.

»Und wirklich, du bist dir noch nicht sicher, ob du mich magst?« Er schnalzte gespielt getroffen mit der Zunge. »Dabei habe ich mich nur von der besten Seite gezeigt.«

Ich prustete. »Also, wenn das deine beste Seite ist, möchte ich deine schlechte nicht kennenlernen.«

»Nein«, murmelte er dunkel, während er den Blick nicht von meinem abwandte, und hob einen Mundwinkel. »Möchtest du wirklich nicht.«

Meine Schultern spannten sich an und ich hatte das plötzliche Verlangen, einen Schritt zurückzutreten, doch mein Stolz und mein Dickkopf ließen mich nicht. Stattdessen sah ich ihn einfach nur regungslos weiter an, bevor ich über meine plötzlich trockenen Lippen leckte.

Ash wandte den Blick ab. »Ach, und nur fürs Protokoll«, fügte er hinzu. »Ich kenne dich nicht wirklich. Aber bisher find ich dich okay. Auch wenn es nervig ist, dass die Rektorin offenbar der Auffassung ist, dass du jemanden brauchst, der dein Händchen hält.«

Automatisch zog ich meine Hand weg und verschränkte die Arme. Er fand mich okay? War das gut oder schlecht?

»Ich komm gut allein klar, danke. Du musst mir wirklich nicht helfen«, sagte ich knapp.

»Ach ja?« Er hob eine Augenbraue. »Wo musst du hin für Chemie?«

»Ich …« Ich zog meinen Stundenplan aus meiner Tasche. Chemie: Westflügel A7 stand dort. Mhm. Wo war der Westflügel? Und was bedeutete A7?

»Ich muss … da entlang?«, riet ich schließlich und deutete vage in Richtung des Hauptgebäudes. »Und dann springe ich wie ein Pferd auf einem Schachbrett zum Feld A7?«

Ash schnaubte, doch ich könnte schwören, dass seine Mundwinkel zuckten. »Man sollte dir ein Glöckchen um den Hals hängen, damit du nicht verloren gehst.« Und mit diesen Worten drehte er sich um und lief in die entgegengesetzte Richtung des Hauptgebäudes, zu einem neuartig aussehenden Haus. Es wirkte, als wäre die Schule einmal winzig gewesen, bevor man sie mit der Zeit um zwei Gebäude und eine Turnhalle erweitert hatte. Die Häuser, die zur Schule gehörten, waren allesamt so klein, dass ich das Gefühl hatte, im Dorf der Schlümpfe gelandet zu sein. Das Größte an der Schule war tatsächlich der Parkplatz, den Ash jetzt in langen Schritten hinter sich ließ.

»Kommst du, oder was?«, rief er über seine Schulter. »Ich will nicht zu spät kommen. Ich mag Chemie.«

Genervt verdrehte ich die Augen, bevor ich ihm hinterhereilte. Ich musste rennen, um ihn und seine dämlich langen Beine einzuholen, wobei mir die Tasche mit seinem Mantel immer wieder gegen die Hüfte schlug.

»Ich mag Chemie auch«, murmelte ich ein wenig mürrisch, als ich ihn endlich erreicht hatte. »Aber dir scheinen die Dämpfe zu Kopf gestiegen zu sein.«

»Warum?«

Ich blinzelte. »Ähm, warum dir die Dämpfe zu Kopf gestiegen sind?«

»Warum magst du ausgerechnet Chemie?«

»Nicht ausgerechnet «, meinte ich zögerlich und trat überrascht zurück, als er mir die Tür zum Gebäude aufhielt. »Ich mag alle naturwissenschaftlichen Fächer.«

Er hob eine Augenbraue. »Weil …?«

»Weil sie … beständig sind. Überall gleich«, murmelte ich und trat in den dahinterliegenden sterilen, weißen Flur. »Egal, in welchem Land, in welchem Staat, in welcher Stadt – Mathe, Physik und Chemie ändern sich nicht. A plus B ergibt immer C. Egal, auf welcher Sprache. Egal, welchen Lehrer man hat. Egal, wie gut man gerade mit seinen Mitschülern klarkommt. Es ist … logisch. Die Antworten richtig oder falsch. Schwarz und weiß … nicht so grau wie der Rest des Lebens.«

Ash warf mir einen Seitenblick zu und rieb sich den Nacken, bevor er leise meinte: »Grau ist besser als schwarz und weiß. Extreme sind … nie gut.«

»Bist du deswegen manchmal nett und witzig – und dann wieder ein nerviger Blödmann?«, fragte ich interessiert. »Weil du in kein Extrem rutschen und lieber von allem etwas sein willst?«

Zu meiner Überraschung lachte Ash. Es war ein tiefes leises Lachen, das in meinem ganzen Körper nachvibrierte und einen warmen Schauder über meine Haut schickte.

Ich rechnete damit, dass er mir widersprach. Dass er sich verteidigte. Stattdessen meinte er nur amüsiert: »Na ja, ich bin eigentlich nur aus zwei Gründen ein nerviger Blödmann. Erstens: Weil ich darin brilliere. Zweitens: Weil es Spaß macht zu sehen, wie du feuerrot anläufst und es viel zu leicht ist, dich aufzuregen. Und das weiß ich, obwohl ich dich kaum zwei Tage kenne.«

Wie auf Kommando spürte ich, wie mir das Blut zu Kopf stieg. Weil er mich nun einmal aufregte!

»Weißt du, ich bin selbst gar nicht so schlecht darin, Leute aufzuregen«, erwiderte ich kühl.

»Das glaube ich dir nicht«, meinte er trocken. »Du hast diese grundfreundliche Aura, die nur Hundewelpen oder Menschen haben, die sich furchtbar davor fürchten, nicht von allen gemocht zu werden.«

Ich schnaubte. Auch wenn er recht hatte – natürlich wollte ich gemocht werden, wer nicht? »Du irrst dich«, sagte ich dennoch und blieb stehen. »Wenn ich dich zum Beispiel aufregen wollte, könnte ich fragen: Warum hing ein Teil deines Mantels an meiner Windschutzscheibe?«

Ash hielt ebenfalls an und hob die Augenbraue. »Was?«

»Du hast mich gehört«, sagte ich leise und sah ihn unverwandt an. Denn ich stand nicht darauf, um den heißen Brei herumzureden. Dinge auszuschweigen und abzuwarten. Ich hatte meistens keine Zeit dafür, weil ich, wenn ich das nächste Mal blinzelte, schon wieder woanders wohnte. Also beschloss ich, dass Angriff die beste Verteidigung war, und drückte Ash den Jutebeutel mit dem Mantel in die Arme. Vielleicht war ich verrückt. Aber vielleicht auch nicht. Und ich würde es nicht herausfinden, wenn ich nicht fragte.

»Du hast deinen Mantel gestern im Auto vergessen. Und das hier auch. Allerdings hinter meinem Scheibenwischer.« Ich zog den Fetzen Stoff aus meiner Jeanstasche und hielt ihn ihm hin.

Ash verlor sein Lächeln nicht … doch ich sah, wie sein Blick zu meinen Händen huschte und den Fetzen Stoff darin begutachtete.

»Was ist das?«, fragte er schließlich ruhig.

»Ein Fetzen Stoff. Von deinem Mantel.«

»Der gehört nicht zu meinem Mantel.«

»Weißt du, das habe ich mir auch erst eingeredet, aber es ist dieselbe Maserung, dieselbe Textur …«

Sein Lächeln wurde breiter. »Aha. Und was hat ein Stofffetzen meines Mantels hinter deinem Scheibenwischer verloren?«

»Keine Ahnung, sag du es mir.«

»Das kann ich nicht – weil der Fetzen nicht zu meinem Mantel gehört. Mein Fetzen hängt in meinem Gartenzaun.«

Ich presste die Lippen zusammen und trat einen Schritt vor. »Ich glaube dir nicht.«

»Und was glaubst du?«, fragte er gelassen und sah mir in die Augen. Sein Blick so durchdringend, dass ich ihn bis in die Knochen spürte, mein Mund trocken wurde und mein Hals anfing zu kratzen.

»Also, ich denke, dass … also die Delle … du … und dein Knie … und der Stoff …«

»Ah, ja. Jetzt weiß ich, warum nicht Englisch dein Lieblingsfach ist«, meinte er mit übermäßiger Geduld in seiner Stimme. »Du scheinst die Sprache nämlich nicht besonders gut zu beherrschen. Das ist okay. Jeder hat seine Stärken. Danke für den Mantel. Ich hab ihn schon vermisst.« Er zog den Stoff aus der Tasche hervor, schlüpfte hinein und legte den Jutebeutel über meine Schulter, bevor er mit der Hand draufklopfte. »Und darf ich dir einen Tipp geben, New Girl?« Er beugte sich vor, sodass ich spürte, wie sein Atem über mein Ohr strich. »Wenn du willst, dass die Leute dich mögen … hör auf, so neugierig zu sein und deine Fantasie mit dir durchgehen zu lassen.« Seine Stimme war so leise, dass ich ihn kaum verstand. Und trotzdem brannte sich jedes Wort in meinen Geist ein. »Wenn du dich langweilst, lern stricken. Aber entführe keine unschuldigen Mäntel.«

Im nächsten Moment machte er ruckartig einen Schritt nach hinten, wandte sich um und stieß die Tür zu seiner Rechten auf. Raum A7 .

Ich schluckte und sah ihm nach. Erkannte noch, wie er den Klassenraum durchquerte und sich in die hinterste Reihe setzte, bevor sie wieder ins Schloss fiel. Und erst dann bemerkte ich: Der Stofffetzen aus meiner Hand war verschwunden.