Kapitel
12

Ein paar Stunden später war ich verschwitzt und angeschwipst – aber auch unfassbar glücklich. Ich hatte was von dem guten Zeug abbekommen, niemanden interessierte es, dass ich tanzte wie ein Oktopus auf Rollschuhen … und ich hatte Freunde. Richtige Freunde, die mich mochten. Bei denen ich langsam das Gefühl bekam, dass ich sie an einem langweiligen Samstag anrufen und fragen könnte, was sie heute vorhatten.

Ja, laut in meinem Kopf ausgesprochen, hörte sich das auch albern an. Aber die meisten Menschen hatten eben keine Ahnung, wie wertvoll gute Freunde waren. Denn sie wuchsen an ein und demselben Ort auf und hatten meistens eine Horde von ihnen. Es war, wie wenn reiche Leute an ihrem Maserati lehnten und meinten, Geld sei gar nicht so wichtig.

Max spielte mittlerweile seine Runde Bierpong, doch Kala tanzte noch immer neben mir, zusammen mit Diana, die sich vor einer halben Stunde dazugesellt hatte.

»Also ehrlich, so eine krasse Party hätte Dad nicht erlaubt!«, rief ich lachend über die Musik hinweg, während The Weeknd sang, dass er vom Licht geblendet wurde. »Max’ Eltern müssen sehr cool sein, wenn ihnen das hier einfach egal ist.«

Kala zog eine Grimasse und Diana lächelte etwas verkniffen, bevor sie zu bedenken gab: »Ist es so cool, wenn seinen Eltern alles egal ist?«

»Oh«, meinte ich und mit sinkendem Herzen suchte ich automatisch Max, der gerade lachend ein Bier hinunterstürzte. »Ist es so schlimm?«

Diana und Kala sahen sich an und zuckten dann die Schultern. »Seine Eltern sind ziemlich viel beschäftigt«, meinte Kala schließlich, während sie weiter ihre Hüften schwang. »Seine Mutter ist Bürgermeisterin. Sein Vater Vorsitzender von … na ja, viel beschäftigt eben.«

Vorsitzender von … was?

Mir fiel auf, dass Kala heute auffällig viele Sätze nicht beendete. Sie war nicht ganz so schlimm wie Ash, aber … mein heuchlerisches Gehirn beendete den Satz nicht. Denn als hätte es ihn allein mit dem Gedanken heraufbeschworen, sah ich Ash. Was wirklich eine Leistung war, denn eine Traube von Mädchen umringte ihn. Wenn er nicht so groß gewesen wäre, wäre er einfach zwischen ihnen untergegangen. Aber so hatte ich gute Sicht darauf, wie er irgendetwas erzählte und die Umherstehenden zum Lachen und dazu brachte, mit geröteten Wangen ihre Haare um den Zeigefinger zu zwirbeln.

Gott. Der Kerl mochte nicht daten – aber weibliche Aufmerksamkeit störte ihn wohl auch nicht im Geringsten.

Ich wandte ihm bestimmt den Rücken zu … nur um ein paar Minuten später wieder einen Blick über die Schulter zu werfen. Denn das Lied war zu Ende und ich konnte seine Stimme über den Lärm hinweg hören. »… nicht dass du nicht superhübsch und faszinierend bist, Liane, aber ich bin nicht interessiert. Wir sollten Freunde bleiben.«

Liane war eine groß gewachsene Blondine, die mit ihren ausladenden Kurven und großen blauen Augen so umwerfend schön war, dass selbst ich irgendwie Interesse hätte. Obwohl ich hetero war!

Ihre Wangen waren gerötet von Ashs Komplimenten und sie sah aus, als wäre sie auch noch dankbar dafür, dass jemand wie Ash sich die Zeit nahm, ihr eine Abfuhr zu erteilen.

Wie machte der Kerl das? Und wieso zur Hölle konnte er mit Liane einfach so befreundet sein und bei mir musste er es sich zweimal überlegen? Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinen Mund aus und mein Magen fühlte sich einen Moment lang an, als wäre er mit Kieselsteinen gefüllt.

Shit. Es war nicht fair, dass der Blödmann meinen Gefühlsstatus im Nullkommanix von unfassbar glücklich zu leicht verärgert umwandeln konnte. Und das, ohne seit Stunden ein Wort mit mir zu wechseln. Oder vielleicht gerade deswegen.

Ich leerte mein Glas und konzentrierte mich wieder auf Kala und Diana. Doch Diana war verschwunden und Kala abgelenkt. Ihr Blick haftete mit leicht geöffneten Lippen auf Pru, die bei uns im Sportkurs war. Pru hatte die Hände über ihren Kopf gehoben, die Augen geschlossen und schwenkte sie im Takt der Musik hin und her … und Kala schien von jeder ihrer Bewegungen hypnotisiert.

Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht und ich schob mich neben sie, bevor ich in ihr Ohr wisperte: »Kala, magst du Pru?«

Sie zuckte zusammen und ein ertappter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Was? Ich … nein!«

Ich grinste breit. »Wirklich?«

»Was ist mit dir? Magst du Ash?«, feuerte sie mit gehobenen Brauen zurück.

Verwundert öffnete ich den Mund. Mögen? Wie in … mögen? »Ich … nein!«, erwiderte ich verdattert.

Sie grinste. »Du hörst dich an wie ich. Und hey, er schaut gerade rüber.«

»Was?« Sofort wandte ich den Kopf … doch Ash sprach noch immer mit den Mädels.

»Oh, Billie.« Kala zog eine Grimasse. »Du hast den Test nicht bestanden. Und das ist eine dumme Idee. Ich hab dir doch gesagt …«

»Es ist nicht so!«, unterbrach ich sie hastig, während ich gleichzeitig dachte: Shit. Ich war lächerlich. Gott, wenn ich nicht aufpasste, wurde ich eins dieser Mädchen, die ihn umschwärmten wie Motten das Licht.

Dabei mochte ich ihn nicht wirklich. Da war ich mir fast sicher. Es war eher, dass er … ein Geheimnis war, das ich lösen wollte. Alles an ihm.

»Mann, ich brauche frische Luft«, meinte ich kopfschüttelnd, bevor ich verschwörerisch hinzusetzte: »Und du solltest mit Pru tanzen. Sie scheint nett.«

»Sie ist nett«, flüsterte Kala, so leise, dass ich sie über die Musik hinweg kaum verstand. »Aber … es ist kompliziert!«

»Weil sie ein Mädchen ist?«, fragte ich stirnrunzelnd.

Sie prustete. »Nein. Aber … es ist schwierig. Weil ich … ich bin. Und mit jemandem wie ihr …«

»Ich versteh kein Wort. Du redest Quatsch.«

Kala seufzte. »Glaub mir einfach, wenn ich sage, dass es kompliziert ist. Soll ich mit rauskommen?«

Ich schüttelte den Kopf und drückte ihre Schulter. »Ich hab das Gefühl, dass du lieber hier bleiben willst«, flüsterte ich dann. »Und ich will einfach nur kurz …«, … weg von Ash . »Ich bin gleich wieder da!«

Ich lächelte ihr zu und drängte mich dann durch die Menge. Ich hob die Hand in Richtung Rhett, der bestimmt sein fünftes Stück Torte aß, und schob mich schließlich erleichtert aus dem stickigen, warmen Raum, durch die leicht geöffnete Glastür, die in Richtung Pool führte. Es war zu kalt, um zu baden, sonst hätte sicherlich der Großteil der Party hier stattgefunden. Doch so war ich allein mit Derek und einer hübschen Rothaarigen, die knutschend auf einer der Liegen lagen, die um das türkise Wasser herum aufgebaut waren.

Ich zog die Schultern hoch und lief an ihnen vorbei. Ich wollte sie nicht stören, sie sahen schwer beschäftigt aus. Also stahl ich mich weiter in den Garten hinein, bog nach rechts, um die Häuserwand herum, bis ich aus ihrer Sichtweite war … und endlich tief durchatmen konnte. Hier war so viel Platz!

Der Garten wurde mir direkt gegenüber von einer Reihe flacher Buchsbüsche und dahinterliegenden hohen Bäumen abgegrenzt, doch auf der anderen Seite schien er in die Unendlichkeit zu verlaufen. Der Rasen war auf eine respektable Länge gestutzt. Der Kiesweg, über den ich hergekommen war, glänzte leuchtend weiß im diesigen Licht, das es vom beleuchteten Pool zu mir herüberschaffte. Und ich fragte mich, wie es wohl war, hier aufzuwachsen, wenn die Eltern nie da waren. In diesem riesigen Haus. Allein. Es musste einsam gewesen sein. Doch Max wirkte nicht einsam. Oder unglücklich. Aber die wenigsten Menschen, die es waren, wirkten so, oder?

Hinter mir raschelte etwas und erschrocken wirbelte ich herum. Ich war nicht allein. Auf dem Boden hinter mir, den Rücken an die Hauswand gelehnt, saß jemand.

Ein Junge mit dunklen langen Haaren, einem spitzen Gesicht und einer platten Nase, der mit ausdrucksloser Miene zu mir hochsah.

»Oh, hey«, sagte ich überrascht. »Hab dich gar nicht gesehen.«

Der Typ hob nur die Augenbrauen. So als würde ihn das überhaupt nicht wundern. Als wäre er es gewohnt, übersehen zu werden.

»Ben, richtig?«, fragte ich zögerlich.

»Ja«, sagte er langsam, sichtlich überrascht, bevor er sich langsam vom Boden erhob.

»Du bist bei mir in Sport. Du hast mich an meinem ersten Tag davor gerettet, mich laut vorstellen zu müssen.« Ich lächelte. »Danke dafür! Es wäre … schrecklich gewesen.«

Ben öffnete den Mund, doch wusste offensichtlich nicht, was er mit den Worten anfangen sollte. Stattdessen schloss er ihn wieder und schwieg.

»Was … tust du hier draußen?«

»Sterne gucken.«

»Oh.« Instinktiv legte ich den Kopf in den Nacken und sah in den klaren Himmel. »Mann, an die Aussicht werde ich mich nie gewöhnen«, murmelte ich dann. »Es ist absurd, oder? Dass sie schon Millionen von Jahren da oben sind. Die Sterne. Und einfach nicht verlöschen.«

»Da ist nichts Einfaches dran«, sagte er leise.

»Was?« Ich blinzelte ihn verwundert an.

Doch er schüttelte nur den Kopf und verstummte wieder.

»Willst du … wieder mit reinkommen?«, fragte ich schließlich, als mir die Stille zu aufdringlich wurde und die Kälte der Nacht sich in meine Kleidung stahl. »Ich hab dich drinnen noch gar nicht gesehen. Warst du überhaupt schon auf der Party?«

»Nein. Ich bin nicht wirklich erwünscht.«

»Wurdest du nicht eingeladen?«, fragte ich perplex. Denn das konnte ich mir nicht vorstellen. Max hatte die ganze Stufe hier!

Ben lachte trocken. »Doch, natürlich wurde ich eingeladen. Aber nur aus Höflichkeit.« Seine Stimme hatte eine spöttische Note, die meinen Hals enger zuschnürte.

»Ich … ich bin mir sicher, dass das nicht stimmt«, meinte ich aufmunternd.

Ich kannte ihn. Nicht Ben an sich. Aber die Art von Schüler, die er war. Ich war an Dutzenden Orten er gewesen. War nicht eingeladen worden. Hatte nicht gewusst, wo ich mich in der Cafeteria hinsetzen sollte. Hatte lieber geschwiegen, als das Falsche zu sagen. Ich wusste nicht, was ihn zum Außenseiter machte, aber er war einer. Er war … allein. Und er mochte so tun, als wäre ihm das egal. Als würde er auf die anderen herabsehen. Doch es war eine Lüge. Niemand war gern allein. Niemand war gern der Außenseiter. Und man musste einer gewesen sein, um wirklich zu verstehen, wie furchtbar es sich anfühlte, nicht … Teil von etwas zu sein. Wenn alle anderen es waren. Wenn alle anderen es so leicht aussehen ließen. Dabei brauchte es nur einen einzigen Menschen, der sich die Mühe machte, einen kennenzulernen, um alles zu verändern. Es war so leicht, freundlich zu sein. Einen zu inkludieren. Doch die wenigsten taten es. Aus Angst, auf der anderen Seite zu landen.

Ich rang die Hände und lächelte. »Komm schon. Du kannst mit uns tanzen. Und es gibt ziemlich gute Torte. Meint Kala zumindest. Und weißt du, in der Cafeteria, wenn du nicht weißt, wo du dich hinsetzen sollst … setz dich doch einfach zu uns. Max und die anderen haben bestimmt nichts dagegen.«

Schließlich hatten sie mich auch selbstlos aufgenommen, oder?

Ein zynisches Lächeln breitete sich auf Bens Gesicht aus, bevor er kaum merklich den Kopf schüttele. »Du hast wirklich keine Ahnung, oder?«

Ich blinzelte. »Keine Ahnung von was?«

»Von Max … und den anderen«, sagte er langsam und verengte die Augen. »Die anderen, mit denen du dich angefreundet hast.«

Mein Mund wurde trocken. Woher wusste er, mit wem ich mich angefreundet hatte?

»Lass mich dir einen Tipp geben, Billie«, meinte er gedehnt, die Hände hinterm Rücken verschränkt. »Du solltest hier nicht alles glauben, was du siehst. Was du hörst. Nicht einfach Leuten vertrauen, die nett sind. Denn jeder kann nett sein. Solange er eben will. Du solltest aufpassen. Bevor du in Schwierigkeiten gerätst, mit denen du absolut nichts zu tun haben willst.«

Verblüfft öffnete ich den Mund. »Was?«

Er nickte zum Haus. »Max, Kala … Ash. Nicht alles, was glänzt, ist Gold. Und nicht alles, was schnurrt ist zahm.«

Etwas nervös lachte ich auf. War das sein Ernst? »Also … willst du nicht mit reinkommen?«, übersetzte ich frei.

»Nein«, sagte er steinern.

Nun gut. Ich hatte es versucht. Mehr als das konnte ich auch nicht tun. »Okay«, murmelte ich. »Und wenn du dich bei den anderen nicht wohl am Cafeteriatisch fühlst …«, denn es schien so, als sei irgendetwas zwischen ihnen vorgefallen, »kannst du auch einfach mich fragen, ob ich mit dir esse«, schlug ich dennoch vor. Weil ich dasselbe hätte gefragt werden wollen. Weil so viele andere es bei mir nie versucht hatten und jeder eine Chance verdient hatte, kennengelernt zu werden.

»Danke«, sagte Ben leise, die Augen immer noch verengt. Als versuche er, zu ergründen, ob ich es ernst meinte oder ob es einen Haken gab. Gott, ich kannte den Blick. Er war so … vertraut.

Ich lächelte noch ein letztes Mal, drehte mich um … und erstarrte. Mein Herz blieb stehen. Meine Augen brannten auf einmal. Meine Lungen streikten. Verkrampften sich zu einer unförmigen Masse.

Denn da standen sie wieder. Die dunklen Gestalten, die selbst den Nachthimmel hell erscheinen ließen. Sie drückten sich am Waldrand herum. Keine fünf Meter von mir entfernt. Sprossen aus dem Boden, wie es die Bäume neben ihnen taten. Waren eins mit den Schatten und hoben sich doch von ihnen ab. Denn sie waren finsterer. Sie ließen die Dunkelheit der Bäume geradezu wie eine Glühbirnenausstellung wirken.

Ich stolperte einen Schritt zurück, stieß dabei mit meiner Schulter gegen die von Ben, der ein verwundertes Uff von sich gab.

»Siehst du … siehst du sie auch?«, hauchte ich.

»Was?«

Ich spürte seinen irritierten Blick auf mir, doch konnte mich nicht dazu bringen, ihn anzusehen und meinen eigenen von den Schattenmenschen zu ziehen. Sie bewegten sich nicht wirklich. Doch immer, wenn ein sanfter Lichtstrahl aus dem Poolbereich in Richtung des Waldes fiel, sah es aus, als würde sich ihr Körper darumbiegen. Dem Licht entgehen. Wobei Körper zu viel gesagt war. Denn sie waren nicht fest. Oder? Sie hatten zumindest keine Gesichter. Keine scharfen Konturen. Sie wirkten nicht menschlich, aber ihre Form glich der eines Menschen. Konnte man sie anfassen?

Mein Herzschlag beschleunigte sich, während es sich gleichzeitig so anfühlte, als würde mein Blut langsamer laufen. Als würde die Zeit … sich dehnen.

Sie bewegten sich nicht. Sie waren nicht gruselig. Nicht wirklich bedrohlich. Sie waren … da. Blickten zu uns herüber. Oder vielleicht taten sie es auch nicht, denn ich konnte keine Augen erkennen! Doch meine Haut kribbelte. Meine Handflächen waren feucht. Kälte kroch in meine Ärmel. Nicht, weil ich Angst hatte – Wieso sollte ich Angst haben? Sie standen nur da und taten nichts. Würden auch nichts tun. Oder? – sondern weil die Temperatur sank.

»Billie. Was ist los?«, wollte Ben wissen, der leicht alarmiert klang.

»Die Schatten! Da sind …« Ich riss meinen Blick von ihnen los, sah ihn an und bemerkte seine gerunzelte Stirn. Betrachtete sein ahnungsloses Gesicht.

Abrupt hielt ich inne. Er sah sie nicht, oder? Er wusste nicht, wovon ich sprach. Und jetzt bekam ich doch Angst. Denn Dinge zu sehen, die niemand anderes sah, war nicht gut.

Shit, wie viel hatte ich getrunken? Ich rieb mir über die Augen, blickte wieder zum Waldrand.

Sie waren weg. Da waren nur noch die Bäume. Was zur Hölle passierte hier?

»Es ist … nichts«, sagte ich, meine Stimme höher als sonst. »Ich dachte, ich hätte …« Ich lachte und schüttelte den Kopf. »Hab es mir wohl nur eingebildet.«

Aber hatte ich das? Es fühlte sich nicht so an. Wieder blickte ich zum Waldrand, der still und frei von Schattengestalten dalag. Das gefiel mir nicht. Nichts an alledem.

Meine Glieder waren merkwürdig steif, als ich zurück zum Pool lief und meine Haut prickelte noch immer. Einmal Schattengespenster zu halluzinieren, war die eine Sache. Doch zweimal? Innerhalb von zwei Wochen?

»Du drehst durch, Billie«, wisperte ich mir zu und streifte meine feuchten Hände an meiner Hose ab. »Oder du bist betrunken.«

Gott, ich hoffe sehr, dass es Letzteres war. Aber von zwei Drinks bekam man noch lange keine Wahnvorstellungen. Oder? Vielleicht hatte ich einfach noch nicht genug Erfahrung in dem Bereich.

Ich schluckte und trat zurück in das Wohnzimmer, doch selbst der wummernde Bass konnte das Prickeln nicht vertreiben, das noch immer meine Nervenenden im Griff hatte.

»Da bist du ja! Gerade rechtzeitig, um endlich dein Geschenk entgegenzunehmen!«, drang Kalas Stimme an mein Ohr und ich blinzelte etwas desorientiert, während sich die kleine Gruppe an Menschen, mit denen ich seit zwei Wochen in der Schule herumhing, um mich sammelte und mir einen Briefumschlag in die Hand drückte.

Ein schwerer, unendlich warmer Arm legte sich um mich, der von Max, bevor er laut rief: »Jetzt mach schon auf.«

Mechanisch öffnete ich den Umschlag, während Olivia Rodrigo davon sang, dass sie endlich ihren Führerschein bekommen hatte, und ein Gutschein für den Dekoladen, in dem wir gewesen waren, fiel in meine Hände.

»Ooh, danke!«, rief ich laut und gab mir Mühe zu lächeln.

Doch die Freude, die ich verspürte, konnte die dumpfe Vorahnung in meinem Inneren, dass irgendetwas hier nicht stimmte, nicht verscheuchen.

Meine Zunge war schwerer als sonst. Mein Herz schlug immer noch zu schnell. Und das Prickeln, das Pore um Pore meines Körpers ansteckte, hatte etwas seltsam Vertrautes … und gleichzeitig Beunruhigendes an sich.

»Das freut mich, wirklich!«, sagte ich dennoch. Denn das tat es. Auch wenn … wenn ich eigentlich die ganze Zeit nur das Verlangen verspürte, mich umzudrehen und erneut zum Waldrand zu sehen. Nach den Gestalten zu suchen. Denn ich hatte das Gefühl, dass sie noch da draußen waren. Dass sie nur … warteten. Aber auf was?

Kala jubelte und umarmte mich, bevor sie flüsterte: »Ich bin sehr froh, dass ihr nach Amber Lake und in keine andere Blödsinnsstadt gezogen seid!«

Ich lächelte, doch es fühlte sich seltsam hölzern an. Während die Musik mir auf einmal zu laut, die Menschen zu viel waren.

»Alles okay bei dir?«, fragte eine dunkle Stimme leise an meinem Ohr.

Ich zuckte zusammen und wandte das Gesicht zur Seite, nur um direkt in Ashs durchdringend blaue Augen zu sehen, über denen er die Brauen zusammengezogen hatte. Wann war der hier aufgetaucht?

»Oh, ja. Alles gut.« Ich schluckte, winkte jedoch ab.

»Sicher?« Sein Blick glitt forschend über mein Gesicht. »Du siehst blass aus.«

»Ich … bin nur müde«, murmelte ich. »Ich glaub, ich geh nach Hause. Ich ruf mir ein Uber.«

Waren sie echt? Die Gestalten? Oder nur Einbildung? Ben hatte sie nicht gesehen. Aber vielleicht hatte er gelogen. Oder sich eingeredet, dass er sie nicht sah.

Ich blinzelte und bemerkte, dass Ash mich noch immer beobachtete. Seine Augen dunkler als noch vor einer Sekunde. Seine Kiefermuskeln arbeiteten, während er kaum merklich die Lippen bewegte. Es sah aus, als würde er eine sehr ernste Diskussion mit sich selbst führen. Schließlich seufzte er und sagte rau: »Ich fahr dich. Du bist mit dem Auto hier, oder? Gib mir die Schlüssel.«

Hitze kaperte meine Wangen. »Ähm, ja, aber … das ist wirklich nicht nötig.«

»Ich weiß. Ich tue es trotzdem.« Er streckte erwartungsvoll die Hand aus.

»Ähm …«

»Nein, noch nicht gehen!«, meinte Max laut, der die Unterhaltung wohl mitbekommen hatte, und zog den Arm enger um meine Schultern. »Es ist noch früh.«

»Lass sie los, Max«, sagte Ash steinern und der amüsierte Unterton, den er sonst immer zur Schau stellte, war vollkommen aus seiner Stimme verschwunden.

»Ist ja schon gut.« Max ließ den Arm fallen und warf Ash einen leicht irritierten Blick zu.

Ash beachtete ihn gar nicht, sondern wiederholte nur: »Schlüssel, Billie.«

»Moment.« Ich blinzelte. »Du kannst nicht fahren! Du hast getrunken.«

Er schüttelte den Kopf. »Hab ich nicht.«

Ungläubig weitete ich die Augen. »Was? Nein!«

Ich hätte darauf gewettet, dass Ash einer der Typen war, die beweisen wollten, wie cool sie waren, in dem sie tranken, als gäbe es kein Morgen mehr. Obwohl es gegen das Gesetz war.

»Doch«, sagte er ungeduldig.

»Warum nicht?«

»Ich mag das Gefühl nicht, die Kontrolle zu verlieren. Und irgendwer muss nüchtern bleiben und auf Max aufpassen. Er wird an seinem Geburtstag manchmal etwas … hitzig. Können wir jetzt gehen, oder was?«

Ich blinzelte, nickte jedoch. Denn mir fiel keine weitere Ausrede mehr ein. Außer die, dass ich keine zwanzig Minuten allein mit ihm im Auto verbringen wollte. Aber das war keine Ausrede. Das war die Wahrheit. Und für die Wahrheit hatte ich heute wirklich nicht genug getrunken …