Ich hatte schon eine Menge unangenehme Autofahrten mit Ash Hunter hinter mir – doch sich von ihm nach Hause fahren zu lassen, nachdem ich ihn aus Versehen mit einem Basketballbrett plattgemacht hatte, war ein ganz spezieller Fall von merkwürdig.
Aber Dad hatte den Wagen heute gebraucht und Ash und ich wollten ja ohnehin gleich zusammen trainieren, es ergab also Sinn. Leider. Ich tippte Dad eine Nachricht, dass ich noch zu einem Freund fuhr und spät nach Hause kommen würde, bevor ich mich wieder der drückenden Stille um mich herum widmete.
Ich hatte das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen. Am besten etwas von Bedeutung. Oder etwas, das die Stimmung lockerte. Aber stattdessen fiel mir nur ein: »Es … tut mir leid. Dass ich dich fast umgebracht habe.«
Ash schnaubte. »Mir geht es gut.«
»Ja, aber ein Kerl mit schlechteren Reflexen …«
»Hätte sich vielleicht ein Bein, aber nicht das Genick gebrochen.« Er warf mir einen dunklen Blick zu. »Du brauchst keine Schuldgefühle zu haben. Sonst muss ich mich nämlich schlecht fühlen, dich provoziert zu haben – und das lässt sich einfach nicht gut mit meiner Persönlichkeit vereinbaren.«
Ich lächelte widerwillig. »Man kann Schuldgefühle nicht so leicht abstellen. Und ich hätte mich nicht provozieren lassen sollen. Ich hab es letztens ernst gemeint. Dass ich Frieden mit dir schließen will.«
»Und wieso glaube ich dir das nicht?«
»Weil du ein sehr misstrauischer Mensch bist?«, schlug ich freundlich vor.
Er schnaubte erneut, während er nach links abbog. Irritiert streckte ich mich und lugte aus der Windschutzscheibe.
»Da geht es nicht zu mir«, stellte ich fest.
»Ich weiß. Wir fahren zu mir. Nur kurz das Auto abstellen, Essen holen … dann können wir los. Dinge tun.«
Dinge tun . Seine Worte glitten wie heiße Fingerkuppen meinen Nacken hinab. »Oh, okay. Was für Dinge?«
»Übungsdinge.«
»Aber wir üben seit Wochen!«
»Ja, aber …« Zögerlich trommelte er mit den Zeigefingern aufs Lenkrad. »Ich hab eine Idee für einen neuen Ansatz.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Und was, wenn sie nicht funktioniert?«
»Das werden wir dann sehen.«
»Und wieder: Das tun wir seit Wochen «, erwiderte ich frustriert. »Ich bin es leid.«
Er schüttelte den Kopf. »Du bist es nicht leid.«
Ungläubig öffnete ich den Mund. »Entschuldige? Jetzt weißt du auf einmal, was ich fühle und denke, ja? Ist das auch eine deiner Fähigkeiten? Gut zielen zu können, Gedanken lesen und ein Blödmann zu sein?«
Doch Ash ließ sich nicht beirren. »Du bist es nicht leid, Billie«, wiederholte er sachlich. »Du hast nur Angst. Nicht zu wissen, was du kannst. Das Gefühl zu haben, die Kontrolle zu verlieren. Und ich verstehe dich.« Er schob seinen Unterkiefer hin und her, bevor er mir einen hastigen Seitenblick zuwarf. »Es ist ein beschissenes Gefühl. Aber es ist okay. Wir finden schon noch raus, wie du Zugriff auf deine Fähigkeiten bekommst. Wir wissen genug über dich, um noch ein paar Versuche zu starten.«
»Nein, tut ihr nicht.« Die Worte perlten bitter über meine Lippen. »Es ist mein Fluch, Ash. Dass mich niemand wirklich kennt oder kennenlernen wird oder kann: Nicht einmal ich selbst. Ich reise von Ort zu Ort und Leute kratzen an meiner Oberfläche, gehen aber nie tiefer. Und all die Jahre dachte ich zumindest, dass ich mich kennen würde! Dass mein Dad mich kennen würde. Doch das ist eine Lüge, oder nicht? Wir haben alle keine genaue Ahnung, was oder wer ich bin, was ich kann, was ich können sollte. Ich bin … ein Mysterium!«
Ich rechnete damit, dass Ash wieder schnaubte. Dass er die Augen verdrehte.
Stattdessen lachte er leise. »Jetzt komm mal runter von deinem hohen Ross. Du bist eine Menge, Billie, aber kein Mysterium. Nicht für mich zumindest«, murmelte er.
Hitze sammelte sich in meinen Wangen. »Ach ja? Was bin ich dann?«
»Na: Billie«, sagte er ungeduldig. »Ein wenig nervig, aber ziemlich witzig. Eine furchtbare Lügnerin. Aufmerksam und freundlich. Besessen von Gerechtigkeit. Emotional etwas unausgewogen und sehr gut darin, mich aufzuregen. Aber auch sehr mutig und intelligent. Wahrscheinlich der Grund, warum du mich so leicht aufregen kannst.« Seine Mundwinkel zuckten, während sich meine Kehle enger zog und ein Flattern tief in meiner Magengrube einsetzte.
»Aber … das alles hat nichts mit meinen Hüterfähigkeiten zu tun«, wisperte ich und mein Mund wurde schrecklich trocken.
Er zuckte die Achseln. »Aber es ist das, was zählt.«
Das Flattern wandelte sich zu Wärme, die sich in Windeseile unter meinen Rippenbögen ausbreitete. Sie brachte mein Herz zum Stocken, da es nicht mit der plötzlichen Temperaturschwankung gerechnet hatte.
»Ash?«, murmelte ich.
»Ja?«
»Du verwirrst mich.«
Er lachte leise und verlangsamte das Auto, bevor er in eine Einfahrt einbog. »Dito.«
Das warme Gefühl ging nicht weg. Selbst als wir vor einem großen Haus mit rotem Dach und hellgelber Fassade hielten, ich ausstieg und mir ein Schwall kalter Luft ins Gesicht peitschte, hielt es sich tapfer in meiner Brust. Schlimmer noch: Es kletterte meinen Hals hinauf, als wir durch einen verwilderten ummauerten Vorgarten auf die breite hölzerne Veranda zutraten und mir klar wurde, dass es etwas sehr Intimes war, gleich einen exklusiven Einblick in Ashs Leben außerhalb der Schule zu bekommen.
Es war nur ein Haus, aber … es war das Haus, in dem er aufgewachsen war. In dem er jeden Morgen aufwachte. In dem er sich wahrscheinlich wohlfühlte und in dem er ehrlich sein konnte. Und in dem er duschte.
Die Hitze kaperte nun meine Wangen und hastig konzentrierte ich mich wieder auf den Vorgarten und darauf, ein unverfängliches Thema zu finden.
»Ist das dieser Zaun , an dem du dir den Fetzen deines Mantels abgerissen hast?«, fragte ich und nickte zur kleinen Mauer, die den Garten umschloss.
Ash lächelte und kratzte sich den Nacken. Er sah verlegen aus. Auch wenn ich ihm die Emotion fast nicht zugetraut hätte. »Ja, genau der hier war es.«
Kopfschüttelnd sah ich ihn an. »Deine Geschichte hatte hundert Lücken.«
»Na ja, ich hab nicht gedacht, dass du irgendwann mal hier vorbeikommen würdest. Oder intelligent genug bist, um dahinterzukommen, dass ich lüge«, gab er zu, zog einen Schlüssel aus seiner Tasche und sprang die Stufen hoch.
Ich seufzte. »Oh, Ash. Du bist immer so charmant. Ich hoffe wirklich für dich, dass meine individuelle Fähigkeit sich darauf beschränkt, Kräfte auszuschalten und vielleicht Basketballkörbe mies zu behandeln. Wenn ich auch Leuten, ohne es zu beabsichtigen, den Hals umdrehen kann, könntest du schlechte Karten haben, wenn du weiter solch nette Dinge von dir gibst.«
Ash hob unbeeindruckt eine Schulter. »Ich hab dich klug genannt. Meiner Meinung nach ist das ein Kompliment … warte einfach kurz hier, ich pack nur was zu essen ein.« Er stieß die Tür auf und verschwand eilig im Flur.
Ich dachte nicht einmal daran, zu warten. Ash hatte mein Haus mehrfach durchwühlt und es war nur fair, wenn ich ihm den Gefallen erwiderte. Abgesehen davon war ich einfach unfassbar neugierig. Also drückte ich gegen die Tür und trat ohne Umschweife in den dahinterliegenden Flur.
Das Haus schien ähnlich aufgebaut wie unseres. Nur, dass es etwas größer war. Doch zu meiner Rechten führte eine Treppe in den ersten Stock und zu meiner Linken hörte ich wie Schränke geöffnet wurden. Vermutlich Ash, der in der Küche rumorte. Ich entschied, dass das obere Stockwerk interessanter für mich war und lief die Stufen hinauf.
Dunkler Holzboden traf auf blütenweiße Wände, die mit kupferfarbenen Bilderrahmen beladen waren, an denen ich nun vorbeihuschte. Einige der Fotos zeigten ein paar der Hüter. Andere Ash mit seiner Mutter. Eigentlich hatte ich vorgehabt, auf direktem Wege in Ashs Zimmer zu gehen. Doch an dem letzten Bild am oberen Treppenabsatz blieb mein Blick schließlich hängen.
Es zeigte einen breiten, braunen Ledersessel, auf dem ein Mann saß, der in seinen späten Dreißigern war. Ein kleiner Junge mit sandfarbenen Haaren thronte auf seinem Schoß und grinste zahnlückig in die Kamera. Vorsichtig beugte ich mich vor und strich mit dem Zeigefinger über das runde junge Gesicht. Das Lächeln war so unschuldig. So frei. Unvoreingenommen und vertrauensselig. So, wie ich es noch nie auf der Miene der älteren Version des Jungen gesehen hatte.
Ash sah so unbeschwert auf dem Foto aus, wie es nur ein Kind tun konnte, dessen größte Sorge es war, am Abend nur einen einzigen Pudding essen zu dürfen. Seine Haare waren eine Spur zu lang, seine Jeans dreckig … und dem Mann, auf dessen Schoß er saß, schien es überhaupt nichts auszumachen. Er trug dasselbe freimütige Lächeln auf dem Gesicht und sah seinem Sohn so verdammt ähnlich, dass es fast gruselig war. Dasselbe Grübchen in der rechten Wange, dieselben leuchtend blauen Augen, die fürsorglich auf den kleinen Jungen gerichtet waren. Die Liebe, die Vater und Sohn auf dem Bild füreinander empfanden, war so greifbar, dass ich sie auf meinen Fingerspitzen zu spüren meinte.
Beim Gedanken daran, dass ihn heute niemand mehr so lächeln sehen konnte, drängte sich ein Kloß meinen Hals hinauf. Hastig lief ich weiter, bevor das Brennen in meinen Augen zu intensiv werden konnte.
Ich war früher oft traurig darüber gewesen, meine Mutter nie kennengelernt zu haben. Keine Erinnerung an ihr Lachen oder ihren Geruch zu haben. Doch manchmal fragte ich mich, ob es nicht leichter war, über die Abwesenheit einer Person hinwegzukommen, wenn sie niemals anwesend gewesen war. Ob ich nicht viel mehr gelitten hätte, wenn ich etliche glückliche Jahre mit ihr verbracht und sie erst dann verloren hätte. Ich stellte mir vor, wie Ash sich das letzte Jahr dabei gefühlt haben musste, jeden Tag an diesem Foto vorbeizugehen und zu wissen, dass die glückliche Person darauf, die ihm jeden Tag das Gefühl gegeben hatte, geliebt zu werden, nicht mehr da war.
Die Luft, die ich einatmete, schien auf einmal zu kalt für meine Lunge. Sie brannte sich förmlich einen Weg meinen engen Hals hinab und ich hielt die Luft an, um mich wieder zu beruhigen. Kurz kniff ich die Augen zusammen, denn die Tränen, die sich darin sammelten, hatten nichts darin zu suchen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich geradewegs durch eine offen stehende Tür. Ich hatte mir Ashs Zimmer nie bewusst ausgemalt. Ich war zu fixiert auf ihn selbst gewesen, um mir seine Umgebung vorzustellen. Doch als ich jetzt in den geräumigen, rechteckigen Raum trat, kam es mir so vor, als hätte ich schon immer gewusst, dass er so aussehen würde.
Der Boden bestand aus demselben dunklen Holz wie der Rest des Hauses … und alle von Ashs Möbeln. Ein breites Bett mit hellblauer Bettwäsche. Drei Bücherregale, die fast eine ganze Wand einnahmen. Ein hoher Schrank mit Spiegeltür. Der Schreibtisch, der so penibel sauber und strukturiert war, dass es mich in den Händen juckte, die sorgsam nebeneinandergelegten Bleistifte herunterzuwerfen und den Computerbildschirm zu verrücken, damit er nicht mehr in einer Linie mit der dunkelgrauen Unterlage aufgereiht war.
Insgesamt war es hier sehr ordentlich, fiel mir auf. Das Bett war gemacht, keine Kleider lagen auf dem Boden herum, kein Papierwust zierte den Tisch. Wenn Ash in diesem Raum stünde, wären das Chaotischste seine Haare.
»Habe ich dir nicht gesagt, du sollst warten?«, erklang eine dunkle Stimme hinter mir. Ich wandte mich um und sah Ash im Türrahmen lehnen. Doch er wirkte nicht wütend und seiner Stimme hatte jegliche Schärfe gefehlt. Vielmehr trug er einen Ausdruck der resignierten Ungeduld. So als hätte er geahnt, dass ich mich hierher verirren würde – und ärgerte sich nun darüber, dass ich ihn nicht überrascht hatte.
»Ich bin nicht gut im Warten«, meinte ich leichthin. »Und es ist nur fair. Du hast mein Zimmer schon mehrfach gesehen … und durchwühlt.«
Er seufzte leise, bevor er eine ausladende Handbewegung machte. »Schön. Tu dir keinen Zwang an. Es ist nicht wirklich interessant.«
Ich wettete, dass ihm da jeder einzelne Mitschülerin widersprochen hätte. Denn das hier war das Zimmer von Ash Hunter! (Hohes Quietschen bitte einfügen.)
Ich hingegen fühlte mich nicht danach, in hoher Stimme seinen Namen zu rufen. Stattdessen machte ich einen Schritt in den Raum hinein und ließ den Blick weiterschweifen. Zu einem riesigen Plakat, das direkt über dem Bett hing und eine Supernova zeigte.
Ich blickte über meine Schulter und verzog das Gesicht. »Ich hätte wirklich eher ahnen sollen, dass ich es mit Aliens zu tun habe, oder?«, murmelte ich. »So, wie ihr vom Sternenhimmel besessen seid?«
Ash hob einen Mundwinkel. »Sagt der Stein zum Glashaus.«
Ich verdrehte die Augen. »Ich bin nicht besessen vom Himmel. Mein Dad ist es und ich bin Opfer seiner Erziehung.«
»Ah ja.«
»Ja«, beharrte ich. »Ich hab zumindest kein Bild einer Supernova über meinem Bett hängen.«
»Aber du hättest gerne auch eins, jetzt, da du es gesehen hast«, erwiderte er sachlich.
Ich legte den Kopf schief und betrachtete das Plakat. Das helle, bunte flirrende Licht, das sich vom nachtschwarzen Himmel abhob. Das tiefe Violett im Kern der Supernova. Das Netz aus Orange, Grün und Blau, das sich wie feine Spinnweben darum herum auffächerte. Es war wunderschön. Ein buntes Spektakel der Superlative.
Ash fing leise an zu lachen und ich verdrehte die Augen. »Halt einfach die Klappe und erklär mir, warum du es dort hängen hast.«
Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich finde es … einfach faszinierend.«
»Supernovae?«
»Ja. Die Vorstellung, dass etwas Millionen von Jahren existiert und sich dann innerhalb weniger Sekunden selbst vernichtet. Einfach verschwindet. Lautlos, weil im Weltall kein Schall getragen wird. Aber dennoch mit einer Macht und Kraft, die wir uns kaum vorstellen können. Und dann erinnere ich mich daran, dass ich einen Stern vor diesem Schicksal bewahren könnte und es ist … faszinierend.«
Verwirrt blinzelte ich ihn an. »Was meinst du? Du könntest ihn vor diesem Schicksal bewahren?«
»Nun ja.« Er kratzte sich das Kinn. »Das ist die Aufgabe der Sternenhüter. Das Leben der Sterne zu verlängern.«
»Aber … wie?«
Ash stieß sich vom Türrahmen ab und kam auf mich zu. »Wenn Sternenleben zu Ende gehen, dann schwellen ihre Körper an. Und um möglichst viel Zeit zu gewinnen, greifen sie auf anderes Brennmaterial in ihrer Reichweite zurück. Die Hüter der Sternenbilder bieten sich als dieses andere Brennmaterial an. Oder zumindest ihre Energie. So verlängern sie das Leben der Sterne. Damit den Menschen auf der Erde die Sternenbilder nicht ausgehen. Was sie seit … nun mehreren Millionen Jahren tun.«
»Deine Mutter ist mehrere Millionen Jahre alt?«, fragte ich schockiert.
Er grinste. »Sie hat sich gut gehalten, oder?«
Widerwillig musste ich lachen. »Ja. Schon. Und du bist …« Plötzlich unangenehm berührt zupfte ich an meinem Jackensaum herum. »Wie alt genau?«
Er warf mir einen ironischen Blick zu. »Achtzehn, Billie. Süße Achtzehn.«
Erleichterung durchströmte mich. Das war gut. Mir gefiel der Gedanke besser, dass er … kein alter Opa war, der schon die Dinosaurier hatte sterben sehen. »Aber du könntest achtzehn Millionen Jahre alt werden? Moment.« Meine Augen weiteten sich. »Könnte ich achtzehn Millionen Jahre alt werden?«
»Nein, ich denke nicht«, meinte Ash und schüttelte den Kopf. »Selbst meine Mutter ist jetzt sterblich. Als sie noch bei den Sternen gelebt haben, war sie es nicht. Aber sie ist mittlerweile zu lange auf der Erde, lebt als Mensch, nicht als Hüterin … Wir genauso. Ich kann mir vorstellen, dass wir noch einen Tick länger leben als der Normalmensch, aber … nicht unendlich. Aber wir wissen es nicht so wirklich. Unsere Eltern sind die ersten Hüter, die auf die Erde gekommen sind und es gibt niemanden, mit dem sie sich vergleichen könnten.«
»Wow.« Ich rieb mir über den Magen, der sich nervös zusammenzog. »Die Hüter haben ihre Unsterblichkeit aufgegeben, um ein Leben als Mensch zu führen?«
»Ja.«
»So schrecklich war die Königin der Nacht?«
»Ich nehme es an.«
Gott. Wie hatten sie es dann Millionen von Jahren unter ihrer Herrschaft ausgehalten? Wenn man wortwörtlich dazu bereit war zu sterben, nur um von ihr loszukommen?
Eine Gänsehaut kletterte bei dem Gedanken meinen Rücken hinab und ich schüttelte mich. Ich wandte mich zu Ashs Bücherregal, um mich von dem Bild eines schlanken, nachtschwarzen Schattenschemens mit glühend roten Augen abzulenken, das sofort in meinem Kopf Gestalt angenommen hatte.
Mit leicht zitterndem Zeigefinger fuhr ich über die etlichen, fein säuberlich aufgereihten Bücher, die alphabetisch nach Autor geordnet waren. Ash schien alles zu lesen. Von Schöne neue Welt von Aldous Huxley bis zu den dicken Game of Thrones -Büchern von George R. R. Martin.
»Sehr … ordentlich«, murmelte ich, mehr zu mir selbst, als zu irgendwem, sodass ich beinahe überrascht war, als Ash antwortete.
»Ja. Seine Bücher nach Farbe zu ordnen, ist Wahnsinn .«
Ich grinste. »Aber Regenbogen-Regale sind so hübsch!«
»Und völlig unbrauchbar, wenn man irgendetwas finden muss.«
»Manchmal ist hübsch wichtiger als praktisch.«
»Das nimmst du zurück.« Der Ausdruck des Entsetzens auf seinem Gesicht, brachte mich zum Lachen.
»Manchmal «, wiederholte ich grinsend, sah zurück zum Regal und bemerkte überrascht, dass ich bei einer Reihe von Büchern angekommen war, die sich nicht dem Alphabet gebeugt hatten. Es waren Medizinbücher, deren Buchrücken schon äußerst mitgenommen aussahen. Titel wie Biologie. Physiologie. Anatomie und Taschenwissen Allgemeinmedizin .
»Also … Supernovae und der menschliche Körper sind deine Passion?«, schlussfolgerte ich langsam und als ich aufsah bemerkte ich überrascht, dass Ashs Blick etwas unruhig von mir zu den Büchern und wieder zurück huschte. Als hätte er vergessen, dass es hier doch etwas in seinem Zimmer gab, das ihm zum Verhängnis werden könnte. Er wirkte fast … nervös?
Nein, das konnte nicht sein, oder? Ash Hunter wurde nicht nervös. Allerdings hatte ich bis vorhin ja auch noch gedacht, dass er nicht verlegen wurde.
»Ash?«, fragte ich verblüfft. »Alles in Ordnung?«
Er blickte auf und ich sah seine Kiefermuskeln arbeiten, bevor er den Mund öffnete, ihn wieder schloss und schließlich murmelte: »Es ist … na ja, ich wollte eigentlich immer gern Medizin studieren. Nachdem mein Dad …« Er fuhr sich unwirsch durch die ohnehin schon unordentlichen Haare, bevor er seufzte und fortfuhr: »Nachdem mein Dad an Krebs gestorben ist. Sie haben ihn erst im Endstadium entdeckt. Es ging alles sehr schnell. Aber hätte man es früher entdeckt … hätte man früher gehandelt …« Er stockte und schluckte. »Es ist auch egal. Auf jeden Fall wollte ich immer Arzt werden. Aber das Community College hier bietet nicht wirklich die Chance und woanders kann ich nicht studieren, also … keine Ahnung, warum ich die Bücher noch immer habe. Ich werde mir irgendetwas anderes suchen müssen.«
Ich verschränkte die Finger ineinander und rieb mit dem Daumen über meine Handinnenfläche. »Ich finde, das solltest du nicht. Dir was anderes suchen.« Ich räusperte mich und blickte auf. Sah in seine eisblauen Augen, die es trotz ihrer Farbe immer schafften, warm zu wirken. »Wenn du Medizin studieren willst, solltest du versuchen, Medizin zu studieren. Vielleicht kann ich ja irgendwie … also, wenn ich meine Fähigkeiten irgendwann doch kontrollieren kann … einen persönlichen Schutzschild um dich legen oder so. Und um Kala. Damit ihr an die Ostküste oder sonst wohin gehen könnt.«
Er hob einen Mundwinkel. »Ich glaube nicht, dass es so einfach ist.«
Ich schluckte und wandte den Blick ab. Sein Lächeln war … zu viel. »Dinge, die wichtig sind, sind nie einfach«, erwiderte ich leise. »Und ich finde es toll. Dass du etwas hast, für das du so viel Leidenschaft besitzt, dass du dir Bücher darüber kaufst und sie offenbar auch liest.« Mit den Fingerkuppen glitt ich über die Leserillen, bevor ich mich zwang, ihn wieder anzusehen. »Du solltest den Traum nicht einfach so aufgeben. Ich … Ich zum Beispiel habe nichts, wofür ich ein solches Feuer verspüre. Und manchmal wünschte ich mir, es wäre so.«
Eine Falte bildete sich zwischen Ashs Augen, während er mich eindringlich betrachtete. »Wovon redest du? Du hast eine Leidenschaft.«
Ich biss auf meine Unterlippe. »Dich zu manipulieren, zählt nicht.«
Er schnaubte. »Das meine ich nicht. Ich spreche von deiner Besessenheit davon, das Richtige zu tun. Fair und freundlich zu sein. Auf Ehrlichkeit zu bestehen.«
Ich verdrehte die Augen. »Das ist keine Leidenschaft! Das ist eine Lebenseinstellung. Übrigens eine, die jeder haben sollte!«
»Oh ja, ich stimme dir zu. Aber die wenigsten tun es«, meinte er leichthin. »Du schon. In Massen. Also ist doch klar, was du mit deinem Leben machen wirst. Du wirst Menschen helfen. Außenseiter integrieren. Gerechtigkeit durchsetzen. Ich tippe also auf Psychologie oder Jura oder Soziale Arbeit. Irgendetwas in die Richtung.«
Mit perplex geöffnetem Mund starrte ich ihn an. »Ich … also … ich glaube nicht, dass ich … dass ich so anders als die meisten in dem Bereich bin.«
Ash hob die Augenbrauen. »Billie, du hast Derek dazu gezwungen, sich bei dem Mädel zu entschuldigen, dessen Namen er vergessen hat! Du hast ihm ins Gesicht gesagt, dass er sich wie ein Arschloch verhält. Mir übrigens auch. Das hätte niemand anderes getan.«
»Na, wenn ich es euch nicht sage, wer tut es dann?«, meinte ich kokett.
Ash lächelte breit. »Eben. Und du hast versucht, dich mit Ben anzufreunden, obwohl er ein Außenseiter war. Vielleicht gerade deswegen. Du fühlst dich zu Leuten hingezogen, die Schwierigkeiten haben. Du hast dich für Kala und mich auf eine Horde Schattenritter geworfen, ohne auch nur darüber nachzudenken. Das ist nichts, was jeder Normalsterbliche einfach so tut. Du willst helfen und das Richtige tun und die Wahrheit wissen. Leidenschaftlich gern. Und es ist unfassbar nervig – aber auch scheiße bewundernswert.«
Ich blinzelte und starrte ihn mit trockenem Mund an. Das war vielleicht eins der schönsten Komplimente gewesen, die ich je bekommen hatte. Und das obwohl der Satz Es ist unfassbar nervig Teil davon gewesen war.
»Okay«, brachte ich nur hervor. »Dann … habe ich das.«
Bis jetzt war es mir nur nie wie etwas vorgekommen, auf das ich stolz sein könnte. Das mich … besonders machte. Aber Ash sah mich an, als sei es das, und ich wollte ihm glauben.
»Gut.« Er räusperte sich und wandte sich um. »Können wir dann jetzt gehen? Oder willst du noch meine Unterwäsche durchwühlen?«
»Nein. Die hebe ich mir fürs nächste Mal auf«, murmelte ich und lief an ihm vorbei auf den Flur. Meine Schultern waren steif. Mein Nacken prickelte. Mein Herz schlug schneller als sonst.
Und diesmal wusste ich, dass es nichts mit meinen Hüterfähigkeiten zu tun hatte. Das war allein Ashs Schuld.