Kapitel
29

Das alles hier fühlte sich nicht real an. Es war … falsch. Schief. Wellig an den Rändern. Ein Computerspiel, von dem ich den Aus-Knopf nicht fand.

Es war, als wäre ich in einen Albtraum gestolpert, der seine eiskalten Hände fest um meine Schultern zurrte und so verhinderte, dass ich endlich aufwachte.

Meine Umgebung bewegte sich in Zeitlupe. Aber nicht, um mein Leid hinauszuzögern. Sondern um mir die Unausweichlichkeit unserer Niederlage in allen Einzelheiten aufzuzeigen. Wir waren zu zweit. Mitten im Wald. Unter Dutzenden Bäumen, deren lange knorrigen Äste, die das Mondlicht abwehrten, keinen Schutz boten, sondern ein Gefängnis waren. Uns die Bewegungsfreiheit nahmen. So sehr einengten, dass die düsteren Gestalten, die auf uns eindrängten, sich nicht einmal beeilten. Sie schlenderten. Nahmen sich die Zeit, bedrohlich über uns aufzuragen. Ihre Schattenglieder zu strecken. Uns mit jeder ihrer Bewegungen zu warnen, eine falsche Bewegung zu machen. Weil sie wussten, dass uns kein fairer Kampf bevorstand.

Und ich verstand plötzlich, warum die Ritter nie sprachen. Denn sie taten nur das Nötigste. Sie waren nicht grausam. Sie wollten uns nicht wehtun. Sie hatten nichts gegen uns. Sie hatten keine eigene Agenda. Sie hatten lediglich einen Auftrag. Sinnloses Gerede hätte diesem nur im Weg gestanden. Und seien wir ehrlich: Sie brauchten es auch gar nicht. Gesten sagten mehr als tausend Worte. Und Gesten aus Schatten und Schwärze mehr als hunderttausend.

Meine Lippen klebten aneinander, während mein Blick über die Ritter zum Schlangenträger und zurück huschte. Während ich nach einem möglichen Ausweg suchte. Während ich auf Motorengeräusche oder fremde Stimmen horchte, die uns zu Hilfe eilten.

Doch da war nichts außer Stille. Und mein schwerer Atem. Und das Knistern von steifen Schattenrüstungen auf Laub. Und Ashs Zähneknacken.

»Wie zur Hölle kannst du einfach nur dastehen?«, flüsterte er verächtlich. Mit glühenden Augen. Glühenden Fäusten. Flirrender Hitze, die seinen Körper umgab wie Funken ein Lagerfeuer. Sein Blick war starr auf Gavin gerichtet. So als würde er die Dunkelritter gar nicht wahrnehmen. Als wären sie unwichtig. »Wie kannst du nicht einmal den Anstand haben wegzugehen? Sondern uns dabei zuzusehen, wie wir gleich überwältigt werden?«

Da war keine Hoffnung auf Rettung in seiner Stimme. Kein arroganter Übermut. Nur stumpfe Sachlichkeit. Denn er wusste, dass wir keine Chance hatten. Sie waren zu viele. Wir allein. Es war ein Hinterhalt gewesen. Und es würde ein erfolgreicher sein. Es war schlichtweg unmöglich gegen sie alle zu gewinnen.

Gavin lachte bitter auf. »Es ist so typisch, Ashton, dass du die Fehler immer nur in anderen siehst und nicht in dir selbst. Wie kann ein einzelner Akt Millionen von Jahren der Verachtung und Ignoranz gleichgestellt werden?«

»Wovon zur Hölle redest du?«, knurrte Ash … und erst jetzt huschte sein Blick zu den Dunkelmännern, die sich Zeit damit ließen, uns einzukreisen.

Der Schlangenträger lachte hohl. »Eure Ignoranz ist wirklich bewundernswert …« Kopfschüttelnd, die Zähne in die Unterlippe geschlagen, starrte er Ash an. »Ihr seid so ahnungslos. Ihr Kinder, die keine achtzehn Jahre in diesem Universum leben und glauben, sie hätten die Ordnung der Welt verstanden. Die denken, vor einer weißen Leinwand zu stehen, die sie frei bemalen können. Aber das tut ihr nicht. Ihr seid das Echo von uns. Wir aber sind der ursprüngliche Schrei. Und ich hätte von Anfang an auf die Königin hören sollen. Ich hatte nie auch nur eine Chance. Aufgenommen zu werden. Teil von irgendetwas zu werden. Wie im Nachthimmel, so auf Erden, oder nicht? Und es ist die eine Sache, dass die Menschen mein Sternzeichen nie ernst genommen haben … aber die Hüter waren so viel schlimmer.«

Ash presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich hab dich nie schlecht behandelt.«

»Nein. Nicht mich. Aber Ben war trotzdem nie wirklich Teil von euch, oder?«, sagte er leise und diesmal war seine Stimme nicht bitter. Diesmal war sie verletzt. Zornig.

Ash öffnete den Mund, blinzelte – doch sagte nichts. Weil es die Wahrheit war. Ich wusste es. Er wusste es. Die Kinder hatten das Erbe ihrer Eltern angetreten. Nicht mit Absicht, aber gewehrt hatten sie sich auch nicht.

Doch das machte Gavins Handlungen nicht weniger grausam. Das machte seinen Blick nicht weniger hasserfüllt. Seine Taten nicht weniger falsch. Denn man wog Fehltritte nicht gegeneinander auf. Vergalt eine schlechte Entscheidung nicht mit einer anderen. Bestrafte Kinder nicht für ihre Eltern. Wandelte Wut und Hass nicht in Schmerz.

»Ja«, sagte er langsam. »Das dachte ich mir.« Seine Lippen waren nur noch eine dünne, weiße Linie. »Also, kümmere dich nicht um mich. So wie es deine Mutter und all die anderen seit Millionen von Jahren schon zur Tradition gemacht haben. Denk nur an dich. Denk nicht darüber nach, dass ich weggehen müsste … sondern daran, dass ihr es seid, die rennen solltet. Ich kann gehen, wann ich will.« Er breitete die Arme aus. »Ich glaube nicht, dass meine Freunde euch dieselbe Ehre zuteilwerden lassen.« Er nickte mit einem seichten Lächeln zu den düsteren Gestalten, die stumm immer näher kamen. »Und ich kann die Angst auf dem Gesicht deines Anhängsels erkennen. Solltest du nicht versuchen, sie zu beschützen?«

Galle stieg in mir hoch und benetzte bitter meine Zunge. Und es war mir egal, dass er vermutlich recht hatte. Dass wir rennen, wenigstens versuchen sollten, zu entkommen. Stattdessen waren meine Füße auf dem Boden festgeschweißt. Das Blut pumpte in dreifacher Geschwindigkeit durch meine Adern. Und mein Verlangen, etwas zu zerstören, wuchs heiß und rot in meiner Brust. Bis ich es auf jeder einzelnen meiner Fingerspitzen vibrieren spürte. Bis es nur darauf wartete, erfüllt zu werden.

Ich hatte nichts mit alledem zu tun. Ich wusste noch nicht einmal wirklich, wovon er redete. Ich hatte versucht, mich mit Ben anzufreunden. Ich war niemandem respektlos oder verächtlich entgegengetreten. Ich hatte mir Mühe gegeben, gut zu sein.

Trotzdem stand er jetzt da und verurteilte mich zur Sklaverei – oder zum Tod, wer weiß schon, was die Königin der Nacht mit uns vorhatte. Trotzdem regte sich nicht einmal ein Muskel in seinem Gesicht, als die erste Kältewelle der Dunkelritter über uns wusch und sich die Haare auf meinem ganzen Körper aufstellten. Trotzdem sah er mich mit mindestens ebenso viel Verachtung an wie Ash.

Und ich war es leid, nur der Nebencharakter in meiner eigenen Geschichte zu sein. Leid, nicht beim Namen angesprochen zu werden, sondern nur als Problem oder Neue bezeichnet zu werden. Leid, nur als Fußnote irgendwo erwähnt zu werden und mir von Leuten erzählen zu lassen, was ich fühlte. Oder was ich zu fühlen hatte.

Also streckte ich den Rücken durch. Biss die Zähne aufeinander. Ignorierte die Feinde direkt vor uns, die mit jeder Sekunde engere Kreise um uns zogen. Konzentrierte mich nur auf den Mann, der mich als Anhängsel bezeichnet hatte.

»Ich habe keine Angst«, wisperte ich scharf und ballte meine Hände zu Fäusten. Denn es war die Wahrheit. Die Wut über meine Machtlosigkeit über alles, was in dieser verdammten, wundervollen Stadt passierte, überwog meine Furcht.

»Natürlich hast du Angst«, spottete Gavin.

»Nein«, sagte ich hart. »Ich fürchte mich nicht im Dunkeln. Das habe ich noch nie. Das, was du siehst? Es ist verdammte Wut .« Meine Stimme zitterte nun so sehr wie meine Fäuste. »Und wenn du nicht willst, dass Leute über dich urteilen, dann hör auf, es selbst zu tun. Denn ich bin ganz sicher nicht Ashs Anhängsel und ich kann mich selbst verteidigen.« Meine Stimme war mit jedem Satz lauter geworden und es war das vorletzte Wort, das meine Haut sprengte. Es war der spöttische Gesichtsausdruck des fremden Hüters, der mich meine Beherrschung verlieren ließ. Der meine Kräfte, die bereits den ganzen Nachmittag nur darauf warteten, immer und immer wieder benutzt zu werden, abrupt zum Leben erwachen ließ.

Die Schatten schossen aus mir vor wie ein Stein aus einer Schleuder. Sie waren so schnell, dass ich ihnen nicht mit meinem Blick folgen konnte. Dass ich sie selbst kaum spürte. Dass ich nichts als den Wind wahrnahm, den sie verursachten. Instinktiv machte ich eine ruckartige Bewegung mit meinem rechten Arm. Als wolle ich eine Fliege verscheuchen.

Ich sah, wie Gavin die Augen weitete. Wie sein Mund sich zu einem tonlosen O formte, als die ihm fremde Dunkelheit ihn einfach von seinen Füßen wischte, ihn hochhob und zur Seite schleuderte. Als wären sie ein Rammbock, den ein Dutzend Männer gleichzeitig gegen seine Seite donnerten.

Das Gefühl des Stoffs seines dicken Pullovers auf meiner Hand verflüchtigte sich innerhalb eines Wimpernschlags und dann krachte er gegen den nächstbesten Baum.

Das grässlich knirschende Geräusch von knackenden Knochen auf Holz erklang und trieb Übelkeit in meinen Magen. Dann glitt Gavin die Rinde hinab und traf mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden auf.

Schockiert riss ich die Augen auf blickte auf den leblosen Schemen, der im Laub lag. Das hatte ich nicht gewollt! Ich hatte ihn nur umwerfen wollen, nicht gegen den nächstbesten Baum donnern. Und dennoch hatte ich es getan! Mit nicht viel mehr als einer Bewegung meiner Hand, die noch immer ein grauer Schleier umgab.

»Billie«, hauchte Ash, seine Stimme so rau wie die Rinde, an der der Schlangenträger gerade noch hinuntergesackt war. »Was tust du?«

Ich fuhr zu ihm herum und sah den gleichen Schock auf seiner Miene, den ich verspürte.

»Ich weiß es nicht! Ich wollte nicht … ich wollte ihn nur umwerfen! Ich …«

Nein, Billie, du wolltest ihn bestrafen , flüsterte eine elendig weiche Stimme in meinem Kopf.

»Nein«, hauchte ich und schüttelte ihn. Immer wieder. »Es war ein Versehen, Ash! Ich wollte nicht …«

Doch Ash sah mich längst nicht mehr an. Sein Blick war nach vorn gerichtete und als ich ihm folgte, wusste ich auch, warum. Ich mochte Gavin ausgeschaltet haben, doch die Dunkelritter waren noch immer da. Und sie ließen sich keine Zeit mehr. Es war, als hätten sie den Ernst der Lage begriffen. Als sei die Zeit, mit uns zu spielen und dem Schlangenträger seinen Triumph zu lassen, nun vorbei.

Adrenalin, zusammen mit kleinen kalten Dolchen, zuckte durch meine Adern. Erschwerte mir das Atmen. Ich fuhr herum. Sah über meine Schultern. Konnte die Bäume vor lauter Schattengestalten, die sich immer länger zogen, eine Verbindung zwischen nachtschwarzem Himmel und düsterem Waldboden bildeten, nicht mehr erkennen.

Und dann fing Ash an zu leuchten. Nicht langsam und vorsichtig, so wie heute am See. Wo sich die Schönheit seiner Fähigkeiten Sekunde um Sekunde weiter vor mir entfaltet hatte. Sondern sofort und mit der Wucht von zwei Sonnen.

Ein Ball aus Licht und Hitze formte sich sekundenschnell um seinen Körper, wusch über mich und nahm mir den Atem. Fegte den grauen Schleier von meinen Händen und verlangsamte mein Blut. Presste meinen Hals enger zusammen, machte meine Glieder merkwürdig steif.

Meine Knie fingen unter der Last der fremden Macht an zu zittern. Als würden zwei Ambosse auf meinen Schultern lasten. Während ich sah, wie Ashs Hände durch die Luft flogen, wie er Löcher in die Dunkelheit schoss. Sicheln aus Sternenlicht formte und sie nach hinten und vorn warf. So schnell, dass mir schwindelig wurde.

Jede einzelne traf ihr Ziel. Jeder Wurf ein Treffer. Licht kollidierte mit Dunkelheit und ließ sie in tausend Fetzen zerstieben. Wie schwarze Sandfiguren, die ihren Halt verloren.

Ich sog heiße Luft in meine Lungen, die mich von innen heraus zu verbrennen schien, hob die Hand vor meine Augen, um mich vor dem grellen Glühen zu schützen. Das Sternenlicht blendete mich, doch ich konnte noch genug sehen. Genug, um zu wissen, dass es nicht reichen würde. Niemals reichen würde. Egal, wie treffsicher und schnell Ash war.

Es waren zu viele. Die Königin hatte aus ihrem vergangenen Fehler gelernt. Sie machte keine halben Sachen mehr. Ließ nichts auf den Zufall ankommen. Sie hatte eine Armee von nachtschwarzen Soldaten geschickt, um den vielleicht stärksten Hüter ihrer Sammlung hinzuzufügen.

Ash mochte die Ritter mit seinem Licht noch eine Weile von uns fernhalten können, doch seine Kräfte würden erschöpft werden. Seine Reflexe langsamer. Es war nicht genug . Er war allein und …

Nein.

Nein, nein. Er war nicht allein. Er hatte mich.

Ich war hier. Und ich wollte helfen. So wie ich letztes Mal geholfen hatte. Ich musste einfach irgendetwas tun. Wenn ich einen mächtigen Hüter mit meinen Kräften durch die Luft schleudern konnte, dann doch auch sicher einen einfachen Dunkelritter! Also stellte ich mich breitbeinig hin, kniff die Augen zusammen, verscheuchte die Hitze, die meinen Körper lähmte und drängte erneut die Schatten aus meinen Händen …

Ashs Licht erlosch schlagartig. Oh, Shit.

»Billie!«, rief Ash laut und seine Stimme hallte wie Krähengeschrei durch den Himmel. »Was tust du?«

Die Dunkelritter hatten die Lücke erkannt. Sie fluteten mit einem Mal auf uns zu.

»Billie!«, schrie Ash und ich spürte seinen glühenden Blick auf mir. »Hör auf damit. Gib sie mir zurück

Meine Hände fingen an, unkontrolliert zu zittern. Was tat ich? Was tat ich? »Tut mir leid. Es … Es war ein Versehen!«, stammelte ich, während meine Schatten sich tastend den Waldboden entlangstahlen, nicht wussten, was sie tun sollten. Weil ich nicht wusste, was ich tun sollte. »Das wollte ich nicht.«

»Ist mir egal, was du wolltest!«, brüllte Ash ungläubig. »Hör auf, mich zu blockieren.«

Ich blinzelte. Schluckte. Versuchte zu erfühlen, ob ich zwei verschiedene Kräfte auf einmal benutzte. Ob es zwei verschiedene Stränge waren, an denen ich zog. Mein Schattenstrang und der, der Ash behinderte.

Doch ich fühlte nichts . Nichts außer die pure Macht, die zusammen mit den nachtschwarzen Schatten aus meinem Körper sickerte. Nichts außer das Verlangen, uns zu schützen. Ihn zu schützen.

»Ich kann nicht!«, rief ich verzweifelt. »Ich weiß nicht wie . Ich mache es nicht bewusst.«

Die langen Schatten der Dunkelritter strichen nun über Ashs Füße, klammerten sich um seine Knöchel und das Blut floss ihm mit einem Mal aus dem Gesicht. Ließ es bleich aufleuchten. Als würde diese einfache Berührung ihm seine Kräfte nehmen.

Und die Furcht, die sich auf seiner Miene widerspiegelte, jagte mir mehr Angst ein, als es die Gestalten je gekonnt hätten.

»Ash«, wisperte ich, als einer der Nachritter von hinten die Hände um seinen Hals legte. Warum attackierten sie nur ihn? Warum zur Hölle ließen sie mich in Ruhe. »Ash!«

Doch Ash antwortete nicht. Er hatte den Mund geöffnet, die Hände noch immer erhoben. Doch ohne seine Kräfte war er machtlos. »Ash, streng dich mehr an!«, schrie ich lauter, sodass mein Hals anfing zu brennen. Doch da war kein Glühen in seinem Blick. Kein Schimmern unter seiner Haut. Da war nichts mehr.

Und ich war schuld. Ich nahm ihm alles, ohne es zu merken.

Doch wenn ich ihm schon seine Fähigkeiten nicht zurückgeben konnte, dann konnte ich zumindest meine benutzen. Also schob ich meine Panik beiseite, ließ ihr keinen Platz in meinem Kopf oder Körper und konzentrierte mich stattdessen auf meine Kraft. Befahl ihr, dasselbe zu machen wie schon bei Gavin.

Ich holte mit meinen Schatten aus, die in einem faustdicken Strahl nach vorn stoben, direkt auf den Dunkelritter zu, der nun den Arm um Ashs Hals zog, seinen Oberkörper nach hinten bog.

Ich wartete darauf, dass er zurückstolperte. Dass es ihn von den Füßen riss. Doch nichts passierte. Meine Dunkelheit floss einfach durch den Schemen hindurch. Als hätte sie keine Form. Keine Substanz.

Und Ashs Lider flatterten zu, während ein anderer Ritter an seinen Füßen zog, ihn umwerfen wollte.

»Nein, verdammt!«, schrie ich, die ganze Verzweiflung, die in meinem Inneren tobte in diese zwei Wörter legend. »Nein, hört auf! Kommt hierher. Ich bin die größere Bedrohung«, brüllte ich.

Und auf wundersame Art und Weise hielten die Dunkelritter inne. Ließen plötzlich von Ash ab, der scharf die Luft einsog. Sie bewegten sich auf mich zu.

»Billie«, krächzte er und ich konnte seine strauchelnde Kontur hinter den Dunkelrittern, die nun auf mich zuströmten, nur erahnen. »Zur Hölle, verteidige dich!«

Verteidigen? Oh ja, verteidigen! Aber wie? Meine Schatten funktionierten nicht! Nicht bei ihnen offensichtlich.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll!«, schrie ich gehetzt, auch wenn die Erleichterung, endlich wieder seine Stimme zu hören, mich beinahe zu Boden hätte sinken lassen. »Ich bin noch neu bei dem ganzen Kampfzeug, Ash!«

»Dann kämpfe nicht, sondern schütz dich«, brüllte er heiser. »Mach das, was du bei der Sporthalle gemacht hast!«

»Aber hier gibt es keine Laternenmasten«, erwiderte ich panisch.

»Du hast sie nicht mithilfe von Metall verscheucht«, rief Ash ungläubig.

Oh, nein. Hatte ich nicht. Aber was hatte ich gemacht, außer … außer … meine Hände hochzureißen und mir zu wünschen, dass sie verschwanden.

Ich schluckte und stieß beide Arme ruckartig in die Luft. Tat das, was Ash mir heute den ganzen Nachmittag gepredigt hatte: Verließ mich darauf, dass ich es schon irgendwie schaffen würde. Dass ich genug war. Dass ich …

Es riss mich fast von den Füßen. Die Schwärze brach aus mir hervor wie Luft aus einem geplatzten Ballon. Der Energieschub ließ mich zurückstolpern und nahm mir beinahe mein Gleichgewicht. Schlug eine Welle über den Waldboden. Wirbelte das Laub auf, das wild durch die Luft tanzte. Traf auf den ersten Dunkelritter … und verschluckte ihn.

Ich spürte seine Präsenz auf meinem Körper. Eine Mischung aus kühlem Metall und rauem Stein. Bevor er sich in Luft auflöste und verschwand. Der Dunkelritter war nicht mehr zu sehen. Meine Schatten hatten ihn einfach … vereinnahmt.

»Fuck«, entwich es Ash, doch ich hörte ihn kaum. Der Puls, der laut in meinen Ohren pochte, übertönte ihn. Die Macht, die mich flutete wie düstere Sonnenstrahlen, blendete ihn aus. Ich nahm nur vage wahr, dass er irgendwo schräg hinter mir stand – ertastete ihn vielleicht sogar? – während die anderen Dunkelritter weiter auf mich eindrängten … und ich meine Kraft ausweitete. Die Fläche einfach größer werden ließ. Keine Rücksicht auf die Bäume oder Soldaten nahm.

Ich spürte Metall auf meiner Haut. Dann Stille. Da war rauer Stein unter meinen Fingerspitzen. Gefolgt von Leere. Einer nach dem anderen wurden sie von meiner Kraft überrollt. Zerstoben nicht in tausend Stücke wie bei Ash, sondern verloren einfach innerhalb meiner Dunkelheit ihre Konturen. Gaben sich ihr hin. Ob sie wollten oder nicht.

Gott, es war so leicht. Mühelos. Schwerelos.

»Genug.«

Das Wort war leise. Aus weiter Ferne.

»Genug, Billie. Es ist genug!« Es war Ash. Ash, der näher kam. Der jetzt in mein Sichtfeld trat. Dessen Blick hektisch zwischen meinem Gesicht und den Schatten hin- und hersprang, die nun aus jeder meiner Pore flossen. Schwarzer Schweiß, dunkle Tränen waren.

»Nein. Nur noch die Letzten«, hauchte ich.

»Du hast die Letzten längst erwischt«, rief er und seine Augen leuchteten merkwürdig hell auf. »Hör auf, Billie! Hör auf! «

Ich holte zitternd Luft, starrte auf meine schwarzen Nägel, nickte langsam. Er hatte recht. Hatte er recht? Ja, er hatte recht. Ich musste aufhören. Hier war niemand mehr. Nur noch wir und meine Kraft.

Ich wollte die Schwärze zurückrufen. Ihr zu verstehen geben, dass ich sie nicht mehr brauchte. Doch sie hörte nicht. War schon zu weit weg. Das Gefühl der Macht zu süß.

»Billie!« Ashs Stimme war nur noch ein dunkles Knurren. »Die Bäume! Hör auf, zur Hölle! «

Meine Augen fingen an zu brennen. Meine Hände waren eiskalt. Bäume knarzten unheilvoll. Ich spürte ihre Rinde überall auf einmal. Als würde sie mich umgeben.

Ich sah an mir hinab. Doch da waren keine rauen Stämme, die auf mich einpressten. Da war nur Finsternis, die meinen gesamten Körper einhüllte. Die immer noch weiter aus mir hervorquoll. Und es war das erste Mal, dass ich Angst vor der Dunkelheit hatte. Echte Angst.

Meine Kehle schnürte sich enger und mein Atem wurde hektischer. Aufhören. Ich musste aufhören.

Doch ich konnte nicht. Und ich spürte das Laub. Spürte die kalte Luft. Spürte Ashs Präsenz, die ich nicht berühren wollte. Aus Angst mich zu verbrennen. Spürte die piksenden Äste.

Spürte, wie ich die Kontrolle verlor. Spürte es, als wäre sie ein Ball, den ich zwanghaft versuchte mit den Händen festzuhalten, während er immer weiter meinen Fingerspitzen entglitt. Spürte, wie meine Kraft an all meinen Gliedmaßen gleichzeitig zerrte. Mich in alle Himmelsrichtungen verbiegen wollte. Die Schwärze floss aus meinen Poren, als würde meine Haut sie atmen. Hektisch und flach. Ich fühlte, wie sie über den Boden glitt. Spürte das raschelnde Laub auf meinen Armen, die feuchte Erde unter meinen Fingernägeln. Ich spürte den kalten Wind, der über sie hinwegstrich. Spürte Ashs Hitze, die gegen sie ankämpfte. Spürte die raue Rinde der trockenen Bäume, die mir die Knie aufschürften. Wusste nicht, ob ich Tautropfen spürte, die über meine Schatten hinabrollten oder ob es Blut war, das meine Beine hinablief.

Denn zusammen mit der Kontrolle hatte ich auch jeden Sinn für Realität verloren. Jeden Sinn dafür, was ich spürte, was die Dunkelheit spürte, die ich in alle Himmelsrichtungen schickte, ohne ihr den Befehl dazu zu geben. Die versuchte mich zu verteidigen, obwohl nichts mehr übrig war, vor dem ich mich verteidigen müsste.

Ich wusste nicht, ob ich gegen mein Unterbewusstsein, gegen mich selbst oder etwas völlig Fremdes kämpfte, das mich in Besitz nehmen wollte. Suchte noch immer nach dem Schalter, den ich umlegen konnte, damit es endlich aufhörte, als ich Ashs Stimme hörte. Sie war furchtbar fern, obwohl ich ihn doch direkt neben mir stehen sehen konnte. Aber ruhig. Bestimmt.

»Billie. Hör auf.«

»Ich weiß nicht wie!« Die panischen Töne gingen fast unter in wirbelndem Schwarz. Liefen Tränen meine Wangen hinab, perlte Schweiß von meiner Stirn? Oder hatte ich den See erreicht? Strich meine Schwärze bereits über seine glatte Oberfläche? »Ash, hilf mir!«

»Lass sie los, Billie. Befehl ihr, dich loszulassen.«

»Wie? Ich kann mich auf nichts anderes konzentrieren. Nichts anderes spüren …« Ich war kaum dazu in der Lage, diese Worte zu formulieren.

»Billie.« Seine Stimme war ein Flüstern …. Bevor sein Gesicht vor meinem auftauchte. Seine hell leuchtenden Augen aufblitzten. Er sacht die glühenden Hände hob – und sie um meine Wangen legte. Etliche kleine Stromstöße in meine Poren schickte. Aber auch Wärme. So unendlich schöne Wärme.

»Hör auf«, flüsterte er und sein Atem strich über meine Lippen.

»Ich kann nicht …«

»Du kannst.«

»Ich weiß nicht wie … sie ist überall . Die Schwärze.«

»Vergiss die Schwärze. Konzentrier dich nur auf mich.«

»Wie? «

Er küsste mich.

Presste seine Lippen sanft auf meine – und brachte die Zeit zum Stehen. Alles um mich herum wurde still. Weich. Warm.

Es fühlte sich an, als würde Licht mich fluten. Als würde ein weiches Glühen in meiner Brust anschwellen. Ein flatterndes wunderschönes Glühen. Während er mit den Daumen über meine Wange strich, mein Kinn leicht anhob, um den Kuss zu vertiefen.

Seine Lippen suchten. Fanden meine. Ich fuhr mit der Hand in seinen Nacken, spürte, wie seine Haare meine Fingerknöchel kitzelten. Sog seinen Geruch nach Holz und ihm ein. Stellte mich auf die Zehenspitzen und lehnte mich gegen ihn. Sog die Wärme auf. Ließ alle meine Sinne ertasten und erschmecken, bis mein Kopf leer war. Ich nahm und ich gab. Schiere Ewigkeiten. Und es war nicht genug.

Bis es zu viel war.

Von einer Sekunde auf die andere schlug die Stimmung um. Meine Lippen waren auf einmal taub. Meine Haut brannte vor Kälte. Die Luft flirrte vor Hitze. Ashs Fingerspitzen auf meinen Wangen waren auf einmal unerträglich. Meine Hand in seinem Nacken glühte schmerzhaft auf.

Ich riss keuchend die Augen auf, wollte ihn wegstoßen. Mich von seiner leuchtenden Form lösen. Konnte nicht. Denn während meine Schwärze sich rasend schnell zurückzog, breitete sich sein Licht ebenso rasant aus. Es schweißte uns zusammen. Wir waren zwei Magnete, die nicht voneinander loskonnten.

Bis Licht und Dunkelheit sich in der Mitte trafen. Dunkel auf hell. Schwarz auf weiß. Kalt auf heiß.

Meine Schatten riss es kreischend in Fetzen. Sein Sternenlicht zerbrach schreiend in tausend Funken. Asche und Glut fanden zusammen. Tauchten ineinander ein, verschmolzen zu etwas Größerem. Zu einem Kaleidoskop aus glühender Nacht. Ein Ball aus Schwärze, durchzogen von Adern aus Licht.

Und es war wunderschön. Einen Atemzug lang – eine endlose Sekunde lang – war es absolute Vollkommenheit.

Bevor es anfing zu zischen. Als tauche jemand ein glühendes Eisen in eiskaltes Wasser. Bevor ein lautes Knistern meinen Körper zum Vibrieren brachte. Wie eine Kiste gefüllt mit entzündeten Streichhölzern. Bevor alles zusammenbrach. Wie ein Tongefäß unter einem Hammer.

Tiefes Violett breitete sich von unseren Körpern aus. Ein Netz aus Orange, Grün und Blau, das sich wie feine Spinnweben darum herum auffächerte, immer weiter … bis die Nacht explodierte.