FÜNF

VANDER

„Kumpel, hör auf. Du bringst gerade die Boxen durcheinander.“ Ich runzle die Stirn, als Tyler die sorgfältig geordneten Boxen im Wohnzimmer durcheinander wirbelt.

„Du bist der Einzige, der in diesem Chaos etwas findet.“ Tyler schaut sich hilflos um, während er eine der Boxen in der Hand hält. „Sieh es einfach so, dass ich versuche, Ordnung in die Unordnung zubringen.“

Er trägt die Box quer durch den Raum und stapelt sie auf eine andere im Flur. „Außerdem muss ich etwas Platz schaffen. Ich will nicht, dass Charlie denkt, wir wären Chaoten, die zu faul zum Aufräumen sind.“

Allein die Erwähnung von Charlie lässt mein Herz ins Stocken geraten. Ich habe mein Bestes getan, um Tylers endloses Geplapper zu ignorieren. Aber das ist schlichtweg unmöglich. So gern ich auch das Gegenteil behaupten würde, Charlie kommt heute wirklich vorbei. Ich werde ihm wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen müssen und ich bin keinen Schritt weiter in meiner Recherche, was es mit ihm … und mir auf sich hat. Oder nur mit mir. Ich weiß es nicht mehr.

Tyler ist so aufgeregt, dass er gar nicht bemerkt hat, dass ich seit unserem Besuch in der Bäckerei schmolle. Die aufschlussreiche Websuche hat mich nicht gerade beruhigt. Wenn überhaupt, hat sie mich noch mehr verwirrt.

„Hör auf, lass mich das machen …“ Widerwillig stehe ich auf. Wenn ich Tyler das Wohnzimmer aufräumen lasse, werden wir jedes Mal eine Suchaktion starten müssen, um etwas zu finden.

„Einverstanden … ich geh mich dann mal in Schale schmeißen.“ Tyler schnüffelt an seinen Achselhöhlen, während er zurücktritt, damit ich mir einen Überblick über das Durcheinander verschaffen kann, das uns umgibt. „Uff … und wahrscheinlich duschen.“

„Du hast gerade geduscht.“

Er erschaudert, als hinge ihm sein fürchterlicher Geruch immer noch in der Nase „Ich schwitze schon den ganzen Morgen … riecht man das nicht?“

„Was hat dich denn bitte schön, ins Schwitzen gebracht?“, frage ich mit hochgezogener Augenbraue. „Du hast drei Plastikboxen von einer Seite des Raumes auf die andere getragen. Das ist nicht wirklich schweißtreibende Arbeit.“

„Nee, Alter, ich bin aber verdammt nervös.“ Er fährt sich mit den Händen durchs Haar und schenkt mir ein verlegenes Lächeln. „Er wird bald hier sein, und ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass er irgendwie besonders ist.“

„Wie besonders?“ Ich beginne, die Behälter nach Datum zu ordnen, sodass die neuesten Aufträge ganz unten stehen.

„Ich kann es nicht erklären.“ Tyler schüttelt den Kopf. „Besonderes halt. Er ist hinreißend. Er kann backen. Er ist … ich weiß nicht, besonders eben.“

Ich werfe ihm einen Blick über die Schulter zu, und Tyler strahlt mich an. Völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass er Charlie kaum kennt.

„Okay, aber das sagst du immer, wenn du jemanden kennenlernst“, erinnere ich ihn. In der Tat ist das eine von Tylers Lieblingsaussagen über seinen jeweiligen aktuellen Schwarm. Ich weiß nicht, wie oft ich ihn schon habe sagen hören: Er ist besonders. Für mich hört sich das eher an, als wolle man sich selbst davon überzeugen, dass die Person es wert ist, gedatet zu werden.

Und da ich mich bis heute nie wirklich für sein Dating-Leben interessiert habe, war es mir egal, wer die neue besondere Person war, der er seine Aufmerksamkeit schenkte. Es war mir egal. Aber dieses Mal ist es anders.

Dieses Mal bin ich deswegen … frustriert.

Wütend.

Und das nervt mich gewaltig.

„Ich weiß, dass ich das schon oft gesagt habe …“ seufzt Tyler und schüttelt den Kopf. „Aber du wirst sehen. Diesmal ist anders, weil es anders ist.“ Er klopft mir auf die Schulter. „Ich gehe jetzt duschen und ziehe mich um. Sag mir Bescheid, wenn er da ist.“

„Geht klar …“ Ich atme schwer aus und sehe zu, wie Tyler den Flur hinunter verschwindet. Warum macht mich das so wütend?

Die Boxen umzustellen, nimmt nicht viel Zeit in Anspruch, denn trotz Tylers Aussage war es kein Chaos. Jetzt, wo er nicht mehr wahllos Dinge umräumt, ordne ich direkt alles neu, sodass man problemlos ohne anzuecken zum Sofa gehen kann.

Und wenn Charlie weg ist, stelle ich alles wieder so um, wie es vor seinem Besuch war.

Es ist nicht einfach, Computer und die jeweils zum Gerät gehörenden Teile zu katalogisieren und so aufzubewahren, dass nichts hinkommt, wo es nicht hingehört. Ich würde gerne glauben, dass meine Lösung für dieses Problem effizient ist. Und obwohl sie den größten Teil des Wohnzimmers einnimmt, ist sie ziemlich effektiv. Wir haben noch nie etwas verlegt oder eine Bestellung übersehen und alle Computer sind vor Staub und Beschädigungen geschützt.

Es ist im Grunde perfekt.

Ich lächle glücklich beim Anblick des umgestellten Wohnzimmers. Es passt alles zusammen, wie die Teile eines Puzzles.

Erst als es an der Haustür klopft, erinnere ich mich daran, warum ich mir diese Mühe überhaupt gemacht habe. Mein Herz setzt einen Schlag aus und ich schaue sofort in den Flur. Aus dem Badezimmer höre ich noch das Wasserrauschen der Dusche.

Ich schätze, ich bin auf mich allein gestellt.

Und ein Teil von mir ist absolut begeistert davon. Aber der Rest von mir ist aus dem gleichen Grund entsetzt.

Ich schleiche zur Tür und werfe einen Blick durch den Spion. Wie erwartet steht Charlie auf der anderen Seite der Tür und hält mit beiden Händen eine Cupcake-Schachtel umfasst. Er ist noch genauso niedlich wie neulich. Vielleicht sogar noch mehr.

Mein Schwanz zuckt leicht, allein von seinem Anblick. Ich presse den Kiefer zusammen und verbiete mir, eine Erektion zu bekommen. Was leichter gesagt als getan ist. Schwänze tun, was Schwänze wollen. Und mein Schwanz will diesen Omega.

Ich räuspere mich, atme tief durch und reiße die Tür auf.

„Hallo.“ Was ist das denn für eine eloquente Begrüßung? Ich könnte mir in den Hintern treten, weil ich so ein Trottel bin.

„Hey … ähm, Vander, richtig?“ Charlies Lächeln könnte den dunkelsten Raum erhellen. Ich weiß nicht, was es mit diesem Omega auf sich hat, dass er mich so fasziniert, aber ich könnte ihn ewig anstarren.

„Ja. Tyler ist noch unter der Dusche, aber er sollte jeden Moment fertig sein.“ Ich zeige mit dem Daumen in Richtung Flur. „Bitte, komm rein.“

„Danke.“ Charlie scheint das alles mit mehr Lockerheit anzugehen, als Tyler und ich. Ohne zu zögern, geht er an mir vorbei. „Hast du einen Teller oder etwas anderes, auf das wir die hier stellen können?“ Er hält die Schachtel hoch, während er sich auf den Weg in die Küche macht. „Ich hoffe, es macht euch nichts aus, wenn die Cupcakes von gestern sind. Ich verspreche, dass sie immer noch gut schmecken.“

„Wir sind nicht wählerisch.“ Ich gluckse, als ich ihm in die Küche folge. „Essen ist Essen.“

Charlie fängt an, Schränke zu öffnen und zu schließen, bis er findet, was er sucht. „Das sollte reichen.“ Er holt einen großen Essteller heraus und stellt ihn auf den Tresen neben die Cupcake-Schachtel. „Das mag jetzt vielleicht schräg rüberkommen, aber ich stelle Dinge lieber sofort klar. Wenn ich mich nicht wohl genug fühle, um mich wie zu Hause zu fühlen, bleibe ich nicht hier.“

„Okay, das kann ich nachvollziehen.“ Ich lehne mich gegen den Küchentisch und beobachte ihn. Die Art, wie er spricht, hat etwas, das mich beruhigt. Jetzt, wo er hier ist, ist meine Wut verflogen, und ich habe das Gefühl, dass ich wieder richtig atmen kann. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, worüber ich mir solche Sorgen gemacht habe.

„Weißt du, als Tyler erwähnte, dass ihr Computer repariert, habe ich mir eine Art Matrix-Set-up vorgestellt.“ Charlie blickt sich in der Wohnung um. „Aber hier sieht es ziemlich normal aus.“

„Du findest es normal, dass hier überall Stapel von Plastikboxen herumstehen?“ Ich grinse und neige meinen Kopf in seine Richtung.

„Na ja, nur weil etwas ungewöhnlich ist, kann es doch noch im Normalbereich sein.“ Charlie zuckt mit den Schultern und verteilt die Cupcakes vorsichtig auf dem Teller. Sie haben alle verschiedene Farben und Geschmacksrichtungen. Ich glaube nicht, dass es einen doppelt gibt.

„Ich meine, es hängen keine Kabel an der Decke, die von einem Ende der Wohnung zum anderen führen. Es gibt eine Armada von Bildschirmen auf dem Schreibtisch.“ Er gestikuliert zu meinem Arbeitsplatz. „Und ich sehe nirgendwo irgendwelche seltsamen, fremdartig aussehenden Geräte.“

„Vielleicht habe ich die ja gut versteckt.“

Er lächelt mich an. „Du bist witzig. Als ihr neulich in den Laden kamt, warst du irgendwie teilnahmslos. Als würde es dich nicht wirklich interessieren, was um dich herum geschieht, und du wolltest einfach nur wieder ins Bett gehen.“

Mist. Was für ein toller, schmeichelhafter erster Eindruck. Und ich konnte es nicht einmal abstreiten. Ich war müde und erschöpft gewesen und hatte keinen großen Wert darauf gelegt, Zeuge zu werden, wie Tyler schamlos mit einem Omega flirtete. Nur dass ich so schlimm rübergekommen war, verletzte meine Eitelkeit, zumal ich im Nachhinein froh war, mitgegangen zu sein. Und irgendwie wollte ich mein Verhalten erklären.

„Tyler hat mich von der Arbeit abgezogen und mich fahren lassen, damit er Cupcakes kaufen und dich anmachen kann.“ Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Lippe, als die Verärgerung der letzten Tage wieder aufflammt.

„Arbeitest du so gerne?“

„Es ist mein Job, und ich bin gut darin.“ Ich zucke mit den Schultern und fühle mich wie ein Arsch, weil ich mich so abweisend verhalte. „Ich mag es, mich auf etwas zu konzentrieren und es dem Kunden zu übergeben, wenn ich fertig bin. Es ist … Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.“

Charlie lehnt sich gegen die Küchenarbeitsplatte und sieht mich nachdenklich an. „Ich glaube, ich kann es nachvollziehen. Ich bin gut im Backen. Ich liebe es, wirklich. Ich mag es, Zutaten zu vermischen und aus unterschiedlichen Produkten etwas Neues zu erschaffen. Wenn es nach mir ginge, würde ich am liebsten jeden Tag neuen Kreationen erschaffen.“

Unsere Blicke treffen sich, und ich spüre, wie sich mein Herzschlag verlangsamt. Ich kann praktisch das Rauschen des Blutes in meinen Ohren hören, während ich versuche, meine Gedanken nicht zu anderen Dingen abschweifen zu lassen.

Erotischen Dingen.

„Woher kommst du?“, frage ich, in dem verzweifelten Versuch das Thema zu wechseln.

Charlie lacht. „Wow, das ist ja das reinste Gesprächsschleudertrauma.“

„Tut mir leid.“ Ich lache unbeholfen und versuche, nicht vor Verlegenheit zu erröten. „Ich bin furchtbar im Small Talk.“

„Du bist in Ordnung.“ Charlie schüttelt den Kopf und grinst. „Ich komme ursprünglich aus Idaho. Ich bin wegen der Uni hierhergezogen und nie wieder weggegangen.“

„Brauchtest du einen Tapetenwechsel?“

„So in etwa.“ Charlie atmet schwer aus und blickt, ohne einen besonderen Fokus auf etwas, in die Ferne. „Hast du jemals das Gefühl, dass du, egal, wie sehr du dich bemühst, einfach nirgendwo hinpasst? Als ob vielleicht etwas mit dir nicht stimmt? Und deshalb scheinen alle immer zu vergessen, dass du existierst?“

„Ich …“ Meine Brust verengt sich, als ich seinen Gesichtsausdruck beobachte. Ich kann den Kampf, den er ficht, in seinen Augen sehen. Woran auch immer er gerade denkt, es sorgt dafür, dass sein sorgloses Lächeln verblasst und seine lockere Art verschwindet. Es ist seltsam, wie viel ich in diesen wenigen Minuten der Unterhaltung über ihn erfahren habe.

„Das musst du nicht beantworten“, sagt Charlie mit einem Lachen, das sehr gezwungen klingt. „Es gibt da ein paar Familienangelegenheiten zu klären, die ich immer wieder aufschiebe. Ich wollte nicht so melodramatisch werden.“

„Nein, ist schon okay. Wirklich.“ Es kostet mich all meine Selbstbeherrschung, nicht die Hand auszustrecken und ihm tröstend über den Rücken zu streichen.

„Ha.“ Charlie zwinkert mir zu. „So was sagen Leute, die einem an die Kronjuwelen wollen.“

Meine Wangen erröten. „Ich … ich bin nicht … Ich wollte dich nur wissen lassen, dass es okay ist, wenn du mal Dampf ablassen musst. Also im Sinne von Reden. Ich werde über das, was du sagst, nicht urteilen.“

„Du bist süß, Vander.“ Charlie lächelt mich an, und dieses Mal ist es ein echtes Lächeln, das auch seine Augen erreicht. „Danke für das Angebot, aber eigentlich bin ich hergekommen, um einen Tag lang nicht daran zu denken. Also … Erzähl mir von deinem Computerkram. Was genau tust du?“