Was kreucht und fleucht

Gletscher erscheinen uns Menschen mächtig und lebensfeindlich. Dabei existiert ein ganzes Ökosystem auf und unter den Eismassen.

Kaltblütig im Frost

Peter Laufmann

Selbst Gletscher sind nicht bar von Leben. Einige Organismen haben die eisige Wüste zu ihrer Heimat erkoren und trotzen Kälte, Strahlung und Trockenheit. Doch wenn das Eis in der Klimakrise taut, sind sie in Gefahr.

Gletscher lassen uns nicht kalt. Sie sind beeindruckend, bedrohlich und lebensfeindlich. Zumindest für uns Menschen. Und so sind wir allenfalls Besucher auf Zeit, wenn wir über sie wandern oder auf Skiern über sie hinweggleiten. Und selbst dann brauchen wir das passende Rüstzeug, um nicht das Schicksal Ötzis zu teilen.

Andere Geschöpfe sind uns da einen, wenn nicht mehrere Schritte voraus. Eines der sympathischsten ist der Gletscherfloh. Mit seiner Maximallänge von 1,5 bis 2,5 Millimetern ist er gerade so groß, dass man nicht mehr über ihn stolpert, ihn noch übersehen, aber auch entdecken kann, wenn man ihn sucht. Gerade im Frühling sieht man ihn in Massen. Anders als sein Name vermuten lassen würde, ist er aber kein echter Floh. Er gehört stattdessen zu den Collembolen, den Springschwänzen. Diese Tierchen tragen ihren Namen, weil sie ihren Schwanz als Sprunggabel einsetzen. Wenn wir seiner Komfortzone zu nahekommen, hüpft der Gletscherfloh einfach von dannen. Bis zu 20 Zentimeter springt er hoch – für uns wäre das ein Satz jenseits der 100 Meter!

Gletscherflöhe gehören zum exklusiven Club der Lebewesen, die sich diese unwirtliche Welt aus Eis als ihren Lebensraum erschlossen haben. Biologen sprechen von diesem Ökosystem als Kryal oder Kryobiom. „Es ist eine einzigartige Lebensgemeinschaft“, sagt Birgit Sattler, Gletscherökologin der Universität Innsbruck und ausgewiesener Fan des Lebendigen im Eis. „Auch wenn alles klein bis sehr klein ist.“

Um die Leistungen wirklich würdigen zu können, muss man sich den Lebensraum einmal genauer anschauen: Gletscher sind gefrorenes Wasser. Aber sie sind keine Eiswürfel in XXL. Ein Gletscher kann nur entstehen, wenn mehr Schnee fällt als wieder verschwindet. Das Gewicht der immer dicker aufliegenden Schneedecke setzt dann die Metamorphose in Gang: Zuerst brechen die zarten Spitzen der Schneeflocken ab oder schmelzen. Die filigranen Gebilde sind nun gröber, kleiner, sie verkanten, die Schicht wird kompakter und fester. Schmilzt der Schnee dann über Jahre nicht weg, und lagern sich immer neue Pakete von Schnee darüber ab, reift die Schicht zu Eis; die einzelnen Schneekörner, der Firn, verdichten sich zu einer kompakten Masse – das Gletschereis ist geboren. Dabei ist mit den Schneeflocken Erstaunliches vorgegangen: Ursprünglich bestand die Schneedecke aus gut 90 Prozent Luft. Am Ende sind nurmehr zwei Prozent Luft im Eis übrig.

Leben im Lebensfeindlichen

Das augenfällig lebensfeindlichste an diesem Eisblock ist die Kälte, denn Prozesse des Lebens sind in der Regel an Wärme gebunden. Der Stoffwechsel funktioniert einfach nicht so gut in einer unterkühlten Umgebung. Zudem wird Wasser tödlich, wenn es gefriert. Denn die Zellen alles Lebendigen sind letztendlich Gebilde aus Wasser und einem ordentlichen Schuss Zellmembranen und Organellen. Sobald das Wasser gefriert, entstehen Kristalle wie winzige Speere und zerrreißen die verletzlichen Hüllen.

Der Gletscherfloh gehört mit seinen bis zu 2,5 Millimetern Länge noch zu den größeren Vertretern des Kryobioms. Im Frühling kann man ihn massenhaft auf dem Eis entdecken.

Dazu kommt ein auf den ersten Blick unerwartetes Problem: Trockenheit. „Auf einem Gletscher ist verfügbares Wasser Mangelware“, so Birgit Sattler. Denn alles Wasser ist als Eis gebunden. Und so ist es auch kein Wunder, dass die trockenste Gegend des Planeten nicht in der Sahara, sondern in der Antarktis liegt. Schließlich kommt noch die Strahlung hinzu. Nicht nur, dass es auf einem Gletscher wenig Schatten gibt, die weiße Oberfläche wirft Strahlen auch wieder zurück. „Die Organismen müssen also, wenn sie hier oben überleben wollen, einen Frostschutz, einen Sonnenschutz und schließlich eine Lösung haben, wie sie sich ernähren können“, sagt Sattler.

Je genauer man hinschaut, desto mehr Facetten findet man in diesem Ökosystem. Da sind die schon erwähnten Gletscherflöhe und deren Verwandte, die Schneeflöhe. Mitunter sind es Millionen von ihnen, die einem begegnen und sich nahezu synchron über den Gletscher schleudern. Dank Zucker in ihren Zellen haben sie einen integrierten Frostschutz. Bei null Grad Celsius liegt ihre Wohlfühltemperatur. Minus 15 Grad Celsius überstehen sie locker. Bei Temperaturen über plus 12 Grad Celsius hingegen sterben sie – den Hitzetod. Dann gibt es da noch den Gletscherweberknecht, der auch ganz gut mit der Kälte auf dem Gletscher zurechtkommt. Oder die Schneemücken, das sind flügellose Stelzmücken, und die Wintermücken, die ihre Paarungszeit auf den Winter verlegt haben.

Teppiche über dem Eis

Manchmal ist das Leben auch unübersehbar, lässt sich aber dennoch nicht gleich erkennen. Auf Gletschern und Schneefeldern ist die Oberfläche im Frühling mit zartem Rosa oder Rot überzogen. Bei diesem sogenannten Blutschnee handelt es sich um winzige, einzellige Organismen. Es sind Algen beispielsweise der Art Chlamydomonas nivalis. Im Frühling bilden sie Zysten aus, die durch den Altschnee an die Oberfläche wandern. Die roten Pigmente dienen als Sonnenschutz für die Winzlinge, wenn sie ans Licht kommen. Mittlerweile sind sie in Australien in Sonnencreme im Einsatz.

Was aussieht wie Blut, sind in Wahrheit die Zysten von Algen, etwa der Roten Schneealge (Chlamydomonas nivalis). Die Farbpigmente dienen ihnen als Sonnenschutz.

Die Kirche hat diese Algenblüte früher instrumentalisiert, indem sie den Bewohnern der Berge erzählte, es wäre das Blut des Herrn. Das Omen könnte nur durch Ablass verscheucht werden, erzählten die Hirten ihren Schäfchen. Nun, das Geld der Gläubigen floss, die Schneealge verschwand wieder und die Menschen konnten wieder ruhig schlafen. Doch die Algen sind nicht die einzigen Farbgeber hier oben: Andere Arten setzen auf graue oder schwarze Pigmente, um sich zu schützen. Es finden sich auch gelbe oder grüne Arten. „Die ganze Oberfläche der Gletscher ist mit verschiedenen Mikroorganismen überzogen, jede Menge verschiedener Algen, aber auch Bakterien und Viren“, erzählt Gletscherökologin Sattler. Früher dachte man, die Schleier, die immer mal wieder auf den Gletscheroberflächen auffielen, seien in erster Linie Staub. Heute ist man einen Schritt weiter, aber dennoch ist nur ein Bruchteil dieser Mikroflora beschrieben und erforscht. Zu exotisch ist der Lebensraum, zu schwierig die Kultivierung.

Rückkopplung in der Klimakrise

Die Lebewesen sind zwar gut an Gletscher angepasst, doch diese kalte Welt ist in Gefahr. Weltweit sind die Gletscher auf dem Rückzug, der Klimawandel mit steigenden Temperaturen und weniger Schneefall macht ihnen zu schaffen. Je nach Modell und zukünftigem Kohlendioxidausstoß werden Ende des Jahrhunderts noch zwischen zwei und 48 Prozent der Eismasse in den Alpen existieren. Was das für alpine Lebensräume bedeutet, ist längst unübersehbar: Hänge werden instabil, weil der Frost sie nicht mehr zusammenhält, Trinkwasserquellen versiegen und spezialisierte Arten müssen immer höher hinauf, um für sich gute Bedingungen zu finden.

„Die Organismen auf dem Gletscher sind während der wenigen sommerlichen Wochen extrem produktiv und bilden organischen Kohlenstoff. Bis zu zwei Kilogramm werden da pro Hektar und Jahr als Biomasse festgelegt. Das ist ein wichtiger Faktor“, sagt Birgit Sattler. „Tauen die Gletscher stärker, gibt es mehr freies Wasser, dann wachsen auch die Algen besser.“ Das heißt, der Gletscher wird dunkler. Dadurch gibt es einen Rückkopplungseffekt, denn die dunklere Oberfläche erwärmt sich stärker – das Schmelzen verstärkt sich. „Wir nennen diese biologisch induzierte Veränderung der Albedo – des Rückstrahlvermögens – Bioalbedo“, so Sattler. Normalerweise wirft frisch gefallener Schnee 90 Prozent des Sonnenlichtes und damit der Energie zurück. Die Kleinstlebewesen können diese Rückstrahlkraft um bis zu 40 Prozent reduzieren.

Im Zuge der Klimakrise sind die Gletscher weltweit bedroht. Auf manchen Gipfeln decken Menschen die Oberfläche mit Planen ab, um das Abschmelzen zu verlangsamen.

Der Mensch agiert bisher weitgehend hilflos. Die Betreiber von Skigebieten lassen Schnee einlagern, damit sie ihre dahinschmelzende Saison künstlich verlängern können. Am Zugspitzplatt oder am Schweizer Gurschengletscher versucht man, die Gletscher im Sommer mit wasserdurchlässigen, weißen Vliesen vor dem Abschmelzen zu schützen. Sobald es wieder schneit, nimmt man den Schutz wieder herunter. Naturschützer sehen das kritisch und auch Birgit Sattler hat Bedenken: „Die Folien verändern das darunterliegende Kryobiom. Die Lichtverhältnisse sind andere und Nährstoffe gelangen nicht mehr aus der Luft ins System.“ Stattdessen, so befürchtet die Forscherin, kommen aus dem Abrieb der Gewebe Unmengen Mikroplastik in die Berge und das Eis. Auch hier ist nicht absehbar, welche Folgen das für die Lebensgemeinschaften in der eisigen Zone hat. Da kann der Gletscherfloh noch so hoch springen – dem Klimawandel entkommt er nicht. Wir übrigens auch nicht.

Eine Afrikanische Wanderheuschrecke ist ungefährlich. Die riesigen Schwärme aber vernichten in kürzester Zeit ganze Ernten.

Der Schwarm

Ralf Stork

Manche Tiere wären für sich genommen vollkommen unauffällig. Doch weil ihre Überlebensstrategie auf einer schlagartig auftretenden Massenvermehrung beruht, werden sie für den Menschen zur Plage. Extreme Wetterereignisse befördern dieses Phänomen noch.

Sie kommen irgendwohin, wo keiner sie kennt, und breiten sich in Windeseile aus: Bei eingeschleppten Arten kennt man viele Beispiele für Massenvermehrungen, die für die alteingesessenen Einwohner dramatische Folgen haben können. So hat sich der Bestand der Aga-Kröte, von der einst einige Tausend Exemplare nach Australien eingeführt wurden, inzwischen auf rund 200 Millionen Tiere erhöht. Die fressen jetzt alles, was ihnen vor das riesige Maul kommt, werden allerdings selbst kaum gefressen, weil sie giftig sind. Auf der Pazifikinsel Guam hat die Nachtbaumnatter zehn der zwölf endemischen Vogelarten ausgerottet, nachdem sie als blinder Passagier ins Land gekommen war. Ratten, Katzen, Wollhandkrabben, graue Eichhörnchen, Waschbären – immer wieder vermehren sich einzelne Arten stark, weil sie von Menschen an Orte fernab ihres ursprünglichen Verbreitungsgebietes gebracht werden, wo sie für sich paradiesische Zustände vorfinden: eine Welt ohne Fressfeinde, mit Rundumverpflegung.

Es gibt aber auch Arten, bei denen ist es andersherum. Da ist eine sprunghafte Massenvermehrung evolutionäre Überlebensstrategie, die kurzfristig günstige Bedingungen ausnutzt. Viele Insekten gehören dazu.

Auf den ersten Blick scheint das Prinzip wenig nachhaltig: Früher oder später wird die Nahrung knapp und die Population fällt in sich zusammen. Außerdem ist es ein Fest für Fressfeinde.

Dass massenhaftes Auftreten trotzdem sinnvoll sein kann, zeigen exemplarisch Zikadenarten der Gattung Magicicada aus Nordamerika: Die Larven verbringen 13 oder 17 Jahre im Boden, die erwachsenen Tiere schlüpfen alle zur gleichen Zeit. Im Umkreis eines einzelnen Baumes kriechen dann mehrere Zehntausend Zikaden aus dem Boden. Leichte Beute für Reptilien, Vögel und Säugetiere. Weil es aber so viele sind, können die Räuber nicht alle fressen. Der Fortbestand der Art wird also gerade durch das massenhafte Auftreten – durch die Räuberübersättigung gesichert.

Die amerikanischen Zikaden wenden zudem noch einen anderen Trick an: Der lange Lebenszyklus macht es für potenzielle Räuber schwer, sich auf die Zikaden als Beute zu spezialisieren. Dabei hilft auch, dass es sich bei den Zyklen um Primzahlen handelt: Ihre Feinde leben in der Regel in 2-, 4- oder 6-Jahres-Rhythmen. Weil die Zikaden nur alle 13 oder 17 Jahre aus dem Boden kriechen, verringern sie so die Zahl der Räuber, auf die sie treffen.

Biblische Plagen

Das Massenauftreten der Zikaden ist spektakulär. Bis zu vier Millionen Tiere können es je Hektar sein. Sie ernähren sich von den Pflanzensäften verschiedener Gehölze, die sie mit ihren Rüsseln anbohren. Weil die erwachsenen Tiere aber nur wenige Wochen leben und die Bäume den kurzzeitigen Saftverlust alle 13 oder 17 Jahre gut verkraften, richtet diese Invasion kaum bleibenden Schaden an.

Ganz anders bei der Wüstenheuschrecke (Schistocerca gregaria). Im Alten Testament sind die Heuschrecken die achte Plage, die Gott den Ägyptern auf den Hals hetzt. Die Verheerungen, die die Insekten anrichten können, sind apokalyptisch: Seit 2019 zerstören riesige Schwärme die Ernten in Äthiopien, Kenia, Uganda, Indien und Pakistan. Einzelne Schwärme können mehrere Hundert Quadratkilometer groß werden und aus vielen Milliarden Insekten bestehen. Eine einzelne Heuschrecke frisst zwar „nur“ zwei Gramm am Tag – das Äquivalent ihres eigenen Körpergewichts. Wegen der gewaltigen Größe der Schwärme sind trotzdem mehrere Millionen Menschen von Hunger bedroht.

Auch Zikaden treten oft in Massen auf, allerdings nur alle 13 oder 17 Jahre. Da die Tiere nur wenige Wochen leben, hinterlässt ihre Invasion meist keine bleibenden Schäden.

Dabei führen Wüstenheuschrecken die meiste Zeit ein beinahe eremitisches Leben. „Sie kommen vor allem in den trockenen Regionen nördlich und südlich der Sahara vor, die meiste Zeit in sehr geringen Dichten“, sagt Swidbert Ott, der an der Universität Leicester die Auslöser für das Schwarmverhalten erforscht.

Am Anfang der Massenvermehrung müssen – wie bei anderen Arten auch – besonders günstige Bedingungen stehen. Zum Beispiel das Fehlen von Fressfeinden, günstige Witterung oder ein besonders reiches Nahrungsangebot. Bei den Heuschrecken ist es Letzteres: In unregelmäßigen Abständen fällt ergiebiger Regen in der trockenen Landschaft, die Vegetation schießt in die Höhe, und die Wüste verwandelt sich in ein Schlaraffenland für Heuschrecken. Weil es in der ansonsten kargen Landschaft kaum Räuber gibt, vermehren sich die Tiere stark, geben ihre solitäre Lebensweise zunächst aber noch nicht auf. Das passiert erst, wenn die Nahrung wieder knapp wird und es alle Insekten in die trockenen Flusstäler zieht, wo sich die Pflanzen am längsten halten. „Dort kommen dann Dichten von mehr als 1000 Individuen pro Quadratmeter zustande“, sagt Ott.

Jungtier einer Wüstenheuschrecke in schwarz-gelber Färbung. Im Schwarm setzen die Tiere auf Abschreckung anstatt Tarnung.

Der direkte Kontakt zu den Artgenossen triggert innerhalb von Stunden die Verwandlung der Tiere vom Einzelgänger zum Schwarmtier. Auslöser sind Pheromone, Berührungen und der Anblick der Artgenossen. „Die Tiere rücken aktiv zusammen, die Aktivität als solche geht hoch“, sagt Ott. Auch das Aussehen der Tiere ändert sich innerhalb einer Woche radikal. Die Heuschrecken legen ihre Tarnfarben ab und verfärben sich schwarz-gelb – eine universell verstandene Warnfarbe.

Überforderung durch Masse

Die extremen Verhaltensänderungen ergeben Sinn: Wenn eh schon Hunderte Heuschrecken beieinandersitzen, bringt es nichts, sich unauffällig zu verhalten. Der Zusammenschluss zum gigantischen Schwarm sorgt dagegen wie bei den Zikaden dafür, potenzielle Fressfeinde zu überfordern. Wenn sich ein Schwarm in Bewegung setzt, fliegt er mit dem Wind. Die Luft strömt in Richtung von Tiefdruckgebieten. So besteht für die Heuschrecken die Chance, in einem Regengebiet mit neuer Nahrung zu landen. In dieser Formation legen die Tiere bis zu 150 Kilometer pro Tag zurück und können innerhalb weniger Minuten große Felder kahlfressen. Die genaue Menge lässt sich schwer beziffern, doch die Dimensionen sind enorm: Manche Schwärme sind bis zu 2400 Quadratkilometer groß, könnten also aus 120 Milliarden Tieren bestehen. Wenn jedes davon zwei Gramm pro Tag isst, macht das 240 000 Tonnen vernichtete Pflanzenmasse am Tag!

Das wirksamste Mittel gegen die schwärmenden Heuschrecken ist Insektengift, so schnell wie möglich. „Bei günstigen Bedingungen kann sich die Heuschreckenpopulation in einer Generation, das sind drei Monate, verzwanzigfachen. Nach einem halben Jahr sind es dann schon 400-mal so viele Tiere“, sagt Swidbert Ott.

Weil die Lebensräume der Heuschrecken in derzeit politisch instabilen Ländern liegen, ist die Bekämpfung schwieriger geworden. Der Klimawandel kommt erschwerend hinzu: Häufige extreme regionale Wetterereignisse wie Dürre und heftige Regenfälle erweitern das Verbreitungsgebiet der Heuschrecken und erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer extremen Vermehrung.

Ein europäisches Beispiel ist der Borkenkäfer. Wärme und von Trockenheit gestresste Wälder befördern seine schnelle Ausbreitung.

Der Klimawandel begünstigt auch in Europa die Massenvermehrung von Schädlingen, vor allem die des Borkenkäfers: Die bohren sich in die Stämme geschwächter Bäume, um dort ihre Eier abzulegen. Auch ein kranker Baum ist noch in der Lage, einzelne Käfer mit seinem klebrigen, giftigen Harz abzuwehren. Das Harz wirkt allerdings wie eine Art Lockstoff, sodass immer neue Käfer den Baum anfliegen, bis er sich schließlich nicht mehr gegen die Eindringlinge wehren kann.

Bei anhaltender Hitze und Trockenheit wie in den vergangenen Jahren gibt es besonders viele geschwächte Bäume, die von den Käfern überwältigt werden können. Außerdem entwickeln und vermehren sich die Käfer bei hohen Temperaturen besonders gut. So sind die Borkenkäferschäden in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen: 2018 waren 27 Prozent aller gefällten Fichten betroffen, 2019 sogar 63 Prozent.

Andere Schädlinge wie Nonne oder Schwammspinner dagegen brauchen für eine Massenvermehrung andere Bedingungen: Ihre Brut kommt bei trockenen, eher kalten Temperaturen am besten durch den Winter. So gesehen dürfte es wenigstens bei ihnen durch den Klimawandel eher zu weniger Massenereignissen kommen.

Porträt: Der Alpensalamander

Monika Offenberger

Alpensalamander lassen sich in Sachen Familienplanung reichlich Zeit – und nehmen für den perfekten Geburtstermin einiges auf sich.

Gewöhnliche Frösche, Kröten und Lurche setzen ihren Laich einfach im Wasser ab und kümmern sich nicht weiter darum. Wenn daraus nach einigen Wochen die Kaulquappen schlüpfen, können sie sich selbst versorgen und vollziehen in Ruhe ihre Metamorphose vom kiemenatmenden Wasserbewohner zum lungenatmenden Landtier. Auch die schwarzgelb gemusterten Feuersalamander leben als Larven im Wasser. Allerdings behält das Muttertier die befruchteten Eier nach der Paarung acht bis neun Monate lang im Körper, bis die Embryonen herangereift sind. Die voll entwickelten Larven schlüpfen während der Geburt noch schnell aus den platzenden Eihüllen. Das kann man im Flachland machen, aber nicht im Gebirge, wo die Winter hart und die Sommer kurz sind. Bis die Lurche ausgewachsen sind, ist die Saison längst vorbei. Deshalb tragen die Alpensalamander ihre Embryonen noch länger im Mutterleib als die nah verwandten Feuersalamander. Dort wachsen die Larven heran und ernähren sich zunächst vom Dotter ihrer eigenen Eier. Wenn das aufgebraucht ist, machen sich die am weitesten entwickelten Nachkommen über die bis zu 50 Eier ihrer Geschwister her. Ist auch dieser Vorrat zu Ende, erzeugt das Muttertier in speziellen Geweben eine Nährsubstanz.

Nur zwei junge Alpensalamander überleben. Wenn sie auf rund vier Zentimeter Länge herangewachsen, ihre Kiemen zurück- und Lungen ausgebildet sind, kommen sie zur Welt. Wann genau hängt vom Lebensraum der Mutter ab: In Lagen unter 1000 Höhenmetern trägt sie ihre Jungen zwei Jahre mit sich herum, bis 2000 Meter drei und noch höher oben sogar ganze vier Jahre. In jedem Fall findet die Geburt im Sommer statt, damit die frisch geschlüpften Salamander reichlich Schnecken, Würmer, Spinnen und Insekten finden. Bis Oktober müssen sie möglichst viel Gewicht zulegen. Dann suchen sie sich ein unterirdisches Versteck, wo sie die Wintermonate überdauern. Frühestens im April erwachen sie aus ihrer Winterstarre. Geschlechtsreife Salamander machen sich dann im Frühsommer auf Partnersuche, darunter auch bereits trächtige Tiere: Denn die Weibchen können die Spermien eines Männchens bis zu zwei Jahre lang in speziellen Samentaschen horten und erst bei Bedarf damit ihre Eier befruchten.

Aufopferungsvolle Eltern: Bis zu vier Jahre trägt das Alpensalamanderweibchen seine Jungen mit sich herum.

Porträt: Die Wanderlibelle

Monika Offenberger

Jedes Jahr im Oktober landen merkwürdige Gäste auf den Malediven. Die ersten sind bald wieder weg, doch bis Dezember kommen ständig neue nach. Die Einheimischen nehmen kaum Notiz von den Fremden, denn sie bringen kein Geld ins Land, buchen kein Hotel, kaufen keine Souvenirs. Sie sitzen bloß im Gras, auf Parkbänken und Autodächern – und glotzen mit ihren großen Facettenaugen in die Welt.

Pantala flavescens heißen die seltsamen Besucher, zu Deutsch: Wanderlibellen. Wie sehr sie ihrem Namen Ehre machen, zeigen die Forschungsarbeiten von Charles Anderson. Der Biologe fand Belege, dass die Insekten Jahr für Jahr über den Indischen Ozean fliegen – und wieder zurück, ganze 18 000 Kilometer. Damit wären sie die neuen Rekordhalter im Weitstreckenfliegen, weit vor dem bisherigen Spitzenreiter, dem Monarchfalter. Der fliegt jedes Jahr „nur“ 7000 Kilometer zwischen den USA und Mexiko hin und her. Allerdings werden diese weiten Strecken nicht von einzelnen Faltern und Libellen bewältigt, sondern von einer Art Generationen-Staffel.

Libellen leben nur als Erwachsene an Land und in der Luft; in ihrer Jugend sind sie reine Wassertiere. Die Reise der Wanderlibellen beginnt in Indien, in den Pfützen, die der Monsun hinterlässt. Weil die Pfützen jederzeit austrocknen können, wandern die Tiere weg: Sie folgen dem Monsun Richtung Süden, bis sie Ende September die Südspitze Indiens erreichen und übers offene Meer auf die Malediven geblasen werden. Zwar gibt es im sandigen Boden der Koralleninseln weder Tümpel noch Seen. Doch wieder sorgt der Monsun für frische Pfützen, in die die Ankömmlinge ihre Eier legen, bevor sie auf der Insel sterben.

Der Nachwuchs setzt die Wanderung fort: Nach Zwischenstopps auf den Seychellen und Madagaskar erreichen die Winzlinge im Januar Kenia oder Mosambik, und nach vier Generationen haben sie es bis nach Südafrika geschafft. Inzwischen hat der Wind gedreht. Nun trägt er die Libellen den ganzen langen Weg zurück. Im Mai, also mit Beginn des Südwest-Monsuns, tauchen die Insekten plötzlich wieder auf den Malediven auf. Wie zuvor im Oktober legen sie hier nur eine kurze Rast ein. Dann geht es zurück nach Indien, wo Monate zuvor ihre Ur-Ur-Urgroßeltern losgezogen sind.

Wanderlibellen fliegen Jahr für Jahr über den Indischen Ozean – in Form einer Art Generationen-Staffel.

Die Dünen der Namib hinter Nebelschwaden. Die Feuchtigkeit zieht vom Atlantik herauf und ermöglicht vielen Tieren erst das Überleben.

Leben im Nebel

Henrike Wiemker

Die Wüste Namib ist in vielerlei Hinsicht ein extremer Lebensraum. Trotzdem hat sich hier eine Vielfalt an Tieren angesiedelt, mit außergewöhnlichen Verhaltensweisen und Fähigkeiten. Als Überlebensgrundlage dient ihnen nicht zuletzt der vom Ozean heraufziehende Nebel.

Wer beim Wort Wüste an Sanddünen, flirrende Hitze und endlose Weiten einer immer gleichen, eintönigen Landschaft denkt, liegt bei der Wüste Namib im südwestlichen Afrika falsch. Auf einem vergleichsweise kleinen Gebiet vereint sie Geröllebenen, felsige Inselberge, ausgetrocknete Flusstäler und ja, auch Sanddünen. Gleich nebenan liegt der atlantische Ozean. Er ist es, der die Namib zu einem besonderen Ort macht, einer auf der Erde beinahe einzigartigen Wüstenlandschaft.

Vor der Küste Südwestafrikas treibt der Benguelastrom kaltes Wasser aus der Antarktis nach Norden. In Kombination mit einem heißen Klima entstehen Druckverhältnisse, die Regenfälle in der Namib äußerst selten machen. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass an rund 90 Tagen im Jahr dichter Nebel über einem Teil der Namib liegt. Dieser Nebel bietet über lange Perioden hinweg die einzige Wasserquelle in der Region – und viele Tiere, besonders Insekten, haben gelernt, sie zu nutzen.

Reinhard Predel ist Biologe und Spezialist für Wüstenkäfer an der Universität Köln. Die Namib kennt er gut, sicher 20-mal war er bisher in Namibia. „Auf der Erde gibt es nur einen einzigen Ort, der mit der Namib vergleichbar ist, die Atacama-Wüste. Was die Namib außerdem besonders macht, ist, dass sie schon so lange trocken ist.“ Während beispielsweise die Sahara noch vor gut 5000 Jahren fruchtbaren Boden bereithielt, besteht die Wüste an der Südwestküste Afrikas schon seit rund 14 Millionen Jahren, über das genaue Alter streiten Geologen. „Die Tiere in der Namib konnten sich also über einen sehr langen Zeitraum hinweg anpassen.“

Dabei geht es vor allem um zwei große Herausforderungen. Eine davon ist die Hitze. Zwar bleiben die Lufttemperaturen mit gut 30 Grad im Sommer deutlich unter denen, die in anderen Wüsten möglich sind. Doch der steinige oder sandige Boden kann sich unter der Sonne leicht auf bis zu 80 Grad aufheizen. Die zweite große Herausforderung ist das fehlende Wasser.

Akrobatische Nebeltrinker

Eine der vielen Strategien besteht darin, das Wasser zu nutzen, das als Nebel vom Ozean heraufzieht. Die beiden Schwarzkäferarten Onymacris unguicularis und Onymacris bicolor haben hierzu eine besondere Technik entwickelt. In der Nacht und den frühen Morgenstunden, wenn der Nebel am dichtesten ist, ziehen die Käfer hinauf auf einen Dünenkamm und stellen sich kopfüber in Windrichtung auf. Der Nebel kondensiert an ihren Panzern, und dank deren geriffelter Struktur rinnen die Tropfen am Käferkörper entlang in Richtung Maul. Nicht umsonst werden beide Arten trivialsprachlich auch als Nebeltrinker-Käfer bezeichnet. Dieses Verhalten sei nur möglich, weil die Käfer kaum nachtaktive Fressfeinde zu fürchten haben, argumentiert ein Forschungsteam rund um Duncan Mitchell und Mary K. Seely in einer zusammenfassenden Studie von 2020. „Die Käfer sind besessen von ihrem Schwelgen im Nebel. Sie reagieren nicht auf menschliche Beobachter in der Nähe.“

Der Nebeltrinker-Käfer (Onymacris unguicularis) sammelt Wasser, indem er sich auf einen Dünenkamm stellt und den Hinterkörper nach oben reckt, an dem der Nebel kondensiert

Eine ähnliche Technik hat Lepidochora discoidalis entwickelt, ebenfalls ein Schwarzkäfer. Er verzichtet auf den Kopfstand und gräbt stattdessen bei Nebel einen kleinen Graben in den Sand, an dessen Kanten das Wasser kondensiert. Nach einer Weile krabbelt er seinen eigenen Graben entlang und trinkt das kondensierte Wasser von der Sandoberfläche. „Statt einer morphologischen Anpassung sieht man hier also eine Anpassung des Verhaltens“, erklärt Reinhard Predel. „Manche Lepidochora-Arten kommen auch in Gebieten vor, in denen kein Nebel auftritt. Dort zeigen sie das entsprechende Verhalten nicht.“

Doch nicht nur Insekten haben gelernt, den Nebel zu nutzen. Auch der Skorpion Parabuthus villosus trinkt Nebel- und Tautropfen, die sich an Grashalmen niederschlagen. Die Zwergpuffotter Bitis perengueyi nutzt ähnlich wie die Onymacris-Schwarzkäfer Nebel, der an ihrem eigenen Körper kondensiert.

Wasser aus Zellulose

Eine andere Möglichkeit, in der heißen und trockenen Namib an Wasser zu gelangen, ist der eigene Stoffwechsel. Dafür braucht es natürlich irgendeine Form von Nahrung, doch die ist in der Namib vorhanden. In den Randgebieten gibt es durchaus spärliche Vegetation, die pflanzenfressenden Insekten als Nahrungsquelle dient. Und selbst dort, wo nichts mehr wächst, weht sogenannter Detritus vorbei – trockene Pflanzenreste, die vom Wind in vegetationslose Gegenden getragen werden. Sie bestehen zu großen Teilen aus Zellulose. „In der Zellulose sind Zucker- mit Wassermolekülen verbunden. Mithilfe bestimmter Stoffwechselvorgänge kann ein Organismus daraus Wasser abspalten“, erklärt Reinhard Predel. „Das ist sehr aufwendig. Aber es reicht.“ Im Ruhezustand ist die Stoffwechselrate der Namib-Schwarzkäfer sehr gering, sodass sie nur wenig zum Wasserhaushalt beiträgt, schreiben Mitchell, Seely und Kollegen in ihrer zusammenfassenden Studie. Andererseits steigt sie zum Beispiel beim Käfer Onymacris plana um das 64-fache, wenn dieser mit schnellen Schritten über den Sand flitzt. Einige Arten könnten ihren Stoffwechsel und damit ihre körpereigene Wasserproduktion sogar absichtlich hochfahren, wenn Austrocknung droht.

Der giftige Skorpion Parabuthus villosus ist selbst in der größten Tageshitze unterwegs. Wie die Käfer nutzt er die Feuchtigkeit aus dem Nebel, die sich als Tröpfchen an Halmen niederschlägt.

Selbst produziertes Wasser und regelmäßige Nebelschichten sind also wichtige Grundlagen für die Wasserversorgung der Tierwelt in der Namib. Doch selbst, wenn die Luft nicht, wie bei dichtem Nebel der Fall, mit Wasser gesättigt ist, dient sie in der Namib einigen Insekten als Wasserquelle. „Die Larven von Schwarzkäfern“, erzählt der Biologe Predel, „stülpen ihren Enddarm mehr oder weniger in die Luft. So schaffen sie es, auch ungesättigter Luft Wasser zu entziehen.“ Der Schlüssel dahinter ist die Beschaffenheit der Haut im Enddarm der Larven, die wie eine Membran wirkt. Wasser kann von außen in den Körper hineingelangen, ohne dass Nährstoffe von innen nach außen verloren gehen. Der chemische Vorgang dahinter ist Osmose.

Ein ähnliches Prinzip nutzen die Käfer in der Namib (und nicht nur dort), um möglichst wenig des wertvollen Wassers im Körper zu verlieren. Sie pinkeln nicht, sondern entziehen stattdessen ihren Ausscheidungen alles Wasser. Was bleibt, ist extrem trockener Kot. Dem gleichen Ziel dient die harte Schale der Schwarzkäfer. Sie ist wasserundurchlässig und schützt somit vor Verdunstung. „Sie ist außerdem mit einer Wachsschicht überzogen, die die Sonne reflektiert“, ergänzt Reinhard Predel. Die Insekten haben auch ihr Verhalten angepasst: „Sie fliegen nicht mehr und haben eine Art Stoßatmung, um so wenig Wasser wie möglich zu verlieren. Viele sind nur nachts oder abends aktiv, wenn es kühler ist“, erzählt der Biologe. Die Vermeidung von Wasserverlust geht auf diese Weise mit dem Schutz vor Hitze einher.

Jedes Grad zählt

Den haben auch andere perfektioniert. Ameisen der Gattung Ocymyrmex beispielsweise klettern auf Steine und recken ihr Hinterteil in die Höhe, um die Entfernung zum heißen Boden zu vergrößern. An einem heißen Tag kann die Temperatur nur einen Zentimeter über dem Boden schon bis zu zehn Grad geringer sein als direkt an der Oberfläche. Die Spinne Seothyra henscheli dagegen zieht es in die Tiefe. Sie baut ihr Netz auf den Sandboden und darunter eine lange, schmale Höhle, die bis zu zwölf Zentimeter in den Boden hinab ragen kann. Auch wenn die Temperatur am Spinnennetz bis 70 Grad Celsius beträgt, kann die Spinne bei komfortablen 35 Grad am Grund der Höhle ausharren und auf Beute warten. Termiten wiederum bauen so tiefe Tunnelsysteme, dass sie feuchten Boden erreichen. Doch diese Anpassungsleistung begeistert den Biologen Reinhard Predel eher wenig: „Termiten gehen der Wüste eigentlich aus dem Weg, ihre Anpassung ist eher ein Vermeidungsverhalten. Die Schwarzkäfer gehen schon offensiver rein.“

Mit all diesen Tricks und Kniffen bestreitet ein Großteil der Tierwelt in der Namib also den Alltag fast das gesamte Jahr über. Doch dann, je nach Region alle paar Monate oder auch nur alle paar Jahrzehnte, fällt Regen. Predel erzählt dazu eine Geschichte aus der Anfangszeit des Gobabeb-Forschungszentrums, einer Forschungsstation, die 1962 mitten in der Wüste Namib errichtet wurde und bis heute betrieben wird. „Über zehn, fünfzehn Jahre waren in dem Zentrum schon Käferspezialisten, dann fiel zum ersten Mal seit der Biologe. „Und nach ein paar Wochen sind sie wieder verschwunden.“ Wie genau diese langen Fortpflanzungszyklen der Cryptochilenis funktionieren, weiß niemand. „Aber sie müssen sehr genau getimt sein. Die Käfer können erst rauskommen, wenn Pflanzen nach dem Regen schon gekeimt haben, damit eine Nahrungsgrundlage vorhanden ist. Daher haben sich diese Rhythmen wahrscheinlich schon über einen sehr langen Zeitraum hin entwickelt“, vermutet Predel. Die Evolution hatte hier Zeit für Perfektionismus.

Der Engmaulfrosch Phrynomantis annectens versteckt sich tagsüber in Felsspalten. Selbst kleinste Regenmengen fließen an den Steinen zu ihm hinunter.

Gründung viel Regen“, erzählt Predel. „Plötzlich war das Zentrum voll mit Käfern, die keiner der Spezialisten je gesehen hatte!“ Viele der Käfer gehörten wohl zur Gruppe der Cryptochilenis, Predels Lieblings-Käfergruppe. Sie kommen nur im südlichen Afrika vor und dort auch nur nach größeren Regenereignissen. „Dann sind sie plötzlich massenhaft da“, beschreibt

Poyntonophrynus hoeschi ist die einzige Krötenart, die in der Namib vorkommt. Fällt einmal etwas Regen, legt sie sofort Eier in einen kleinen Teich.

Das Warten auf Regen

Eine andere Tiergruppe, die auf die seltenen Regenfälle angewiesen ist, sind Frösche. Alan Channing ist Experte für Frösche des südlichen Afrikas, sein erstes größeres Forschungsprojekt in der Namib hat er Mitte der 1970er-Jahre unternommen. „Die Namib gehört zu den trockensten Gebieten der Erde. Frösche brauchen Wasser, um Eier zu legen und damit sich die Kaulquappen entwickeln können. Daher würde man sie in der Namib wirklich nicht erwarten.“ Trotzdem gebe es vier Arten von Fröschen im Kerngebiet der südwestafrikanischen Wüste: der Krallenfrosch Xenopus laevis, einen Sandfrosch Tomopterna ahli, einen Engmaulfrosch Phrynomantis annectens und die Krötenart Poyntonophrynus hoeschi. Letztere wird nur ungefähr 15 Millimeter lang und versteckt sich in Trockenzeiten unter Felsen. Fällt dann ein wenig Regen, sammelt dieser sich in flachen Teichen, in die die Kröte ihre Eier legt. Die Teiche heizen sich auf, was die Entwicklung beschleunigt, und schon nach drei Wochen ist aus einem Ei eine fertige Kröte geworden. Gerade rechtzeitig, bevor die wenige Zentimeter tiefen Wasserlöcher wieder komplett verschwunden sind. In Jahren mit wenig Regen kann es passieren, dass die Teiche zu früh austrocknen. Doch Poyntonophrynus hoeschi wird mindestens drei Jahre alt, meistens reicht das zur Fortpflanzung. Auch der Engmaulfrosch der Namib nutzt den seltenen Regen. Er wird gut zwei Zentimeter lang und versteckt sich tagsüber in Felsspalten. „Die Frösche kriechen in diese schmalen Spalten, die manchmal nicht breiter als drei Millimeter sind, und warten“, erzählt Alan Channing begeistert. „In den Spalten verändern sich Temperatur und Feuchtigkeit nicht, und an den Felsen rinnt selbst die kleinste Menge Regen herunter und sammelt sich in kleinen Teichen.“

Alle paar Monate oder Jahre regnet es auch in der Namib, und meist trockene Flussbetten und Mulden füllen sich mit Wasser. Diese Chance nutzen Frösche zur Fortpflanzung.

Die anderen beiden Froscharten der Namib nutzen Flüsse wie den Kuiseb, um zu überleben. Sein Bett ist die meiste Zeit über trocken, doch wenn in den Bergen im Inland Namibias starker Regen fällt, füllt er sich flutartig und mündet schließlich in den Atlantik. „Die Frösche werden aus dem Hochland Namibias mitgespült“, erklärt Channing. „Aber der Fluss füllt Tümpel und Teiche, in denen die Frösche einen Lebensraum finden und sich fortpflanzen können.“ Und so wiederum anderen Tieren als Nahrung dienen. „Schlangen und Ginsterkatzen fressen Frösche, ebenso wie alle größeren Vögel. Vor allem die Kaulquappen in ihren Tümpeln sind Feinden ausgesetzt. Die Frösche sind wichtig, weil sie Futter für andere Tiere der Namib sind.“

Seine Expeditionen in diese außergewöhnliche Welt hat der Käferexperte Predel immer wieder genossen: „Die Namib ist eine der wenigen Regionen, in denen der Mensch nicht die Hauptbedrohung ist. Sie ist großflächig geschützt, und manche Teile sind für Besucher komplett geschlossen.“ Zum Problem könnten langfristig eher Klimaveränderungen werden, wenn sich zum Beispiel Winter- und Sommerregengebiete verschieben sollten. „Es ist aber schön zu sehen, dass es bisher stabil bleibt“, so Predel. „Insgesamt ist die Namib einfach schön. Es ist ungefährlich. Es gibt nichts Besseres, als sich dort hinzusetzen und abzuwarten“, schwärmt er. „Es kommt dann alles zu einem.“

Finstere Heimat: Die Herrmannshöhle im Harz ist der einzige Ort in Deutschland, an dem der Grottenolm zuhause ist.

Spezialisten der Finsternis

Georg Etscheit

Höhlen sind einzigartige und sehr anspruchsvolle Biotope. In ewiger Finsternis und fast völliger Abgeschlossenheit überleben nur absolute Spezialisten. Wie zum Beispiel der Grottenolm.

Die Hermannshöhle bei Wernigerode im Harz ist nicht nur für ihren reichen Tropfsteinschmuck und spektakuläre Knochenfunde des eiszeitlichen Höhlenbären bekannt. Ihre Hauptattraktion ist ein kleines Tier, das zu den merkwürdigsten Geschöpfen im ganzen Tierreich zählt: der Grottenolm. Sein aalähnlicher Körper ist 25 bis 30 Zentimeter lang, er hat einen plattgedrückten Schwanz und zerbrechlich wirkende Beinchen. Auch die pigmentlose, weißliche Haut des Olms, durch die man seine Blutgefäße sehen kann, hebt ihn unter den anderen Angehörigen seiner Ordnung – er gehört zu den Schwanzlurchen – deutlich hervor. Über Augen verfügt der Grottenolm nicht, weil er sie schlicht nicht braucht. Denn sein ganzes Leben verbringt er in absoluter Dunkelheit. Und dieses Leben kann lang sein, sehr lang: Grottenolme können mehr als hundert Jahre alt werden.

Im berühmten „Olmensee“ der Hermannshöhle, einem eigens für die Tiere angelegten Höhlengewässer, wurden in den 1930er- und 1950er-Jahren insgesamt 20 Tiere ausgesetzt. Ihr natürliches Verbreitungsgebiet sind die Karsthöhlen des Dinarischen Gebirges im heutigen Slowenien, doch fühlen sie sich offenbar auch in Deutschland nicht unwohl. Zwar leben nur noch knapp ein Drittel der einst ausgesetzten Grottenolme, doch gelang Höhlenforschern 2016 ein spektakulärer Fund. Sie entdeckten fünf Olmen-Eier und nährten die Hoffnung, dass es nach 85 Jahren irgendwann doch einmal Olmen-Nachwuchs in der Hermannshöhle geben könnte.

Im Schutz der Finsternis

Der Grottenolm ist ein echter Überlebenskünstler. Er kann sechs bis acht Jahre ohne Nahrung auskommen und bis zu zwölf Stunden ohne Sauerstoff. Um wertvolle Energie zu sparen, bewegt er sich oft jahrelang nicht vom Fleck. Weil Höhlen weder Tages- noch Jahreszeiten kennen, scheint er überdies keinen Schlaf nötig zu haben und kann sich das ganze Jahr über vermehren. Prädatoren, die ihm zu Leibe rücken, kennt er nicht. Und das ist vielleicht ein Grund dafür, dass er sich überhaupt irgendwann einmal ins Reich der ewigen Finsternis zurückgezogen hat.

„Für uns ist das in der Tat eine zentrale und noch nicht völlig verstandene Frage: Was sind eigentlich die Vorteile des Höhlenlebens? Warum haben auch ursprünglich an der Erdoberfläche lebende Arten im Laufe der Zeit Populationen entwickelt, die an die extremen Lebensbedingungen unter Tage angepasst sind?“ Diese Fragen stellt Stefan Zaenker, Experte für Biospeläologie und Vorsitzender des Landesverbandes für Höhlen- und Karstforschung Hessen, eines eingetragenen Vereins. Die Biospeläologie, also die Lehre der in Höhlen lebenden Tiere und Pflanzen, ist eine relativ junge Wissenschaft. Bislang konnten in Deutschland rund 3000 Tier- und Pflanzenarten in Höhlen, künstlichen Hohlräumen wie alten Bergwerksstollen und im Grundwasser entdeckt werden. Noch weitgehend unerforscht ist die Artenvielfalt tropischer Höhlen. „Hier warten noch viele Überraschungen auf uns.“

Fast jedes Jahr werden auch hierzulande neue Arten gefunden, wie jene weiße, blinde, nur 1,2 Millimeter große Spinne, die Zaenker erst 2019 in einer Höhle in der hessisch-bayerischen Rhön mit einer Barber-Falle fing – einem in den Boden eingelassenen und mit einer Konservierungsflüssigkeit gefüllten Gefäß, aus dem die Tiere nicht mehr herausfinden. Zahlreiche Höhlentiere sind endemisch, das heißt, sie kommen nur an einem einzigen Ort in der Welt vor. Zu ihnen zählt auch der Segeberger Höhlenkäfer. Er findet sich nur in der Kalkberghöhle von Bad Segeberg in Norddeutschland und ernährt sich von Exkrementen und Kadavern von Fledermäusen. Biospeläologen vermuten, dass sich der Käfer über einen Zeitraum von 10 000 Jahren zu einer isoliert lebenden Unterart entwickelt hat.

Der Grottenolm hat eine nackte, fast durchscheinende Haut und keine Augen. Wozu auch: Das Geschöpf verbringt sein Leben in absoluter Dunkelheit.

Der Lebensraum einer Höhle zeichnet sich durch extremen Mangel aus: Mangel an Wärme und lebensnotwendigem Licht bis zu absoluter Dunkelheit, Mangel an Nahrung, Mangel auch an Sauerstoff, weswegen viele Höhlenbewohner einen überdurchschnittlich hohen CO2-Gehalt tolerieren. Und dieser allgegenwärtige Mangel macht Höhlentiere zu überaus genügsamen Zeitgenossen, die keine Eile kennen und sich mit dem absoluten Minimum zufriedengeben. Weil Photosynthese und der Aufbau von Biomasse in der Dunkelheit nicht möglich sind und Pflanzen wie Moose, Farne und Algen deshalb nur in den Eingangsbereichen existieren können, muss alles, was für ein karges Höhlenleben nötig ist, irgendwie von außen hereinkommen. Da kann es schon mal zehn Jahre dauern, bis ein großes Unwetter zufällig organisches, also fressbares, Material in die Höhle schwemmt. Dieses nährt dann kleine Krebstiere wie Wasserasseln, Flohkrebse, Würmer oder höhlenlebende Süßwassergarnelen, die wiederum die Nahrungsgrundlage für höhere Lebewesen wie den Grottenolm darstellen.

Der Segeberger Höhlenkäfer kommt ausschließlich in der Kalkberghöhle von Bad Segeberg in Norddeutschland vor.

Verlässliche Bedingungen

Was das Nahrungsangebot betrifft, regiert in Höhlen der Zufall. Hinsichtlich anderer lebenswichtiger Parameter wie dem Wechsel von Tag und Nacht, dem Lauf der Jahreszeiten sowie der Temperatur bieten Höhlen dafür äußerst berechenbare Lebensbedingungen. So entspricht die Temperatur im Inneren einer Höhle immer der Jahresdurchschnittstemperatur an der Erdoberfläche des jeweiligen Standortes. In Deutschland sind das konstante acht Grad. „Höhlentiere leben gewissermaßen davon, dass sie sich eben nicht dauernd an veränderte Umweltbedingungen anpassen müssen“, sagt Zaenker. „Diese speziellen Arten finden dort zwar extreme Lebensbedingungen, brauchen aber kaum Konkurrenz durch andere Arten zu fürchten. Es ist also anzunehmen, dass sich gerade Arten, die dem Konkurrenzdruck an der Erdoberfläche nicht standhalten können, in diese konkurrenzarmen Nischen zurückziehen.“

Fledermäuse sind sogenannte „Höhlengäste“. Sie überwintern zwar unter Tage, könnten aber ohne Jagdflüge in der Außenwelt nicht überleben.

Sogar der Klimawandel scheint bislang spurlos an ihnen vorübergegangen zu sein, denn die oft tief unter der Erdoberfläche liegenden Höhlen sind hervorragend gegen schnelle Umweltveränderungen abgepuffert. Was nicht heißen soll, dass die Temperaturen unter Tage nicht auch irgendwann ansteigen könnten mit schwer absehbaren Folgen für die Höhlenlebewesen. „Bislang merken wir aber noch nichts“, sagt Zaenker. Dann könnten jene Tierarten in Bedrängnis kommen, die als Eiszeitrelikte in Höhlen ein Refugium gefunden haben, wie auch der bereits genannte Segeberger Höhlenkäfer. „In der Höhlenfauna finden sich zahlreiche Kaltwasserarten, die hier aus früheren, kälteren Epochen überleben konnten.“

Höhlengäste und Dauerbewohner

In jeder Höhle gibt es unterschiedliche Lebensräume, die ganz unterschiedliche Tier- und Pflanzenarten beherbergen. Als „Eutrogloxene“ („Höhlenfremde“) werden Tiere bezeichnet, die an diese Lebensräume nicht angepasst und versehentlich in eine Höhle geraten sind, bei der Nahrungssuche vielleicht oder auf der Flucht vor einem Unwetter. Solche Zufallsgäste können in einer Höhle nicht dauerhaft überleben. Subtroglophile Tiere („Höhlengäste“) – Fledermäuse sind dafür das populärste Beispiel – suchen Höhlen nur zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Lebensphasen auf, etwa um zu übernachten, zu überwintern oder sich eine Zeit lang zu verstecken. Manche brauchen Höhlen, um dort ihren Nachwuchs aufzuziehen. Doch auch sie können ohne Kontakt zur Außenwelt nicht längere Zeit überleben. Eutroglophile Tiere, wie einige Springschwanz-und Tausendfüßerarten, führen als „höhlenliebende“ Zeitgenossen auch an der Erdoberfläche ein verborgenes Leben unter Steinen, im Erdboden oder unter Baumrinde. Sie finden in der Höhle optimale Lebensbedingungen, pflanzen sich dort fort und bilden dauerhaft unterirdische Populationen.

Die echten (eutroglobionten) Höhlenbewohner sind in all ihren Lebensphasen auf den Lebensraum Höhle angewiesen. Sie sind oft farblos und blind, dafür verfügen sie über besonders gut ausgebildete Tastorgane. Der Grottenolm kann sich zudem mit einem Hautlichtsinn und magnetischen Ortungssystemen orientieren. Wenn eutroglobionte Lebewesen durch Zufall an die Außenwelt gelangen, sterben sie. So geht es zuweilen Grottenolmen, die bei der Nutzung des Karstgrundwassers in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet in Slowenien durch Pumpen an die Oberfläche befördert werden. Rund 750 Arten rechnet Zaenker in Deutschland zu den „echten“ Höhlenbewohnern, neben dem importierten Grottenolm in der Hermannshöhle sind dies alles recht unscheinbare Lebewesen, Käfer, Asseln, Tausendfüßler, Spinnen, kleine Krebse. Oft sind sie nur wenige Millimeter groß, weil geringe Körpergröße den Bedarf an Nahrung minimiert. Um Energie zu sparen, schalten sie ihren Stoffwechsel zusätzlich auf Sparflamme.

Der Höhlenflohkrebs lebt in unterirdischen Quellen oder wasserführenden Stollen und zählt zu den echten Höhlenbewohnern.

Spektakulär ist dieses verborgene Leben nicht, und es steht in einem krassen Gegensatz zur Pracht vieler Tropfsteinhöhlen. Doch die Höhlentiere zeigen verwöhnten Oberflächenmenschen, wie man mit fast nichts auskommt. Zur Not sogar im Kühlschrank. Zaenker hatte dort versuchsweise drei „höhlenliebende“ Tausendfüßler deponiert, mehr als ein Jahr bei 7,3 Grad. Ausgemacht hat es den Tieren offenbar nichts. „Quicklebendig waren die, wenn man das von einem Höhlentier überhaupt sagen kann.“

Auch wenn es von oben nicht so aussieht: Im Gras zwischen den Rollbahnen des Münchner Flughafens tobt das Leben.

Ein Leben an der Rollbahn

Georg Etscheit

Für Menschen gibt es wenig unattraktivere Orte als lärmende Flughäfen, Bahndämme oder Autobahntrassen. Doch vielen Tier-und Pflanzenarten bieten diese so wenig romantischen Lebensräume ein wertvolles Refugium.

Die Triebwerke röhren mächtig auf, der Airbus A 320 nimmt Fahrt auf und hebt mit Gedröhn von der Startbahn des Münchner Flughafens ab. Menschliche Beobachter halten sich die Ohren zu, doch das Brachvogelpärchen, das nur wenige Meter neben der Betonpiste im niedrigen Gras sein Nest gebaut hat, scheint von dem Radau und den Abgasschwaden keine Notiz zu nehmen. Seelenruhig widmet es sich seinem Brutgeschäft.

Der Münchener Airport ist einer der verkehrsreichsten in Europa. Auf den beiden Start- und Landebahnen im Erdinger Moos vor den Toren der bayerischen Landeshauptstadt werden zu normalen Zeiten jeden Tag etwa 1150 Flugbewegungen gezählt. Kein Platz für Tiere, möchte man meinen. Doch nachgewiesenermaßen ist der Flughafen ein echtes Tierparadies. So wie sich auch Bahndämme und Straßenböschungen, oft abschätzig „Straßenbegleitgrün“ genannt, in der ausgeräumten Agrarlandschaft längst zu Hotspots der Artenvielfalt entwickelt haben. Für Tiere und Pflanzen spielt es keine Rolle, ob Menschen an diesen „extremen“ Orten Gefallen finden. Es reicht, wenn sie hier alles finden, was sie zum Leben und Fortpflanzen brauchen. „Was uns öde und von höllischem Lärm geplagt vorkommt, bewerten die Vögel (…) ganz anders. Insofern stellen Flughäfen auch ein Lehrstück für uns dar, was für Vorstellungen wir Menschen uns von ,der Natur‘ machen“, schreibt der Ökologe Josef H. Reichholf in seinem Standardwerk „Stadtnatur“.

Idylle für Brachvögel

Viele streng geschützte und teilweise vom Aussterben bedrohte Vogelarten bevölkern den Münchner Flughafen; vor allem Wiesenbrüter wie Brachvogel, Uferschnepfe, Kiebitz, Feldlerche, Rebhuhn, Wachtel und Wachtelkönig haben hier ein Refugium gefunden. „Wir zählen pro Jahr allein 90 Brutpaare des Großen Brachvogels“, sagt Oliver Weindl, hauptamtlicher Biotopmanager der Flughafen München AG. Bei insgesamt nur noch 500 Brutpaaren dieser Art ist der Flughafen eines der wichtigsten Brachvogelgebiete in Bayern. „Während andernorts die Bestände eher schrumpfen, beobachten wir seit Jahren sogar einen deutlichen Zuwachs an Brutpaaren.“

Warum sich solch seltene Arten ausgerechnet einen der größten Verkehrsflughäfen des Kontinents als bevorzugten Lebensraum ausgesucht haben, ist leicht zu erklären: Sie fühlen sich hier wohl und sicher. Das liegt zum einen daran, dass sechzig Prozent des 1500 Hektar großen Flughafenareals aus meist extensiv genutztem Grünland bestehen, also genau die Umgebung bieten, die die Vögel brauchen. Vor allem aber profitieren die Tiere von den Maßnahmen zur Gewährleistung der Flugbetriebssicherheit. Menschen mit Hunden, die den Gelegen der Wiesenbrüter zu nahe kommen könnten, trifft man hier ebenso wenig an wie Raben und Möwen, die sich gerne an Eiern und Jungvögeln vergreifen. Denn alle größeren Schwarmvögel, die in die Triebwerke geraten und für den gefürchteten Vogelschlag sorgen könnten, werden auf dem Flughafengelände und in dessen Umfeld systematisch vergrämt.

Für den Großen Brachvogel ist das Flughafenareal die perfekte Brutstätte. Hier stören ihn weder Mähdrescher noch Hunde oder Raubvögel.

Links: Der Kies unter den Gleisen erwärmt sich schnell und muss immer locker sein, um die Erschütterungen durch die Züge gut abzufedern. Rechts: Für die Zauneidechse sind das ideale Lebensbedingungen: Sie kann sich auf den Steinen wärmen und in den Hohlräumen verstecken.

Aktive Bejagung spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle. „Schon beim Bau des Flughafens wurde darauf geachtet, dass die Grünflächen auf einer dicken Kiesschicht liegen, die für Mäuse unattraktiv ist“, erklärt Weindl. Keine Mäuse, keine Großvögel, – so einfach ist das. Und auch für Graugänse, die energiereiches Gras lieben, sind die mageren Grünflächen zwischen den Rollbahnen, auf denen Pflanzen wie der Klappertopf, Thymian, Hartklee und einige Seggenarten siedeln, alles andere als ein reich gedeckter Tisch. Sie suchen sich lieber ergiebigere Futterplätze außerhalb des Flughafens.

Die Wiesenbrüter dagegen stellen für den Flugbetrieb kein Problem dar, weil sie wie die winzige Feldlerche entweder zu klein sind, um einen Jet in Gefahr zu bringen, oder weil sie nicht aufsteigen und im Gras fast unsichtbar sind wie das Rebhuhn oder der extrem scheue Wachtelkönig. Sie werden deshalb gezielt angelockt, ihnen wird gewissermaßen der rote Teppich ausgerollt. So hält man ihnen nicht nur alle möglichen Feinde vom Leib, sie profitieren auch von einem großen Angebot an Insekten – auf dem gesamten Flughafengelände werden keine Pestizide ausgebracht. Und gemäht wird erst dann, wenn die Vögel ihr Brutgeschäft und die Aufzucht der Jungen abgeschlossen haben.

Ortswechsel an eine beliebige Zugstrecke irgendwo in Deutschland. Bahntrassen sind ein noch extremerer Lebensraum als die Rollpisten eines Flughafens. Die Schotterflächen ähneln Wüsten und werden im Sommer mitunter sehr heiß. Doch auch hier haben zum Teil streng geschützte Tiere ein Refugium gefunden, wie zum Beispiel die Zauneidechse.

Ein Bett neben den Gleisen

„Für sie dürften Bahndämme mittlerweile der wichtigste Sekundärlebensraum in Deutschland überhaupt sein“, sagt Martina Lüttmann, die sich bei der Deutschen Bahn mit dem Natur- und Artenschutz beschäftigt. Die warmen Gleisanlagen bieten den wechselwarmen Reptilien ideale Lebensbedingungen. Sie ernähren sich von Insekten, die auf den mit Gras bewachsenen Böschungen leben, darunter die auf der Roten Liste als gefährdet eingestufte Blauflügelige Ödlandschrecke, die schon mal in Schwärmen aufsteigt, wenn sich Gleisarbeiter nähern. Der Schotter im Gleisbett muss locker gehalten werden, damit die von den darüber rasenden Zügen ausgelösten Kräfte sanft abgefedert werden. Die so entstehenden Hohlräume nutzen die Eidechsen, um sich blitzschnell zu verstecken, wenn von oben ein hungriger Vogel naht.

Die Bahn-Eidechsen wiederum dienen verschiedenen Schlangenarten als Nahrungsgrundlage. Lüttmann nennt die Schlingnatter, „eine typische Bahnart“, außerdem Äskulap- und Würfelnatter sowie gelegentlich die giftige Kreuzotter. „Unsere Techniker bekommen schon mal einen ordentlichen Schrecken, wenn sie einen Signalkasten öffnen und darin auf ein Schlangennest stoßen.“ Der Vollständigkeit halber sind noch die vielen Mäusearten zu nennen, die neben offenen Bahntrassen auch unterirdische Bahnanlagen bevölkern. Sie wiederum fallen ins Beuteraster von Greifvögeln, die in den angrenzenden Wäldern leben. Und in den im Gegensatz zu den Schotterbetten eher feuchten Gräben, die jedes Bahngleis begleiten, fühlen sich sogar Amphibien wie Kreuz- und Wechselkröte wohl.

Links: Die Blauflügelige Ödlandschrecke, (Oedipoda caerulescens) steht auf der Roten Liste, doch auf den Böschungen der Bahndämme fühlt sie sich wohl. Rechts: Die Äskulapnatter hält sich gerne nahe der Gleise auf – auch wegen der Eidechsen, einer ihrer Leibspeisen

Die Bahn unternimmt viel, um als umwelt- und klimafreundliches Unternehmen wahrgenommen zu werden. Dazu gehören auch die 400 speziell ausgebildeten Mitarbeiter, die sich im Bereich des rund 33 000 Kilometer langen Streckennetzes um die wilde Bahnnatur kümmern. Vor jeder Baumaßnahme werden die dort lebenden Arten kartiert und, falls nötig, in ein Ersatzbiotop umgesetzt. Nach Bauende dürfen sie meist wieder zurück.

Kahlschlag am Straßenrand

Dagegen wird den Straßenbaubehörden vorgeworfen, mit der ihr anvertrauten Natur zuweilen nicht besonders pfleglich umzugehen. Berichte über „Kahlschlag entlang der Autobahn“ kann man im Spätwinter in vielen Zeitungen lesen, wenn Bautrupps der Straßenmeistereien unter der Maxime der Verkehrssicherheit darangehen, die Böschungen von Bäumen und Büschen freizuschlagen. „Damit alles ordentlich und perfekt aussieht, wird geholzt, gehäckselt und gemulcht, was das Zeug hält“, kritisiert der Ökologe Reichholf die jedes Jahr wiederkehrende Praxis. „Neunzig Prozent dieser sogenannten Pflegemaßnahmen könnten schlicht unterbleiben.“

Seit in der freien Landschaft einst prägende und für die Tier- und Pflanzenwelt wichtige Strukturelemente wie Hecken, Gehölzinseln und Baumreihen der Flurbereinigung zum Opfer fielen, sind auch die Böschungen an viel befahrenen Bundesstraßen und Autobahnen zu wertvollen Ersatzlebensräumen avanciert. Sie bieten vielen Vögeln Nist- und Brutmöglichkeiten sowie Aussichts- und Spähwarten. Samenbestände der dort wachsenden Stauden stellen eine wichtige Lebensgrundlage für durchziehende oder überwinternde Kleinvögel dar und Bienen und Schmetterlingen bieten die blühenden Pflanzen eine Nahrungsgrundlage. „Die Straßenbauämter sollten erst dann eingreifen, wenn echte Probleme entstehen, etwa Sichtbehinderungen, jedoch nicht rein prophylaktisch nach dem Rasenmäherprinzip“, fordert Reichholf. So könnten viele dringend benötigte Rückzugsräume für Kleintiere, Vögel und Insekten bewahrt werden. Als kleine ökologische Paradiese, in denen mitunter seltene Tier- und Pflanzenarten ein Auskommen finden, unbeeindruckt von den in nächster Nähe vorbeidonnernden LKW- und Autokolonnen. Die Natur kennt keine Romantik.