In diesem Naturschutzgebiet in der Mojave-Wüste in Nevada lebt ein Fisch, den es nirgends sonst gibt. Und von dem keiner weiß, wo er herkommt.
Stefan Weißenborn
Der Teufelskärpfling lebt nur in einer Warmwasserquelle in Nevada, in einer der heißesten und trockensten Gegenden überhaupt. Er gilt als der seltenste Fisch der Welt. Aber wie zur Hölle ist er nur da hingelangt?
Der Gebirgszug der Sierra Nevada liegt fern im milchigen Licht der Mittagshitze. Gleich dahinter liegt Kaliforniens berüchtigtes Death Valley, das offiziell den historischen Weltrekord für den heißesten Platz der Erde hält. 56,7 Grad wurden hier im Jahr 1913 registriert. In der Senke diesseits der Berge, im Bundesstaat Nevada, erreichen die Temperaturen im Sommer ebenfalls sehr hohe Werte. Da taucht im Staub eine Steintafel auf: „Ash Meadows National Wildlife Refuge – where the desert springs to life“.
Das Feuchtgebiet Ash Meadows ist die größte Oase der Mojave-Wüste und eines von 500 Naturschutzgebieten in den USA, die vom Fish and Wildlife Service verwaltet werden. Hier draußen ist das eine besondere Verantwortung. Denn hier lebt der Teufelskärpfling, Cyprinodon diabolis. Sein Zuhause ist das Devils Hole, das Teufelsloch, eine wasserführende Felsspalte, die in eine der tiefsten Höhlen Nordamerikas führt. Der Grund des Lochs liegt schätzungsweise 150 Meter unter der Wasseroberfläche. Nur in dieser Felsspalte, nirgendwo sonst, lebt der Teufelskärpfling. Er gilt damit als der seltenste Fisch der Welt.
Wie ist der Fisch nur da hingekommen? Seitdem jüngste Untersuchungen dafür sprechen, dass die Fischrarität weit jünger sein könnte als bisher angenommen, rätselt die Fachwelt einmal mehr über ihr Entstehen. Die gängige Theorie ist die des Eiszeitüberlebenden: Vor 11 000 bis 13 000 Jahren war die Gegend um Ash Meadows von einem ganzen System flacher Seen und Flüsse, Quellen und Bäche durchzogen. Olin Feuerbacher, Biologe der Fischschutzabteilung von Ash Meadows, sagt: „Als zum Ende des Pleistozäns das Eis schmolz und das Wasser anschließend verdunstete oder in die Grundwasserschicht versickerte, waren die Fische bereits hier und wurden in Devils Hole isoliert.“
Zehn Minuten Fahrt und einen schweißtreibenden Fußmarsch später stehen wir vor einem Zaun mit Stacheldrahtabschluss. „Sperrgebiet. Videoüberwacht“ steht da. Dann geht es durch einen Käfiggang, und rechter Hand tut sich die Erde auf: das Devils Hole. Der Blick durch das Gitter ist dann allerdings weniger spektakulär. Die rund 3,5 mal 22 Meter große Wasseroberfläche 15 Meter weiter unten kann man noch erkennen. Doch sie liegt im Schatten. Von der Besucherplattform aus lässt nichts da unten auf irgendwelche Aktivitäten schließen. Ins Teufelsloch hinabzusteigen ist nur in seltenen Ausnahmefällen Forschern gestattet, weil normale Besucher mit kontaminierter Kleidung unbeabsichtigt das Ökosystem schädigen könnten. „Es gibt eine Menge invasiver Arten und Krankheiten in der Gegend“, sagt Feuerbacher.
Eine Schautafel zeigt ein vergrößertes Bild eines blau-silbrigen Fisches mit gefächerter, fast transparenter Schwanzflosse, der mit leicht vorgeschobenem Unterkiefer etwas Begriffsstutziges hat. Dabei ist der „Devils Hole Pupfish“ ein wahrer Teufelskerl. Allein dass sich bei konstant 32 Grad warmem Wasser eine so kleine Population auf so kleinem Raum über die angenommen lange Zeit erhalten kann, lässt Experten wie Feuerbacher staunen: „Der Teufelskärpfling lebt in Wasser, das für die meisten anderen Fischarten tödlich wäre.“
In dieser sauerstoffarmen Umgebung kann der Pupfish nur gedeihen, weil er zu einem Energiesparmeister geworden ist. Sogar ein Flossenpaar hat sich im Zuge einer Mutation zurückgebildet, um keine Kraft zu verschwenden. Ihren Stoffwechsel haben sie auf spezielle Weise umgestellt, um in Perioden akuten Sauerstoffmangels überleben zu können, so der 46-jährige Biologe. Fest steht auch: Ihr Habitat ist noch viel kleiner als der ohnehin schon kleine Tümpel. Nur selten verlassen sie eine Kalksteinplatte von 2,6 mal 6,1 Metern knapp unter dem Wasserspiegel. Es ist die Gestalt gewordene ökologische Nische, keine Wirbeltierart kommt mit weniger aus.
Zu alledem bekommt das Devils Hole zwei Monate im Jahr kein direktes Sonnenlicht ab. Dann wird 200-mal weniger Biomasse produziert als in den anderen Pools von Ash Meadows: weniger Algen, weniger Floh- und Ruderflusskrebse und weniger Insektenlarven. Wenn die Nahrung im Winter knapp wird, sterben die älteren Fische. So zählen die Forscher im Herbst weit mehr Individuen als im Frühjahr. Die Lebenserwartung des Teufelskärpflings von einem Jahr hat sich diesem Rhythmus angepasst.
Tief unten, von Felsen verborgen und Gittern geschützt, liegt das Devils Hole, das Habitat des Teufelskärpflings.
Schon mehrere Male wäre es aber beinahe zur Katastrophe gekommen. Im Frühjahr 2016 durchbrachen drei betrunkene Männer mithilfe eines Jagdgewehrs die Absperrung. Sie hielten es offenbar für eine gute Idee, in den Pool zu kotzen, im flachen Wasser auf der Felsplatte, wo die Fische laichen, herumzutrampeln und dreckige Boxershorts auf dem Wasser zurückzulassen. Solche Vorfälle haben das Potenzial, die Art auszurotten. Im konkreten Fall fiel mindestens ein Fisch der Invasion der Zecher zum Opfer.
Aber auch die gesamte Ebene des Naturschutzgebietes war schon einmal bedroht. In den 1960er-Jahren rückten Bulldozer an, ebneten Land und Dünen ein, um Flächen besser nutzbar zu machen. Als der Gebrauch von zu viel Grundwasser zur Bewässerung der Flächen den Wasserspiegel im Teufelsloch stark absinken ließ, schritt 1976 der Supreme Court ein. Der Pahrump Poolfish im benachbarten Pahrump Valley starb dennoch aus. Der Teufelskärpfling überlebte.
Ein seltener Anblick: Weniger als 100 Exemplare des Teufelskärpflings leben im 32 Grad warmen Wasser auf einer winzigen Fläche im Devils Hole.
1984 wurde Ash Meadows schließlich zum Naturschutzgebiet erklärt und die Renaturierung der zerstörten Landschaft begann. Die Population des Devils Hole Pupfish blieb bis Mitte der 1990er-Jahre mit durchschnittlich 320 Individuen stabil, doch dann begann sie zu schrumpfen – aus bisher unbekannten Gründen. Der Tiefststand von 2013 mit nur noch 35 Fischen brachte die Art an den Rand des Aussterbens. Dies befeuerte die Forschung einmal mehr. Zum einen nahm in diesem Jahr die Ash Meadows Fish Conservation Facility in Amargosa Valley ihre Arbeit auf. Mit aus dem Teufelsloch entnommenen Eiern gelang es den Experten, eine „Rettungsboot“-Population zu gründen. Diese übertrifft mit 100 Exemplaren inzwischen das natürliche Vorkommen: Derzeit tummeln sich 87 Exemplare in ihrer Nische tief im Fels.
Und zum anderen publizierte Christopher Martin, Evolutionsbiologe an der Universität von North Carolina in Chapel Hill 2015 seine Erkenntnisse, die die bisher erzählte Geschichte des Teufelskärpflings durcheinanderwirbelten. Er verglich das Erbgut von Cyprinodon diabolis mit dem Ash Meadows Amargosa Pupfish (Cyprinodon nevadensis mionectes) in benachbarten Quellen und kam auf hohe genetische Übereinstimmungen. Die Unterschiede im Erbgut dienten der Altersbestimmung des Teufelskärpflings. „Wir schätzen, dass das Teufelsloch vor 105 bis 830 Jahren durch den Pupfish kolonisiert wurde“, schrieb Martin. Trifft das zu, wäre die These, wonach der Teufelskärpfling schon seit der Eiszeit in seinem eigenen Loch lebt, überholt.
Was erneut zu der Frage führt: Wie zum Teufel kam er dorthin, wenn die Höhle doch seit Jahrtausenden isoliert ist? Martin vermutet, dass es alle paar Hundert Jahre vereinzelte Fische irgendwie schaffen, sich von einer Quelle in die andere zu bewegen. „Der Teufelskärpfling sowie alle weiteren Kärpflinge in der Region könnten am wahrscheinlichsten durch Vögel, Menschen und Überflutungen von einer Wasserstelle zur nächsten kommen“, sagt Evolutionsbiologe Sebastian Höhna von der Ludwig-Maximilians-Universität München und Co-Autor von Martins Pupfish-Studien. So kann Laich im Gefieder oder an den Füßen von Vögeln eine Weile überleben.
Der Kings-Pool beherbergt den Amargosa Pupfish, einen nicht ganz so seltenen Verwandten der Attraktion im Teufelsloch.
Noch mehr verblüfft die Wissenschaftler etwas anderes. Denn ist der Teufelskärpfling wirklich so jung, vollzieht er seine Evolution offenbar im Zeitraffer. „Durch die extremen Umwelteinflüsse im Devils Hole kommt es zu einer starken Selektion. Diese kann zu schneller beziehungsweise kurzfristiger Artenbildung führen. Die Art könnte die höchste Mutationsrate von allen Wirbeltieren haben“, so Höhna. Ein Schatz für die Forschung.
So gesehen sind wir froh, dass wir den Teufelskärpfling nicht zu Gesicht bekommen haben. Dass er in seiner vergitterten Höhle geschützt und nicht als Touristenattraktion verramscht wird. Aber dann wollen wir wenigstens seinen nächsten Verwandten in natürlicher Umgebung besuchen. Der Kings-Pool ist voll kristallklarem Wasser, das seit Jahrtausenden schon in einem riesigen Kalksteinhöhlensystem unter der Erdoberfläche lagert. Wegen der starken Strömung der Quelle kräuselt sich das Wasser, doch immer wieder wird das Bild scharf: Bläuliche Fische flitzen hin und her, verspielt wie junge Welpen – daher auch das „Pup“ in ihrem Namen. Schon dieser Amargosa Pupfish, obwohl nicht ganz so rar wie die Art im Teufelsloch, wirkt hier, mitten in der sengenden Wüstensonne, wie eine Fata Morgana. Dann verschwimmt das Bild wieder.
Ralf Stork
Die Hälfte aller heimischen Vögel sind Zugvögel, doch von ihrem Abflug und ihrer Wiederkehr bekommen wir meist nicht viel mit. Aber es gibt einen Rückkehrer, der beim besten Willen nicht zu übersehen ist.
Ende April, Anfang Mai zerschneiden die ersten Mauersegler (Apus apus) den Himmel über den Städten, kleine schwarze Anker mit vibrierenden Flügelspitzen. Man sieht die Vögel ausschließlich in der Luft. Das ist ihr Element.
Es gibt Arten, die weitere Strecken zurücklegen. Aber kein anderer Vogel ist so luftgeboren wie der Mauersegler. Sogar die Zeugung erfolgt zum Teil in der Luft, ein halsbrecherischer Kunstflugakt in 80 Metern Höhe. Die Nahrungssuche sowieso: Von morgens bis abends sind die Mauersegler unterwegs und fangen im weitaufgerissen Schnabel Insekten und Spinnen, die durch die Luft treiben wie Plankton im Meer. Bei guten Bedingungen kann ein Paar bis zu 20 000 Insekten täglich sammeln. Bei schlechten Bedingungen, wenn Regen und Sturm die Insekten vertreiben, verlassen sich die Vögel einfach auf ihr Flugtalent: Tiefdruckgebiete werden im großen Bogen umflogen. Oft kehren Eltern erst nach 1000 oder 2000 Kilometern zum Nistplatz zurück. Wenn sie könnten, würden sie vermutlich auch den in die Luft verlegen. Weil das nicht geht, suchen sie sich Mauernischen und Hohlräume in Dächern, um dort ihre Eier zu legen. Auch in ihren südlichen Winterquartieren gibt es solche Höhlen und Nischen. Allerdings leben dort viele Arten, die ihnen die Brutplätze streitig machen. So kontern die Vögel die große Konkurrenz mit ihren besonderen Flugfähigkeiten und weichen einfach viele Hundert Kilometer bis nach Europa aus.
Gerade mal drei Monate nach ihrer Ankunft ist die Brut ausgeflogen und die Mauersegler verabschieden sich wieder in die Winterquartiere im südlichen Afrika. Auch dort sind sie nicht länger als drei Monate, den Rest des Jahres sind sie zwischen beiden Revieren unterwegs. In Schweden wurden ein paar Mauersegler 2013 vor dem Abflug mit Bewegungssensoren versehen: In mehr als 300 Tagen hat sich einer der Versuchsvögel gerade Mal für zwei Stunden eine Flugpause gegönnt. Wann und wie die Tiere dabei schlafen, weiß man noch nicht genau. Wissenschaftler vermuten, dass die Mauersegler dazu kurze Gleitflugphasen nutzen.
Fressen, sich paaren, schlafen: Der Mauersegler verbringt nahezu sein ganzes Leben in der Luft.
Monika Offenberger
Männchen oder Weibchen? Das ist für viele Lebewesen nur eine Frage des Zeitpunkts.
Anemonenfische werden als Männchen geboren; nur wenige Tiere verwandeln sich mit wachsendem Körperumfang in Weibchen – denn nur große, kräftige Tiere können anstelle von Spermien die energetisch viel aufwendigeren Eier produzieren. Dagegen sind bei den Lippfischen kräftige Männchen gefragt, die sich gegen Konkurrenten durchsetzen können. Daher sind junge Fische weiblich und werden erst im Alter männlich.
Auch Sägebarsche sind Zwitter oder Hermaphroditen. Allerdings wechseln sie nicht nur einmal im Leben ihr Geschlecht, sondern oft mehrmals täglich. Der Grund dafür: der Wunsch nach Gerechtigkeit. Jedes Zwitterwesen will auf seine Art verhindern, dass es sich selbst befruchten muss. Denn damit würde es ja nur sein eigenes Gen-Repertoire neu zusammenstellen, ohne es mit fremdem Erbgut zu mischen. Es muss also einen Partner finden, der die eigenen Eier befruchtet – und zugleich seine Eier zur Befruchtung freigibt. Der Haken daran ist, dass Eier wegen ihres Nährstoffgehalts um ein Vielfaches „teurer“ sind als Spermien und nur in begrenzter Zahl produziert werden können. Daher wäre es nur gerecht, wenn jeder Partner dem anderen ebenso viele wertvolle Eier überlässt, wie ihm selbst angeboten werden.
Um einen „fairen Handel“ zu gewährleisten, haben Sägebarsche ein kompliziertes Balzritual entwickelt. In der Abenddämmerung versuchen die Meeresfische einen Artgenossen zum Ablaichen zu bewegen. Sobald dieses Tier der Einladung folgt, schwimmen die beiden einige Zeit nebeneinander her. Dann schnellt eines mehrere Meter nach oben, das andere folgt ihm – und in Sekundenschnelle stößt das obere Spermien aus, während das untere Eier entlässt. Der befruchtete Laich wird im Meerwasser sich selbst überlassen. Anschließend schwimmt das Paar wieder nach unten und wiederholt dieselbe Prozedur, doch diesmal mit vertauschten Rollen. So geht es mehrere Male zwischen denselben Partnern hin und her, wobei beide abwechselnd den Part des Weibchens übernehmen. Bei manchen Arten suchen die Sägebarsche sogar an verschiedenen Tagen dieselben Partner auf. So ist dafür gesorgt, dass der „Eierhandel“ streng auf Gegenseitigkeit beruht und nicht einer vom anderen übers Ohr gehauen wird.
Gleichberechtigung beim Sägebarsch (Serranus cabrilla): Die Geschlechterrollen werden bei der Paarung mehrmals getauscht.
Der Alexanderplatz in Berlin: viel Beton, viel Glas, viele Menschen – aber eben auch überraschend viel Natur.
Ralf Stork
Städte und Natur werden oft als Gegensätze gedacht. Dabei spielen urbane Räume eine immer wichtigere Rolle für den Artenschutz. Nicht nur, weil sie beständig wachsen. Sondern auch, weil besonders artenreiche Lebensräume in der Agrarlandschaft deutlich schneller verloren gehen als in den Städten.
Als die Menschen vor rund 7000 Jahren damit begannen, die ersten Städte zu gründen, schufen sie nicht nur für sich selbst eine völlig neue Umgebung. Auch für Tiere und Pflanzen ist die Stadt ein besonderes Lebensumfeld. Nirgends sonst leben so viele Menschen – für die meisten Tieren potenzielle Feinde – auf so engem Raum zusammen. Nirgends sonst drängen Gebäude und das fein gesponnene Netz der Infrastruktur die „Natur“ so weit an den Rand. Und kaum ein anderer Lebensraum ist so kleinteilig und so vielen Veränderungen ausgesetzt: Wo gerade noch Wald war, steht bald schon ein Haus, steht bald eine Ruine, entsteht später vielleicht eine Straße, ein Garten oder ein Park. Bald leben 60 Prozent der Weltbevölkerung in der Stadt. Für Menschen ist sie also längst das häufigste Lebensumfeld. Und es wuchert immer weiter ins Umland hinein. Bleibt die Frage, was das für Tiere und Pflanzen bedeutet. Bedroht das urbane Wachstum die Artenvielfalt? Oder können Arten am Ende auch davon profitieren?
Am Berliner Alexanderplatz findet man Belege für beide Sichtweisen: Die Gegend rund um den Fernsehturm ist ein Paradies für Skater. Es wimmelt nur so von betonierten Rampen, Treppen, Mauern und jeder Menge gepflasterten, geteerten und asphaltierten Flächen. U-Bahn-, S-Bahn-, und Regional-Bahnhöfe spucken in kurzen Abständen Hunderte Menschen aus, die dann in die umliegenden Kaufhäuser, Kinos und Restaurants strömen. Um so viel Begegnungsverkehr störungsfrei ans Ziel zu bringen, braucht es die großen, freien Flächen. Zu viel Bäume, zu viel Natur würden da nur im Weg rumstehen.
Und dennoch, selbst hier, mitten im Zentrum der Stadt, finden einige Tierarten ihren Platz: Im U-Bahnhof, weit unter der Erde, fliegt eine Straßentaube auf der Suche nach Krümeln von einem Gleis zum anderen. In den Ausläufern des Fernsehturm-Fundaments haben Spatzen in Spalten und Überhängen ihre Nester gebaut. Sie suchen zwischen den Sitzbänken für Passanten nach Essensresten, genau wie ein paar Stare. Löwenzahn wächst in Mauerritzen, Kübelpflanzen begrenzen die Terrassen der Straßencafés. Keine 50 Meter hinter dem Fernsehturm beginnen die Straßenbäume. Es gibt große Beete, einen kleinen Park, Büsche und Grünflächen. Auf dem nicht mal 400 Meter langen Weg bis zur Spree, wo gerade die Kulisse des Stadtschlosses fertiggestellt wird, sind noch Ringeltauben, Blau- und Kohlmeisen, Nebelkrähen, Mönchsgrasmücken, Bachstelzen, Gartenrotschwänze, Mehlschwalben, Rauchschwalben, Stockenten, Blässhühner, Heringsmöwen, Amseln und Mauersegler zu sehen. Insgesamt 17 verschiedene Vogelarten. Gar nicht schlecht für eine beiläufige Suche in einem winzigen Teil der Stadt. Laut aktueller Roter Liste sind 133 verschiedene Brutvogelarten in Berlin zu Hause. Das ist mehr als die Hälfte der 243 regelmäßig in Deutschland brütenden Arten.
Dieser Sperling lässt sich von den Menschen und ihrer Technik nicht stören. Er nutzt sie einfach für sich und baut sein Nest in eine Straßenlaterne.
Manchen Vögeln bietet die Stadt optimale Bedingungen: Typische Felsbrüter wie Straßentauben und Mauersegler finden in den künstlichen Felslandschaften ideale Nistmöglichkeiten. Andere Arten haben gelernt, das besondere Nahrungsangebot der Stadt für sich zu nutzen: Spatzen, Stare, Krähen und Tauben haben sich eine Distanzlosigkeit antrainiert und so menschliche Futterquellen wie Mülleimer, Bahnsteige und Straßencafés erschlossen.
Viele der Stadtvögel sind sogenannte Ubiquisten: robuste, wenig anspruchsvolle, anpassungsfähige Arten, die sich in unterschiedlichsten Lebensräumen zurechtfinden und im ganzen Land häufig vorkommen. Allerweltsarten wie Meisen, Stockenten oder Blässhühner zählen dazu. Aber auch extrem seltene Arten finden innerhalb des Stadtgebietes wichtige Refugien. In Berlin brüten unter anderem seltene Arten wie Flussregenpfeifer, Trauerseeschwalbe und Seeadler. Und was für Vögel gilt, gilt auch für andere Artengruppen: Bei den Schmetterlingen etwa dominieren Kohlweißlinge und Tagpfauenaugen. Bei den Säugetieren stehen die Berliner Wildschweine fast schon synonym für die Natur in der Stadt.
Wildschwein-Sichtungen sind in Berlin keine Seltenheit. Hier ist eine Bache mit ihren Frischlingen unterwegs.
Stadtbäume müssen so einiges aushalten. Sie haben kaum Platz für ihre Wurzeln und leiden unter Hitze, Salz und Hundekot.
Aber warum zieht es sie in den urbanen Raum? „Das Besondere an der Stadt ist die kleinteilige Mosaikstruktur: Dächer, Hinterhöfe, Gärten, Bahnböschungen, Parks, Friedhöfe, landwirtschaftliche Flächen und temporäre Brachen liegen dicht beieinander und sind ganz unterschiedliche Lebensräume“, sagt Leonie Fischer. Sie ist Professorin für Landschaftsplanung und Ökologie an der Universität Stuttgart. Einer ihrer Schwerpunkte ist Stadtökologie. Bis 2019 hat sie an der TU Berlin zum Thema urbane Renaturierung geforscht. „Manchmal findet man bereits ganz punktuell eine enorme Artenvielfalt. Zum Beispiel, wenn eine alte poröse Friedhofsmauer ideale Nistgelegenheiten für Wildbienen bietet – und es in der Nähe noch eine üppig blühende Wiese gibt “, sagt Fischer.
Lebensgrundlage der meisten Tiere, die in der Stadt leben, sind Pflanzen: Sie dienen als Futter oder als Futter für das Futter. Sie bieten Verstecke, Rückzugsmöglichkeiten, sind Wohnung, Kinderstube, unerlässlicher Lebensraum. Aber sie müssen auch einiges aushalten.
„Für viele Pflanzen ist die Stadt ein extremer Standort“, sagt Fischer. Dächer und versiegelte Flächen heizen sich stark auf. Mal gibt es einen Überschuss an Wasser, weil es wegen der Versiegelung nach einem Regenschauer nicht gut abfließen kann, dann wieder einen Mangel. Diese Schwankungen machen das Leben in der Stadt zur Herausforderung. Gerade für Straßenbäume, von denen es allein in Berlin rund 440 000 gibt: Die Löcher, in die die Bäume gepflanzt werden, sind klein. Wegen der vielen Rohre und Leitungen, die im Boden verlegt sind, haben die Wurzeln nicht viel Platz, um sich auszubreiten. Es gibt kaum Luftzirkulation und sehr viel Hitzestrahlung durch die versiegelten Flächen ringsum. „Die Erde in den Baumscheiben – dem Boden rund um den unteren Teil des Stammes – ist meist stark verdichtet. Auch das Salzstreuen im Winter und Hunde machen den Bäumen zu schaffen“, erklärt Fischer. Bei einer Untersuchung von rund 400 Berliner Straßenbäumen wurde auf 90 Prozent der Baumscheiben Hundekot gefunden. Das führt dazu, dass die Bäume eine Überdosis Stickstoff abbekommen. Zudem hat Hundeurin einen hohen Salzgehalt, der die Stämme verätzt und nachhaltig schädigt. In Berlin mussten deshalb schon Straßenbäume gefällt werden.
Diese Bäume werden nicht einmal halb so alt wie ihre Artgenossen im Wald. Jedes Jahr müssen mehrere Tausend nachgepflanzt werden. Für viel Geld: Ein neuer Baum inklusive Pflege kostet 2000 Euro. Doch die Bäume sind wichtig für die Stadt, weil sie den Wind bremsen, der durch die Häuserschluchten fegt, weil sie mit ihrer Verdunstung für Kühlung sorgen und weil sie die Stadtbewohner glücklicher machen. Studien belegen, dass Menschen umso zufriedener sind, je mehr Grün sie vor ihrer Haustür haben. Zudem sind Straßenbäume wichtige Verbindungsstücke, auf denen Tiere von einem grünen Hot-Spot zum anderen gelangen können.
Dazu gehören Friedhöfe und alte Parks. Ab einer Mindestgröße von 10 bis 35 Hektar sind sie groß genug, um den meisten Stadtvogelarten einen Lebensraum zu bieten. Das liegt daran, dass in größeren Parks der Nutzungsdruck geringer ist und auch scheuere Arten ihre Rückzugsräume finden. Vor allem aber bilden sie ein Mosaik verschiedener Lebensräume mit dichteren und lockereren Waldbereichen, Wiesen, Gebüschen und Gewässern.
Das Tempelhofer Feld war einmal ein Flughafen; heute wird die Fläche extensiv bewirtschaftet und ist Heimat für zahlreiche seltene Vögel.
„Wiesen spielen für die Biodiversität in der Stadt eine große Rolle“, sagt Leonie Fischer. 2013 hat sie an einer Studie mitgearbeitet, die die Naturpotenziale unterschiedlicher Grünanlagen in Berlin untersucht. Das Ergebnis: Besonders die sehr alten Flächen – Mager- und Trockenrasen und extensives Grünland – die in historischen Parks etwa am Schloss Charlottenburg oder auf der Pfaueninsel zum Teil schon seit mehr als 100 Jahren bestehen, sind Relikte der ursprünglichen, deutlich artenreicheren Vegetation und daher besonders schützenswert. „Auch die extensiv bewirtschafteten Flächen am Tempelhofer Feld und die Wiesen neben den Landebahnen am Flughafen Tegel gibt es schon mehrere Jahrzehnte. Weil sie so alt und groß sind, spielen sie eine wichtige Rolle für den Artenschutz“, so Fischer. Das Tempelhofer Feld zum Beispiel ist Heimat von fast 40 Prozent der Berliner Feldlerchen. Knapp die Hälfte der 26 Brutvogelarten dort steht auf der Roten Liste, darunter auch Steinschmätzer und Braunkehlchen. Bei den Insekten kommt unter anderem die Italienische Schönschrecke vor, die in Deutschland vom Aussterben bedroht ist.
43 Prozent der Berliner Wiesen sind so selten und deshalb wertvoll, dass sie von Gesetz wegen zu den schützenswerten Biotopen gehören. Der Löwenanteil davon – 71 Prozent – liegt im urbanen Raum. Nur 29 Prozent sind landwirtschaftlich genutzt und liegen in den Außenbereichen der Stadt. Der Grund für diese auf den ersten Blick irritierende Verteilung: Seit vor mehr als 100 Jahren der Kunstdünger erfunden wurde, können landwirtschaftliche Flächen mit Nährstoffen geradezu geflutet werden. In der Folge werden magere Standorte immer fetter und verlieren darüber ihren Artenreichtum. Von 1980 bis 2016 sind die Bestände aller Feldvögel europaweit um 56 Prozent zurückgegangen, wie aus einem internationalen Vogelmonitoring hervorgeht.
Der Entomologe Frank Suhling macht noch einen weiteren Arten-Hotspot in den Städten aus. Suhling lehrt Ökologie und Biodiversität an der Technischen Universität Braunschweig. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte sind Libellen in der Stadt. Vergleichsstudien seiner Arbeitsgruppe haben gezeigt, dass in der Stadt beinahe so viele verschiedene Libellenarten vorkommen können, wie im Umland. Eine besondere Rolle spielen dabei die Randbereiche. „Rund um den Alexanderplatz wird es vermutlich nicht besonders viele Libellenarten geben. Aber da, wo die Stadt allmählich ausfranst und ins Umland übergeht, ist die Artendichte deutlich höher“, sagt er.
In ihren Peripherien haben fast alle Städte Bereiche, die nicht mehr nach Stadt aussehen. Solche, die nur auf dem Papier noch Stadt sind, weil die Grenze eben nicht dort liegt, wo der bebaute Raum aufhört, sondern ein ganzes Stück weiter draußen. In Berlin liegen kurz vor der Stadtgrenze große Waldgebiete wie der Grunewald oder der Tegeler Forst, die Seenketten von Havel und Spree, aber eben auch landwirtschaftliche Flächen und viele Naturschutzgebiete. „Die Struktur ist ähnlich wie in der Landschaft ringsum, aber die landwirtschaftliche Nutzung ist meist viel extensiver“, sagt Suhling. Dadurch steigt die Artenvielfalt.
Obwohl sich Tiere und Pflanzen die Stadt mit Hunderttausenden oder gar Millionen Menschen teilen müssen, obwohl die große Mehrheit der Arten zumindest historisch betrachtet außerhalb großer Siedlungen besser zurechtkam, werden Städte für den Artenschutz in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen. Aber noch hat das Thema in vielen Kommunen nicht die Bedeutung, die es eigentlich haben müsste. Die Vielfalt ist weiterhin bedroht. So könnten bei der Nachverdichtung der Städte genau die Relikte alter Wiesen überbaut werden, die für viele Arten so wichtig sind. Auch die Architektur spielt eine Rolle: In ausgebauten Dachböden und gedämmten Häusern finden Mauersegler und Fledermäuse immer weniger geeignete Nischen – ihre Bedürfnisse müssten extra mitgedacht werden. Ein recht neues Problem gerade in Einfamilienhaussiedlungen am Rande der Stadt sind Stein- oder Schottergärten: Der vermeintlich einfacheren Pflege wegen wird komplett auf Pflanzen verzichtet. Solche „Gärten“ sind nicht nur ökologisch völlig wertlos, die großen Steinflächen treiben auch die Temperaturen in der Stadt in die Höhe. Als erstes Bundesland hat Baden-Württemberg Mitte des Jahres einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der Schottergärten verbieten soll.
Steine statt Wiese? Solche Schottergärten sind vielleicht pflegeleicht, aber dafür maximal lebensfeindlich.
Überhaupt könnten Städte das Potenzial ihrer wertvollen Flächen noch besser schützen und entfalten: Der vielfältigste Trockenrasen bringt wenig, wenn er immer wieder raspelkurz gemäht wird. Doch dieser Anblick ist immer noch die Regel. Wie eine aktuelle Untersuchung von Fischer und anderen Wissenschaftlern zu 19 europäischen Städten zeigt, hat das auch mit einem gewissen Ordnungsverständnis der Städter zu tun: Grundsätzlich befürwortet der Großteil von Ihnen Maßnahmen zur Förderung der städtischen Artenvielfalt. „Aber sobald Grünflächen ungepflegt oder trocken aussehen, geht die Zustimmung zurück“, sagt Fischer. Wenn die Maßnahmen aber mit einem aufgeräumten Erscheinungsbild der Parks einhergehen, ist die Zustimmung groß. Das Verhältnis der Städter zur Natur ist also kein gänzlich unkompliziertes. Die Lösung aber ist manchmal ganz einfach: Sobald die Wiese von einem ordentlich gemähten Rand eingefasst ist, verschwinden die Akzeptanzprobleme.
Der Bucklige Tiefsee-Anglerfisch (Melanocetus johnsonii) lebt in Tiefen von mehr als 500 Metern. Mit dem angelartigen Auswuchs am Kopf und scharfen Zähnen erbeuten die Weibchen andere Fische.
Monika Offenberger
Am Grund der Ozeane herrscht absolute Dunkelheit. Es gibt 80 Grad heiße Quellen, drum herum ist das Wasser extrem kalt; der Druck der Wassersäule ist enorm. Dennoch tummelt sich dort unten eine ganze Menge bizarrer Kreaturen.
An einem Frühlingstag des Jahres 1977 gingen zwei amerikanische Geologen vor den Galapagos-Inseln von Bord des US-Forschungsschiffes Mizar und zwängten sich in ein kleines U-Boot namens Alvin. Das 16 Tonnen schwere Gefährt, umhüllt mit einer fünf Zentimeter dicken Titanschicht und Sichtluken aus neun Zentimeter starkem Kunststoff, hält Atemluft für drei Tage bereit und kann 4500 Meter tief tauchen. Gesteuert von einem pensionierten Navy-Offizier, sank Alvin durch die Wasserwüste und fräste mit seinen Scheinwerfern Lichtschneisen in die Finsternis. In 2400 Metern Tiefe stieß die Crew auf felsigen Grund und blickte in eine gespenstische Landschaft. Schlanke Röhren ragten mehrere Meter weit in die Höhe wie verzweigte Fabrikschlote, mit langen Fahnen aus einer Art dunklem Rauch. Ein Name für die Gebilde war schnell gefunden: Schwarze Raucher.
Die Entdeckung war spektakulär, aber im Prinzip nicht unerwartet. Denn in dieser Region des Ostpazifiks zerfällt die Erdkruste in drei Platten, die Jahr für Jahr zentimeterweit voneinander wegstreben. Dabei reißen Gräben und Spalten auf, durch die sich die Eingeweide der Erde ins Wasser ergießen: Extrem heiße Flüssigkeit voller schwefel- und stickstoffhaltiger Mineralien und Schwermetalle schießt unter dem gewaltigen Druck der Wassermassen aus dem Meeresboden. Wenn diese bis zu 400 Grad heißen Fontänen auf das zwei Grad kalte Meerwasser treffen, fallen die gelösten Stoffe aus. Einige Teilchen sprudeln mit dem Wasser nach oben und sehen dabei aus wie weißer oder schwarzer Rauch. Die anderen lagern sich am Austrittsort ab und bilden nach und nach die schornsteinähnlichen Strukturen. Klingt nicht sonderlich lebensfreundlich.
Die eigentliche Überraschung erlebten die Forscher daher, als sie im Licht der Scheinwerfer Muschelschalen erblickten. Da hätten sich wohl die Kollegen auf dem Mutterschiff ein feines Dinner geleistet und die Reste über Bord gehen lassen, witzelten die Taucher. Doch bei genauerem Hinsehen zeigte sich: Es waren tatsächlich Muscheln. Und sie lebten! Am folgenden Tag entdeckten die Männer noch mehr Muscheln, dazu Seeanemonen und eine Art Würmer in weißen Röhren, die beinahe zwei Meter in die Höhe ragten und an ihrem Ende purpurrote Auswüchse in die heißen Quellen reckten. Die Wesen wiegten sich im Wasser wie Blumen im Wind. Alvin war in dieser nassen, lichtlosen Wüste in einem Garten Eden gelandet.
Mit dem U-Boot Alvin entdeckten Forscher zum ersten Mal Schwarze Raucher am Meeresgrund – und um sie herum eine Menge Leben.
Das widersprach allem, was Biologen damals über die Tiefsee wussten. Sie fragten sich, was diese Tiere ohne eine Lichtquelle am Leben hielt. Was fraßen sie? Heute weiß man, dass die merkwürdigen Würmer von Bakterien ernährt werden, die in ihrem Körpergewebe siedeln. Diese Mikroben nutzen Schwefelverbindungen aus den Hydrothermalquellen, um chemische Energie zu gewinnen – und damit Kohlendioxid zu Kohlenhydraten zusammenzubauen. Chemosynthese heißt der Prozess, der im Ergebnis der Photosynthese ähnelt, aber ohne Licht auskommt. Die Bakterien erhalten Schwefel als Energiequelle über das Blut des Wurms und füttern ihn dafür mit ihren Stoffwechselprodukten. Als Verbündete zaubern sie blühende Ökosysteme auf den lichtlosen Meeresgrund.
Damit war das Rätsel der Unterwasser-Oasen gelöst. Inzwischen haben Biologen weltweit mehr als 300 verschiedene Tierarten an den heißen Quellen am Grund der Tiefsee entdeckt. Sie alle leben direkt oder indirekt von der Chemosynthese-Leistung der Schwefelbakterien. So auch die augenlosen Yeti-Krabben mit ihren zehn Zentimeter langen Scheren. Oder Pompejiwürmer, die in selbstgebauten Röhren an den rund 80 Grad heißen Außenwänden der Schwarzen Raucher hausen. Oder Schuppenfußschnecken, deren harte Schale mit einer stark magnetischen Eisenverbindung namens Greigit dem Druck von bis zu 250 Atmosphären standhält. 2015 fanden schwedische Forscher bei einem Schwarzen Raucher am mittelatlantischen Rücken zwischen Grönland und Norwegen neben etlichen Tieren auch eine neue Gruppe von Archaeen. Diese einzelligen Organismen weisen mehr biochemische Gemeinsamkeiten mit den Zellen von Tieren und Menschen auf als alle bislang bekannten Mikroben und gelten daher als wichtiges Bindeglied in der Evolution komplexer Zellen. Nach ihrem Fundort in „Loki´s Castle“ wurden die Winzlinge kurzerhand „Lokiarchaeota“ genannt. Ihre genetische Ausstattung befähigt sie dazu, sich Bakterien einzuverleiben – gerade so, wie es die Endosymbiontentheorie vorhersagt: Der zufolge entstanden die Vorläufer aller kernhaltigen Zellen (Eukaryoten) durch eine solche Verschmelzung von Archaeen- und Bakterienzellen. Hat also mehrzelliges Leben hier seinen Anfang genommen? Endgültig bewiesen ist das nicht, ganz unwahrscheinlich aber auch nicht.
Dieser Schwarze Raucher steht am Mittelatlantischen Rücken in 2980 Meter Wassertiefe. Die Schwefelverbindungen, die er ausstößt, stellen eine Quelle des Lebens in der Tiefsee dar.
Jede Expedition in die Tiefsee bringt neue Erkenntnisse. Und zugleich lehrt sie uns, wie wenig wir immer noch über diesen lichtlosen Lebensraum wissen, der 200 Meter unter der Meeresoberfläche beginnt und unvorstellbare Dimensionen einnimmt: Mehr als 70 Prozent des Globus sind von Ozeanen bedeckt, und fast 90 Prozent des Meeresgrunds liegen in der Tiefsee. Die tiefste Stelle, die je ein Mensch erreicht hat, liegt im Marianengraben, 10 927 Meter unter Normal Null. Noch ist wenig darüber bekannt, welche Lebewesen in diesen Tiefen leben. Selbst in zugänglicheren Regionen sind nur wenige Wissenschaftler bis zum Meeresgrund vorgedrungen. Eine vage Ahnung von der Vielfalt der Tiefseebewohner erbrachte eine Unterwasser-Inventur namens Census of the Diversity of Abyssal Marine Life, kurz CeDAMar: Zehn Jahre lang sammelten Wissenschaftler möglichst viele Informationen über das Leben in der Tiefsee. Von Forschungsschiffen aus versenkten sie bis zu zehn Kilometer lange Kabel mit Bodengreifern und stanzten in 5000 Metern Tiefe Proben aus dem Meeresgrund. Zusätzlich zogen sie mit Netzen versehene Schlitten über den Boden um auch dort das Getier abzusammeln. Auch Antje Boetius, Professorin für Meeresbiologie an der Universität Bremen und Leiterin des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven, war mit ihrem Team beteiligt: „Wir fanden eine enorme Vielfalt von Krebsen und Fadenwürmern, aber auch erstaunlich viele Arten von Kraken und Tiefseefischen“, berichtet sie. „Wahrscheinlich leben in der Tiefsee eine Million Tierarten, die wir noch nicht kennen. Dazu kommt schätzungsweise eine Milliarde unterschiedlicher Mikroorganismen.“
Mit solchen Tiefseenetzen holen Forscher Organismen vom Meeresgrund. So wollen sie mehr über das Leben in der Tiefsee lernen.
Leuchtende Abwehr: Der Vampirtintenfisch (Vampyroteuthis infernalis) kann eine Wolke von biolumineszenten Partikeln aussenden und damit seine Feinde verwirren.
Tiefseeschwämme leben festgewachsen an einem Ort und filtern zum Beispiel Krebstiere und andere kleine Organismen aus dem Wasser.
Warum ist die Erforschung der Tiefsee so mühsam? Antje Boetius erklärt es so: „Der Raum ist einfach unendlich groß. Und durch das Wasser kann man nicht schauen, es ist nur wenig per Fernerkundung zu machen. Auch die autonome Unterwasserrobotik ist schwierig – es gibt ja keine GPS Signale für die Navigation.“ Die Raumfahrt kann im All Solarenergie erzeugen, in der Tiefsee aber gibt es kein Licht. „Dazu kommen extrem hohe Wasserdrücke, die Kälte und das stark mit Sauerstoff angereicherte Salzwasser, das jedes technische Material angreift.“ Auch die Tiefseetiere selbst müssen mit extremen Drücken und Temperaturen zurechtkommen. Sie aber haben sich über Jahrmillionen an ihre extreme Umwelt angepasst, erklärt Boetius: „Die Fische, die im oberflächennahen Wasser leben, haben eine Schwimmblase. Sowas gibt´s in der Tiefsee nicht. Dort sind alle Lebewesen ohne Hohlräume, deshalb gibt es auch keinen Unterschied zwischen Innendruck und Außendruck. Nur so ist dieser extrem hohe Druck der Wassersäule zu ertragen“. Außerdem sind die meisten Organismen durch einen extrem langsamen Stoffwechsel an die niedrigen Temperaturen angepasst, die meist bei bis zu vier Grad Celsius, also nahe am Gefrierpunkt des Wassers liegen.
Was das Leben in Dunkelheit angeht, so haben einige Spezialisten spezielle Tricks entwickelt: So locken etwa Anglerfische ihre Beute mit Tentakeln an, die von symbiotischen Fotobakterien via Biolumineszenz zum Leuchten gebracht werden. Der Tiefseevampir wiederum, eine Art Tintenfisch, beschießt damit seine Räuber – sodass diese, nun mit Leuchtfarbe beschmiert, für potenzielle Beutetiere sichtbar sind.
Nicht nur heiße Raucher liefern Energie. Hier tummeln sich unzählige weiße Krabben und Miesmuscheln an einer kalten Quelle im Arabischen Meer.
Die größte Herausforderung aber ist es, in der endlosen Weite der Tiefsee Nahrung zu finden. Zwar dienen auch hier, wie in jedem Ökosystem, allerlei kleine und kleinste Tiere den nächstgrößeren Räubern als Beute: Wale können mehrere Tausend Meter abtauchen, Delfine und Haie jagen bis mehrere Hundert Meter tief nach Fischen; Riesenkraken wurden 1500 Meter tief beim Fressen von Fischen und Krabben gesehen; Schwämme und Anemonen filtern noch in mehr als 4000 Meter Tiefe vorbeitreibende Krebstiere aus dem Wasser. Doch anders als in den lichtdurchfluteten oberen Meeresschichten leben in der Finsternis keine Algen, die via Fotosynthese neue Biomasse bereitstellen könnten. Und auch am Ozeanboden gibt es – abgesehen von den seltenen Hydrothermalfeldern – wenige Energiequellen. „Da unten wird nur aufgezehrt, was oben produziert wird und irgendwann absinkt“, erklärt Antje Boetius. „Tatsächlich lebt ein Großteil der Tiefseeorganismen am Meeresboden und frisst Schlamm. Denn dieser Schlamm ist voll von Bakterien, die abgestorbene Biomasse abbauen und sich einverleiben. So werden sie selbst zur Eiweißquelle und beliefern ein Nahrungsnetz, das extrem effizient ist und eine ungeheure Vielfalt an Lebewesen unterhält, obwohl nur sehr wenig Energie zur Verfügung steht.“ Die Professorin hat ausgerechnet, mit wie wenigen Kalorien die gesamte Tierwelt auf einem Quadratmeter Tiefseeboden auskommen muss: „Es gibt da nicht mehr als eine Scheibe Toastbrot im Jahr für alle“.