Säugetiere und Mensch

Eine Gattung, zwei Gestalten. Bei Polar- und Wüstenfuchs erkennt man sehr gut, wie die Temperatur im jeweiligen Lebensraum das Aussehen prägt.

Heiß-kalt

Salome Berblinger

Säugetiere in den Polarregionen und Wüsten der Erde trotzen widrigen Lebensumständen. An die extremen Temperaturen haben sie sich angepasst. Doch der Klimawandel birgt für Eisbär und Wüstenfuchs große Herausforderungen.

Flirrende Hitze über dem Wüstensand; weißer Schnee soweit das Auge reicht – zwei Lebensräume, die verschiedener nicht sein könnten. Auch die Tiere, die in Gegenden extremer Hitze oder Kälte leben, unterscheiden sich augenscheinlich voneinander. Besonders gut zu erkennen ist das an Tieren derselben Gattung. Polarfüchse haben im Winter ein langes, dichtes weißes Fell, kleine Ohren und kurze Beine. Wüstenfüchse dagegen haben ein kurzes hellbraunes Fell, im Verhältnis zu ihrem Körper sehr große Ohren und längere Beine. Der Polarfuchs ist außerdem pummeliger als der schlanke Wüstenwuchs.

Der Vergleich der Tiere ist ein gutes Beispiel für die Bergmann’sche Regel. Sie besagt, dass Tiere in kalten Regionen kompakter gebaut sind als ihre Verwandten in warmen Gebieten. Das Verhältnis vom Volumen des Tierkörpers zur Oberfläche ist nämlich entscheidend dafür, wie viel Wärme ein Tier verliert oder speichert. Deshalb kugeln sich der Polarfuchs und viele weitere Arten in kalten Regionen zur Ruhe zusammen, ziehen Kopf und Gliedmaßen ein und reduzieren so ihre Körperoberfläche. Ganz im Gegenteil zu Säugetieren in der Hitze: Sie bemühen sich um eine Körperhaltung, in der sie möglichst wenig Wärme speichern. Sie strecken etwa auch mal alle Viere von sich. Sylvia Ortmann vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung sagt: „Über die großen, gut durchbluteten Ohren gibt der Wüstenfuchs außerdem Wärme an die Umgebung ab.“

Das Fell des Polarfuchses ist nicht ganzjährig weiß. Im Sommer ist es braun-grau, und erst wenn sich zu Beginn des Winters die Lichtverhältnisse ändern und die Tage kürzer werden, vollzieht sich der Wechsel hin zum Winterfell. Dieses ist länger und dichter als der Sommerpelz. Farbloses Haar hat außerdem luftgefüllte Kammern, die besser isolieren. Doch der Fellwechsel dient nicht nur dazu. Polarfüchse sind im weißen Kleid besser getarnt. In der weißen Winterlandschaft kann ihre Beute sie kaum erkennen.

Meister im Wassersparen

Auch Wüstenfüchse profitieren von der Farbe ihres Fells. Die hellbraune Farbe tarnt die Tiere und reflektiert gleichzeitig Sonnenstrahlen. Fenneks, wie sie auch genannt werden, haben sich nicht nur anatomisch an die lebensfeindlichen Bedingungen der Wüste angepasst. Sie verhalten sich auch entsprechend, erklärt Ortmann: „Der Wüstenfuchs versucht den Wasserverlust zu minimieren, indem er sich möglichst wenig der Hitze aussetzt. Er ist vor allem nachts aktiv.“ In den Dämmerungsstunden beginnt der Fennek seine Jagd auf Wüstenmäuse. Die sind ihm Nahrungs- und Wasserquelle zugleich.

Auch das Kamel hat mehrere Tricks, um mit der geringen Menge an zur Verfügung stehendem Wasser hauszuhalten. „Früher dachte man, Kamele würden in ihren Höckern Wasser speichern. Heute wissen wir das besser: In den Höckern ist Fett, also Energie, die Kamele für ihre Stoffwechselprozesse nutzen können“, sagt Ortmann. Ein bisschen Wasser springt bei diesem Prozess aber tatsächlich raus: pro Kilogramm Körperfett ein Liter metabolisches Körperwasser.

Wenn Kamele auf langen Wanderungen durch die Wüste nicht trinken können, sparen sie Energie und somit Wasser, indem sie ihre Körpertemperatur nicht konstant halten. Diese schwankt dann von 41 Grad am Tag bis 34 Grad nachts. Damit die hohe Temperatur tagsüber nicht dem Gehirn des Kamels schadet, gibt es einen Mechanismus, der es nur bis maximal 38 Grad erhitzen lässt. Somit ist das Gehirn des Kamels im Extremfall bis zu 3 Grad weniger warm als der Rest des Körpers. Das ist durch das sogenannte Wundernetz (Rete mirabile) möglich. „Die Blutgefäße mit Arterien und Venen liegen so nah beieinander, dass Wärmeübergänge entstehen. Blut auf dem Weg zum Gehirn gibt Wärme an Blut ab, das Richtung Körpermitte fließt. So reguliert das Kamel automatisch seine Körpertemperatur und kann Wärme vor dem Gehirn zurückzuhalten“, erklärt Ortmann.

Auf langen Strecken durch die Wüste können Kamele oft nicht trinken. Sie sparen dann Energie und Wasser, indem sie ihre Körpertemperatur nicht regulieren.

Den Seeotter (Enhydra lutris) schützt vor allem sein dichtes Fell vor der Kälte im Meerwasser.

Einen ähnlichen Mechanismus zur Regulation von Blut im Körper hat auch der Eisbär. Mithilfe des Gegenstromprinzips hält er die Wärme in der Körpermitte, nur abgekühltes Blut gelangt in die Gliedmaßen. „Durch die Veränderung der Durchblutung sparen die Tiere Energie, es geht kaum Wärme etwa über die Füße verloren“, sagt Ursula Siebert vom Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung am Standort Büsum.

Zu den bekanntesten Meeressäugern gehören neben Eisbären Wale und Robben, es zählen aber auch Seekühe und Seeotter dazu. Die Tiere haben unterschiedliche Strategien entwickelt, um sich den Lebensbedingungen im und am eisigen Wasser anzupassen. Charakteristisch für Wale und Robben ist eine dicke Speckschicht, die ihren Körper isoliert und vor Kälte schützt. Wie dick die Schicht ist, kommt auf die Jahreszeit an und darauf, wo die Tiere leben. „Ein Schweinswal in der Nordsee benötigt eine weniger dicke Schicht als ein Tier in Grönland“, so Siebert. „Tiere, die etwa aufgrund eines schlechten Gesundheitszustandes nicht mehr genug Nahrung finden, haben eine dünnere Fettschicht.“ Und sind dementsprechend mehr durch die Kälte gefährdet.

Der Seeotter setzt weniger auf Körperfett als auf ein sehr dichtes Fell. Er lebt etwa an den Küsten Alaskas, Kanadas und Kaliforniens. In den Gewässern dort sind die Temperaturschwankungen laut Siebert nicht allzu groß. „Wird das Fell allerdings zum Beispiel durch eine Ölkatastrophe beschädigt, ist der Seeotter im Gegensatz zu Seehund oder Kegelrobbe stark der Auskühlung ausgesetzt“, erklärt Siebert.

Polarbären (Ursus maritimus) fangen eigentlich Robben, wenn diese in Eislöchern zum Atmen auftauchen. Doch wenn das Packeis verschwindet, wird die Jagd für die Bären immer schwieriger.

Im Sommer genießen Murmeltiere (Marmota marmota) frische Bergkräuter, im Winter schlafen sie in einer Erdhöhle. Doch der Klimawandel könnte diesen Rhythmus gefährlich durcheinanderbringen.

Eisbären sind gleich mehrfach geschützt. Sie regulieren ihre Körpertemperatur, haben eine dicke Fettschicht und ein dichtes Fell. Obwohl die anatomischen Besonderheiten und Mechanismen zum Schutz vor Auskühlung ausgeklügelt sind, hilft es dem Eisbär nicht bei einer entscheidenden Herausforderung: dem Klimawandel. Denn so gut sich die Meeressäuger an ihren extremen Lebensraum angepasst haben, so sehr sind sie auch darauf angewiesen. Nicht nur die Anatomie der Tiere, auch ihr Verhalten ist spezifisch auf ein Leben in Kälte und Eis ausgerichtet. Wenn plötzlich große Teile des eiskalten Lebensraums wegfallen, weil selbst im Winter das Eis in der Arktis nicht mehr zufriert, haben Eisbären ein Problem.

Erwärmung fordert Anpassung

Normalerweise jagen sie im Frühjahr junge Robben, die einen besonders hohen Fettgehalt haben und noch nicht vom Eis ins Wasser flüchten können. Später im Jahr lauern sie den Tieren an Löchern im Eis auf, in denen die Robben zum Atmen auftauchen. Doch ohne Eis sind Robben für Eisbären schwierige Beute. Eisbären können zwar auch gut schwimmen und tauchen. Wenn sie lange unter Wasser sind, verlieren sie aber viel Energie. Der Grund: Das Fell ist nass und Wasser gelangt an die Haut und Flüssigkeit leitet Wärme 25-mal besser als Luft.

„Das Ökosystem verändert sich leider so schnell, dass die Tiere aus Perspektive der Evolution nicht genug Zeit haben, sich an die neuen Bedingungen in ihrem Lebensraum anzupassen“, sagt Ursula Siebert. Stattdessen erschließen sie sich andere Nahrungsquellen, gehen etwa an steilen Felsklippen auf die Suche nach Brutkolonien. „Für mich als Forscherin ist das natürlich spannend, allerdings eher im negativen Sinn. Ich beobachte diese extremen Bilder mit Sorge. Die Polarkappen schmelzen schneller als befürchtet, und der Eisbär ist in dieser veränderten Situation besonders exponiert.“ Denn der Meeressäuger kann nicht einfach in andere Regionen mit größerem Nahrungsangebot abwandern, wie es etwa Wale tun.

Auch Sylvia Ortmann schätzt, dass wenig mobile Tiere die Verlierer des Klimawandels sein werden. „Murmeltiere etwa sind Nahrungsspezialisten. Sie fressen frische Kräuter und weil diese im Winter nicht verfügbar sind, machen sie einen Winterschlaf.“ Die Schneedecke auf dem Boden isoliert dabei das Winterquartier der Tiere in einer Erdhöhle. Fällt aber weniger oder kein Niederschlag, dringt die bis zu –20 Grad kalte Außentemperatur in ihrem Lebensraum im Hochgebirge leichter in den Boden ein. Das kostet die Tiere viel Energie und im Frühling wachen sie viel zu mager auf. Abwanderung ist für Murmeltiere keine Option. Die Beine der Nager sind für lange Strecken zu kurz.

Porträt: Die Spitzmaus

Ralf Stork

Ein Erwachsener hat einen durchschnittlichen Energiebedarf von 1900 bis 2500 Kalorien am Tag, je nach körperlicher Betätigung. Ein Apfel hat ungefähr 65 Kalorien, ein großes Bier 250, eine Pizza mindestens 800. In unserer Konsumgesellschaft ist der Energiebedarf also schnell gedeckt. Wie verlockend erscheint da manchmal der Gedanke, einfach immer weiter essen zu können, ohne zuzunehmen?

Spitzmäuse (Soricidae) können das. Von kürzeren Ruhepausen abgesehen, fressen sie Tag und Nacht alles, was ihnen vor die empfindsame Schnauze kommt: Insekten, Regenwürmer, Schnecken. Manche Arten produzieren sogar ein lähmendes Gift, mit dem sie auch größere Beutetiere wie Mäuse oder Amphibien überwältigen.

Das tun sie nicht aus Lust und Völlerei: Spitzmäuse müssen Tag und Nacht fressen, um nicht zu verhungern. Und das, obwohl die Tiere nur drei bis 18 Gramm auf die Waage bringen. Oder besser: genau deswegen. Das kleinste Säugetier überhaupt ist die Etruskerspitzmaus (Suncus etruscus) mit einem Gewicht von gerade einmal 2,5 Gramm. Im Vergleich dazu wirken Mäuse (12 bis 35 Gramm) groß und andere Insektenfresser wie Maulwurf oder Igel (90 bzw. 780 Gramm) geradezu riesig. Der kaum zu stillende Appetit ist der Preis, den die Spitzmäuse für ihre geringe Körpergröße zahlen müssen: Je kleiner ein Tier ist, desto größer ist seine Oberfläche im Verhältnis zum Volumen. Als Anpassung an die Kälte am Südpol sind Kaiserpinguine deshalb auch doppelt so groß wie die Galapagos-Pinguine in deutlich wärmeren Gefilden (Bergmann‘sche Regel). Bei den winzigen Spitzmäusen ist der Wärmeverlust über die Körperoberfläche also extrem. Das gleichen sie durch einen genauso extremen Stoffwechsel aus: Das Spitzmausherz pumpt bis zu 1000-mal pro Minute Blut durch den Körper. Das sind 17 Schläge pro Sekunde! Bei einem so hochtourigen Kreislauf ist der Energiebedarf entsprechend groß. Viele Arten fressen täglich das Äquivalent ihres eigenen Körpergewichts, oder noch mehr. Was in unseren Ohren zuerst wie eine Verheißung und dann fast wie ein Fluch klingt, ist vor allem eine sehr erfolgreiche Überlebensstrategie: Spitzmäuse gibt es schon seit rund 30 Millionen Jahren und damit mehr als vier Mal so lange wie Elefanten.

Immer beim Fressen: Weil Spitzmäuse so klein sind, haben sie einen extrem schnellen Stoffwechsel, um Wärmeverluste auszugleichen.

Porträt: Der Dickschwanz-Schlafbeutler

Ralf Stork

Alle Tiere müssen schlafen. Manche schalten nur eine Gehirnhälfte ab, wie zum Beispiel Delfine. Giraffen und Pferde schlafen im Stehen oder nur ein paar Minuten am Stück. Denn Schlaf ist gefährlich.

Wer schläft, kann nicht rechtzeitig vor Fressfeinden flüchten. Nicht schlafen ist aber auch keine Lösung: Der Ruhezustand ist lebensnotwendig, damit sich Gehirn und Nervensystem regenerieren können. Viele Arten nutzen einen schlafähnlichen Zustand auch dazu, schwierige Zeiten möglichst energiesparend zu überstehen: Fledermäuse und Hausmäuse etwa fahren ihre Körpertemperatur und ihren Stoffwechsel regelmäßig herunter. Dieser Energiesparmodus, der unabhängig von Außentemperatur oder Nahrungsangebot läuft, heißt Topor.

Die lange Variante dieses Prinzips ist der Winterschlaf, mit dem Igel, Hamster oder Fledermaus drei bis sechs Monate lang den Winter überbrücken. Der absolute Rekordschläfer findet sich aber nicht auf der Nordhalbkugel, sondern in Australien: der Dickschwanz-Schlafbeutler (Cercartetus nanus). Schlafbeutler sind kleine, etwa mausgroße Beuteltiere, die sich nachts von Nektar und Pollen ernähren. Sie können schnell Gewicht zulegen und lange davon zehren, besonders der Dickschwanz-Schlafbeutler, der Fett in seinem Schwanz einlagern kann. Wissenschaftler der University of New England haben fünf der Beuteltiere ordentlich gemästet und dann in eine sieben Grad kalte Klimakammer gesteckt. Innerhalb kurzer Zeit schliefen die Tiere ein, die Körpertemperatur sank auf fünf Grad. In diesem Zustand benötigten sie nur 2,5 Prozent ihrer normalen Energie. Im Durchschnitt schliefen sie 310 Tage. Ein Beutler wachte erst nach über einem Jahr – nach 367 Tagen – wieder auf!

Schlafend durch schwere Zeiten: Der Dickschwanz-Schlafbeutler kann jederzeit in den Winterschlaf fallen.

Anders als die meisten anderen Säugetiere können die Schlafbeutler jederzeit in den Winterschlaf-Modus wechseln und so unbeständiges Wetter mit langen Trockenphasen und extremer Nahrungsknappheit überstehen. Bei drohender Gefahr sind sie in der Lage, relativ schnell wieder aufzuwachen. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Schlafbeutler auch während des Winterschlafs Rauch riechen und sich so vor Buschfeuern in Sicherheit bringen können.

Untauglich für die Landwirtschaft, perfekt für wilde Tiere: Im Nationalpark Bayerischer Wald fühlt sich der Europäische Luchs wieder heimisch.

Menschenleere Nischen

Ralf Stork

Fast jeder Winkel der Welt ist heute von Feldern und Plantagen, Siedlungen und Straßen durchdrungen. Aber es gibt Regionen, die für die Nutzung durch den Menschen zu extrem sind – weil Landwirtschaft dort nicht funktioniert oder weil die Menschheit sie aktiv zerstört hat. Solche Gebiete können wichtige Refugien für viele Arten sein.

Dem Luchs in Deutschland geht es so gut wie seit vielen Jahren nicht mehr. Es gibt wieder drei Populationen – im Harz, im Bayerischen Wald und seit Kurzem auch im Pfälzer Wald. In den großen, dichten Wäldern finden die Luchse ideale Bedingungen vor, sodass der Bestand wieder auf etwa 200 Tiere angewachsen ist. Ihr Comeback ist eines von Menschen Gnaden: Die heutige Population geht vollständig auf Auswilderungsprojekte zurück. Vor allem aber leben die Katzen heute in Lebensräumen, die für den Menschen uninteressant sind, was Nutzungskonflikte eher ausschließt. Sobald der dichte Wald auf die intensiv bewirtschaftete Agrarlandschaft trifft, die die Berge umschließt, stockt die Ausbreitung der Tiere.

Nutzungskonflikte

Die Landwirtschaft ist einer der großen Treiber der Entwicklung und Ausbreitung des Menschen über die ganze Welt. Dank ihr ist es möglich, bald acht Milliarden Menschen zu ernähren. Doch die dafür beanspruchte Fläche ist enorm: Allein in Deutschland werden knapp 51 Prozent des Landes landwirtschaftlich genutzt.

Nennenswerte Freiräume für die Natur gibt es nur in den Gebieten, die für den Menschen – beziehungsweise die Landwirtschaft – zu extrem sind. Der Harz und die anderen Mittelgebirge sind weder für den Anbau von Feldfrüchten noch für eine dichte Besiedlung zu gebrauchen. Die Hänge sind zu steil, das Klima wegen der Höhenlage deutlich schroffer als in der Ebene. Nur deshalb sind dort die großen zusammenhängenden Waldgebiete erhalten geblieben, in denen sich der Luchs und auch die Wildkatze heute wieder wohlfühlen.

Die Alpen und andere Hochgebirge sind für den Menschen noch extremer. Kein Wunder, dass sich die inselartigen Vorkommen des Braunbären in West- und Südeuropa ziemlich genau mit den Höhenzügen der entsprechenden Länder decken: zum Beispiel den Pyrenäen, den Karpaten, den Abruzzen und den Alpen.

Verstrahlt, doch ungestört

Manchmal sorgt der Mensch auch selbst dafür, dass er ein Gebiet verlassen muss. Ein extremes Beispiel dafür ist die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Als 1986 der Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks explodierte, wurde soviel radioaktive Strahlung freigesetzt, dass weite Gebiete im Umkreis unbewohnbar wurden. Insgesamt sind rund 350 000 Menschen aus einem 3500 Quadratkilometer großen Gebiet in der heutigen Ukraine und Weißrussland evakuiert worden.

Auch für Tiere und Pflanzen war die extreme Strahlung im direkten Umfeld des Reaktors schädlich. Im weiten Umkreis starben alle Kiefern ab, in den ersten Wochen nach dem Unfall starben auch viele Tiere oder wurden unfruchtbar. Im Laufe der Zeit jedoch schienen die Vorteile eines ungestörten Lebensraums die Gefahr der hohen Strahlenbelastung zu überwiegen: Wissenschaftler, die das Gebiet in den vergangenen Jahren genauer untersuchten, fanden eine erstaunlich artenreiche Großfauna. Unter anderem leben dort bereits seit den 1990er-Jahren wieder Rehe, Rothirsche, Elche, Wildschweine, Füchse und Wölfe. Hinzu kommen Wisente und Przewalski-Pferde, die in dem Gebiet ausgewildert wurden. Insgesamt ist die Populationsdichte in der Sperrzone bei vielen Arten höher als außerhalb, bei Wölfen sogar bis zu siebenmal so hoch. Das bedeutet nicht, dass die Strahlung für die Tiere nicht schädlich wäre. Aber die großflächige Abwesenheit des Menschen gleicht diesen Nachteil offenbar wieder aus.

Noch immer ist das Gebiet rund um Tschernobyl für Menschen unbewohnbar. Die Tiere aber kamen schnell wieder zurück.

Ein alter Panzer erzählt von ungemütlichen Zeiten auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Schwarzenborn in Hessen. Doch die Natur profitiert bis heute von der militärischen Nutzung der Fläche.

Abraum in einem Braunkohle-Tagebau in der Lausitz. Noch ist hier Betrieb, Tiere und Menschen leben hier nicht mehr.

Aber nach dem Ende des Kohleabbaus darf sich die Natur das Land zurückholen. Die Bergbaufolgelandschaft Grünhaus liegt in der Niederlausitz, die Fläche zwischen den Wäldern ist Naturschutzgebiet.

Solche großen Gebiete, die Menschen nicht betreten können, gibt es auch im dichtbesiedelten Deutschland. Meist nimmt man sie nicht wahr, nur manchmal stößt man beim Spazierengehen an Zäune. Dahinter: ehemalige Truppenübungsplätze, auf denen die Munitionsbelastung des Bodens so hoch ist, dass Unbefugten das Betreten verboten ist – zu gefährlich, vor allem versicherungstechnisch. Allein auf einem vier Kilometer langen Teilstück in der Döberitzer Heide, das in den 1990er-Jahren für einen Wanderweg beräumt wurde, fanden sich 83 Granaten, 21 Minen sowie 36 kleinere scharfe Raketen. Die Räumung dieser Kampfmittel ist sehr aufwendig, praktisch passiert es aber sehr selten, dass tatsächlich etwas in die Luft fliegt. Für Rotwild oder Wisente sind (verlassene) Militärgebiete daher ein perfekter Rückzugsraum.

Artenvielfalt im Tagebau

Und dann gibt es die riesigen Braunkohle-Gebiete: Im Lausitzer, Mitteldeutschen und Rheinischen Revier werden jedes Jahr noch immer mehr als 150 Millionen Tonnen Kohle gefördert. Allein im Lausitzer Revier nehmen ehemalige Tagebauflächen knapp 940 Quadratkilometer Fläche in Anspruch. Weil es nach Ende der Förderung zum Teil viele Jahrzehnte dauert, bis die Flächen wieder genutzt werden können, entstehen dort große Freiräume für die Natur. „In der DDR konnten die Tagebaue nicht so schnell rekultiviert werden, wie neue entstanden. Auf mehreren 10 000 Hektar konnte sich die Natur deshalb zum Teil bis zu 40 Jahre lang ungestört entwickeln“, sagt Christian Hildmann. Er arbeitet am Forschungsinstitut für Bergbaufolgelandschaften in Finsterwalde und hat gemeinsam mit vielen Kollegen den Artenreichtum der ehemaligen Tagebaue erforscht. Das Untersuchungsgebiet war 1300 Quadratkilometer groß und umfasste mehrere Bergbaufolgelandschaften des Lausitzer und des Mitteldeutschen Reviers. Die Flächen, die durch einen gewaltigen Eingriff in die Natur entstanden sind, zeigen heute eine erstaunlich große Artenvielfalt: Auf einem Gebiet, das gerade mal 0,37 Prozent der Fläche Deutschlands ausmacht, wurden 31 Prozent aller in Deutschland vorkommender Gefäßpflanzen nachgewiesen (1300 Arten) – dazu zählen alle Bäume, Sträucher, Blumen und Farne – 51 von 105 Säugetierarten und fast die Hälfte (145) aller Brutvogelarten. Vor allem für Spinnen und Insekten wie Heuschrecken, Zikaden, Tagfalter und Bienen sind die Bergbaufolgelandschaften wichtige Lebensräume.

Zum einen liegt das an der besonderen Struktur dieser Gegenden: Wenn die Kohlebagger weiterziehen, bleibt eine „Mondlandschaft“ mit nackten Bodenrippen und losen Sanden zurück. Es entsteht zunächst eine offene, trockene, nährstoffarme Landschaft, teils eng verzahnt mit feuchten Bereichen und Gewässern. Ein Lebensraum für spezialisierte Arten, der von ihnen schrittweise wieder besiedelt wird und sich dabei wandelt. Hinzu kommt die Störungsarmut: „In den Tagebaugebieten gibt es keine Dörfer und nur wenige Straßen, insgesamt nur wenig Infrastruktur. Und es gibt große Bereiche, die von Menschen nicht betreten werden dürfen“, sagt Hildmann. Allein in der Lausitz sind mehr als 300 Quadratkilometer Fläche Sperrgebiet, weil der Untergrund sich noch nicht richtig gesetzt hat und die Gefahr von Erdrutschen und Verflüssigungen besteht.

Schutz für Freiräume

Die erzwungene Abwesenheit des Menschen lockt auch Arten an, die eher scheu sind und ein besonderes Raumbedürfnis haben: Die ersten Wölfe, die wieder in Deutschland heimisch geworden sind, haben sich in der Lausitz niedergelassen. Bis heute zählen Truppenübungsplätze und Bergbaufolgelandschaften zu den bevorzugten Kernrevieren der Raubtiere. Auch andere scheue Arten wie die Rohrdommel oder der Wiedehopf haben sie als Lebensraum für sich entdeckt. Kraniche nutzen die ehemaligen Tagebaue in großen Scharen als Rastplatz während des Zuges und einige brüten auch dort.

Der Wiedehopf ist eine der Vogelarten, die häufig auf Truppenübungsplätzen und in alten Bergbaugebieten Zuflucht finden.

In den kommenden Jahrzehnten werden sich durch Menschenhand entstandenen Naturparadiese wie Tschernobyl und Bergbaufolgelandschaften mit Sicherheit verändern. Es bleiben Landschaften im Wandel, in denen offenen Flächen teilweise wieder mit Wald zuwachsen und auch die Gefahren für den Menschen schwinden werden. Die Ungestörtheit der Natur wird aber trotzdem erhalten bleiben, denn inzwischen ist man sich ihres Werts bewusst. In Deutschland ist zumindest ein Teil der eher zufällig entstandenen Freiräume auch rechtlich abgesichert, mehrere 1000 Hektar Bergbaufolgelandschaft stehen mittlerweile unter Naturschutz. Bei Grünhaus in Brandenburg zum Beispiel ist die Nabu-Stiftung „Nationales Naturerbe“ Eigentümerin von knapp 2000 Hektar Bergbaufolgelandschaft, die weitgehend sich selbst überlassen werden. Ein kleiner Teil wird von Schafen beweidet, um die Fläche für Bodenbrüter attraktiv zu halten. Auch der Bund für Umwelt und Naturschutz (die rund 1000 Hektar große Goitzsche-Wildnis bei Bitterfeld) und die Heinz Sielmann Stiftung (die rund 3000 Hektar große Naturlandschaft Waninchen) haben Bergbaufolgelandschaften für die Natur gesichert. Und in Weißrussland wurde das radioaktiv verseuchte Gebiet rund um Tschernobyl ebenfalls unter Schutz gestellt: Das Polessische Staatliche Radioökologische Schutzgebiet ist mit einer Fläche von rund 2160 Quadratkilometern beinahe so groß wie das Saarland.

„Ich bin ein sehr guter Überlebenskünstler“

Interview: Rike Uhlenkamp

Robert Swan ist der erste Mensch, der zu Fuß zum Nord- und Südpol gelaufen ist. Seither engagiert er sich für den Schutz der Antarktis. Ein Gespräch über eisige Expeditionen, den Klimawandel und die Kraft von Lebensträumen

natur: Als Kind war Ihr größter Wunsch, zum Nord-und Südpol zu laufen. Gab es kein „gewöhnlicheres“ Lebensziel?

Swan: Nicht wirklich. Als ich elf Jahre alt war, sah ich einen Film über das Rennen zum Südpol zwischen dem Norweger Roald Amundsen und dem Engländer Robert F. Scott. Ich war fasziniert von diesen Entdeckern, ihren Abenteuern und besonders von Antarktika. Ein Kontinent, den niemand besitzt und auf dem es nichts gibt.

Auf dem langen Weg zum Nordpol. 1989 kämpfte sich Robert Swan mit einem Team auf Skiern durch das Eis der Arktis.

natur: Aus Wunsch wurde Realität: Am 11. Januar 1986 erreichten Sie mit 29 Jahren den Südpol. Drei Jahre später, im Mai 1989, den Nordpol. Was Sie gesehen haben, hat Ihr Leben verändert …

Swan: Als wir zum Südpol liefen, klaffte über uns das Ozonloch. Die ultravioletten Strahlen, die es durchließ, verbrannten mir meine Haut und die Augen. Die haben seither eine andere Farbe, früher waren sie dunkelblau, heute sind sie sehr hellblau.

natur: Und in der Arktis?

Swan: Dort schmolz direkt unter unseren Füßen das Eis. Viel zu früh im Jahr. Ich hatte Angst, dass wir sterben. Heute, nur 30 Jahre später, ist es unmöglich, unseren Weg zur selben Jahreszeit zu laufen. Jeder, der nicht an den Klimawandel glaubt, soll es einmal versuchen. Er wird schwimmen müssen.

natur: Wie ging es Ihnen nach den beiden harten Expeditionen? Sie hatten sich ja Ihren Traum erfüllt!

Swan: Ich wurde depressiv.

natur: Warum?

Swan: Die Eindrücke an den Polen schockierten mich. Gleichzeitig hatte ich mein Leben so lang auf dieses Ziel ausgerichtet und es plötzlich erreicht. Da fiel ich in ein Loch. Später gründete ich die Stiftung „2041“.

natur: Das ist das Jahr, in dem der internationale Antarktisvertrag ausläuft. Er untersagt den Abbau von Rohstoffen, jegliche militärische Aktivitäten und das Erheben von Gebietsansprüchen einzelner Länder.

Swan: Richtig! Mit der Stiftung möchte ich die Antarktis auch danach vor Ausbeutung schützen. Sie soll ein Ort für Wissenschaft und Frieden bleiben. Damit die Menschen einmal sagen können: „Wow, die Idioten haben zumindest diesen Teil der Erde in Ruhe gelassen!“

natur: Mit ihrem Sohn Barney sind Sie 2017, 30 Jahre nach Ihrer ersten Expedition, erneut zu Fuß zum Südpol aufgebrochen. Warum?

Swan: Wir wollten nur mithilfe von erneuerbaren Energien zum Südpol gelangen, um für diese nachhaltigeren Lösungen zu werben. Wir haben zum Beispiel Solarenergie genutzt, um aus Eis heißes Wasser zu machen. Es war wichtig, dass wir das gemeinsam gemacht haben. Beim Kampf für den Planeten müssen die Generationen zusammenarbeiten. Barney hat es zum Südpol geschafft, ich musste nach 300 Meilen abbrechen. Meine linke Hüfte war verletzt. Dass ich ihn zurücklassen musste, konnte ich nur schwer ertragen. Doch es war auch der Moment, wo der alte Krieger seinen jungen Sohn ziehen lässt, um die Mission zu beenden.

natur: Im vergangenen Dezember sind Sie dann aber doch wieder losgelaufen. Sie starteten an dem Punkt, wo Sie 2017 Ihre Tour abbrechen mussten, um die letzten 300 Meilen zum Pol zu laufen. Mit 63 Jahren und einer künstlichen Hüfte. Warum quälen Sie sich so?

Swan: Es ist ein weiterer Polarforscher, der Brite Ernest Henry Shackleton, der mich anspornt. Er wollte den antarktischen Kontinent von Küste zu Küste durchqueren und scheiterte. Ich möchte schaffen, was er nicht geschafft hatte. Bei meiner ersten Expedition in den Achtzigern lief ich von der südlichen Kante des Eises zum Pol, 2017 näherten Barney und ich uns dem Südpol aus dem Nordwesten der Antarktis. Die letzten 300 Meilen sollten nun meine Lücke zum Pol und zur Durchquerung des Kontinents schließen.

natur: Leider haben Sie es nicht geschafft …

Swan: Ja, ich stürzte und mein Hüftgelenk sprang raus. Nach einem Monat auf Skiern war die Expedition für mich wieder vorbei.

natur: Geben Sie nun auf?

Swan: Nein! Ich muss zurückkehren, es noch einmal versuchen und mein Ziel erreichen. Mit noch mehr Training bin ich mir sicher, dass ich es hinbekomme.

natur: Wenn Sie auf Ihr Leben blicken, wie würden Sie sich selbst beschreiben?

Swan: Ich bin ein sehr guter Überlebenskünstler. Und die letzte große Erkundung auf der Erde wird sein, herauszufinden, wie man auf ihr überleben kann.

Robert und Barney Swan

Robert Swan, geboren 1956 im englischen Durham, arbeitete nach seinem Studium für das Polarforschungsprogramm Großbritanniens. Mittlerweile lebt er in den USA. Mit seiner Stiftung „2041“ und in Zusammenarbeit mit seinem Sohn Barney Swan, der sich ebenfalls für den Umweltschutz einsetzt, unternimmt er Schiffsexpeditionen in der Antarktis. Auf die Reisen nehmen sie junge Menschen aus aller Welt mit. Swan möchte sie zu Botschaftern für die Region zu machen, da sie es sind, die 2041 Entscheidungen treffen. Die in Firmen auf wichtigen Posten sitzen oder die Politik prägen. Die Emissionen, die bei den Reisen anfallen, werden über Aufforstungsprojekte ausgeglichen. Infos unter: www.explorerspassage.com/robert-swan-antarctica-expedition/.

Apnoetaucher nutzen keine Sauerstofffl aschen, sondern die Luft eines einzigen Atemzugs. Der Rekordhalter überwand so eine Strecke von 300 Metern unter Wasser.

Grenzerfahrungen

Marieluise Denecke

Der moderne Mensch in hiesigen Breiten kämpft nur noch selten ums Überleben. Und wenn doch, so ist die Konfrontation mit der Gefahr oft selbst gewählt: Viele suchen Extremerfahrungen, bringen ihren Körper an seine Grenzen. Und sind oft überrascht, was der Körper alles aushält – und was nicht.

Auf den ersten Blick scheint es nicht viele Lebensbedingungen zu geben, vor denen Menschen zurückschrecken. Der Homo sapiens kann sich an extreme Umstände anpassen – wenn er die Ausrüstung und die Zeit dazu hat. Menschen schützen sich mit Häusern, Zelten und Kleidung vor Hitze und Kälte, nutzen Tiere für Transport und Nahrung, betreiben Ackerbau, um karges Land fruchtbar zu machen, oder leben als Nomaden, wo dies nicht möglich ist. So haben die Inuit schon vor rund 4000 Jahren die Arktis besiedelt, Völker wie die Tuareg leben bis heute in unwirtlich scheinenden Regionen wie der Sahara.

Immer wieder setzen sich Menschen auch freiwillig extremen Bedingungen aus. Der Mount Everest zum Beispiel wurde seit seiner Erstbesteigung im Jahr 1953 schon rund 10 000-mal bestiegen. Apnoetaucher wie der Neuseeländer William Trubridge können ihre Luft viereinhalb Minuten lang anhalten und tauchen über 100 Meter tief. Und über 500 Personen waren bislang im Weltall.

Doch wie extrem ist zu viel? Eines der bekanntesten Beispiele unserer Zeit dafür, was der Mensch körperlich und psychisch ertragen kann, ist der US-amerikanische Bergsteiger Aron Ralston. Im Jahr 2003 erlitt der damals 27-jährige Ingenieur beim Bergsteigen in Utah einen Unfall. Sein rechtes Handgelenk wurde dabei von einem 360 Kilogramm schweren Steinbrocken in einer Felsspalte eingeklemmt. Er konnte sich nicht befreien. Den Fels mit seinem Taschenmesser zu zertrümmern, dauerte zu lang, einen Seilzug zu bauen, funktionierte nicht. Er hatte nur wenig Nahrung und 350 Milliliter Wasser bei sich, nachts sanken die Temperaturen bis auf null Grad.

Nach fünf Tagen griff er zu einer drastischen Maßnahme: Er amputierte seinen eingeklemmten Arm. Dazu musste er sich selbst Elle und Speiche brechen und Haut, Muskeln und Blutgefäße mit einem stumpfen Allzweck-Taschenmesser durchtrennen. Nachdem er sich auf diese Art befreien konnte, musste Ralston sich noch aus der Schlucht abseilen und über zehn Kilometer weit wandern, bevor er entdeckt wurde. In den fünf Tagen verlor Ralston knapp 20 Kilogramm an Körpergewicht und rund ein Viertel seines Blutes. Der heute 44-Jährige geht noch immer bergsteigen.

Dem Tod ein Schnippchen geschlagen: Aron Ralston wurde bekannt, weil er sich nach einem Unfall in den Bergen den eigenen Arm amputierte.

Vom Überlebenswillen des Körpers

Die Geschichte Ralstons ist ohne Frage extrem. Doch sie zeigt, wie viel ein Mensch physisch und psychisch überstehen kann – wenn es darauf ankommt. Das gilt für schwere Verletzungen ebenso wie für Zeiten ohne Wasser und Nahrung. Aber sind die biologischen Grenzen einmal überschritten, sieht es ganz schnell düster aus. Etwa beim Beispiel Blutverlust: Im menschlichen Körper zirkulieren im Normalfall vier bis sechs Liter Blut. Bis zu 30 Prozent Verlust dieses Volumens kann der menschliche Organismus noch kompensieren. Verliert er mehr, kommt es zur Unterversorgung der lebenswichtigen Organe, zum Kreislaufversagen – und zum Tod.

Zu wenig Nahrung ist für eine begrenzte Zeit kein Problem für einen wohlgenährten, gesunden Menschen. Er kann wochenlang auskommen, ohne zu essen. Denn für Kalorien legen Menschen Speicher in Form von Fett an. Hungert der Körper, greift er erst einmal Kohlenhydrat-Reserven und dann die Fettdepots an. Ein Kilogramm Fett enthält etwa 9000 Kilokalorien. Im Durchschnitt benötigt ein Erwachsener etwa 2000 Kilokalorien pro Tag. Sind diese Fettreserven aufgebraucht, beginnt der Körper, Muskelgewerbe aufzuzehren. Dies gefährdet die Gesundheit nicht, wenn es sich um Muskelmasse von Ober- und Unterschenkel, Gesäß oder Rücken handelt. Kritisch wird es, wenn zum Beispiel Nieren, Lungen oder Herz angegriffen werden. Was der Körper niemals aufzehren würde, ist das Gehirn. Der Grund dafür liegt nahe: Nach der Hungerphase muss der Mensch weiterhin leistungsfähig sein, muss weiterleben und sich vermehren können. Im Umkehrschluss heißt das: Wer verhungert, tut dies bei Bewusstsein.

Diese Faustregel beschreibt, was den menschlichen Körper an seine Grenzen bringt.

Ohne Wasser hingegen kann der Mensch nur wenige Tage auskommen. Das hängt davon ab, wie hoch Temperatur und Luftfeuchtigkeit der Umgebung sind, wie gesund der Mensch ist und ob er sich körperlich anstrengen muss. Auch wenn der Körper keine Flüssigkeit durch Urin ausscheidet, verliert er täglich Flüssigkeit durch die Haut oder durch den Atem. Trinkt der Mensch nicht – führt also keine Flüssigkeit von außen zu –, wird das Blut immer zähflüssiger. Der Blutdruck sinkt, die Muskeln können nicht mehr arbeiten, der Mensch wird lethargisch. Die Nieren arbeiten weniger, bevor sie irgendwann ihre Arbeit ganz einstellen – der menschliche Kreislauf bricht zusammen.

Als Faustregel kann man sich die sogenannte Dreier-Regel merken: Der Mensch kommt etwa drei Minuten lang ohne Sauerstoff aus, drei Tage ohne Wasser und drei Wochen ohne Nahrung.

Ganz genau untersucht das Hanns-Christian Gunga. Er forscht und lehrt zu Weltraummedizin und Extreme Umwelten an der Berliner Charité und ist Leiter des Zentrums für Weltraummedizin Berlin (ZWMB). Forschungsschwerpunkte des ZWMB sind unter anderem die menschliche Biologie in großer Kälte, unter Wasser oder in der Höhe.

Ohne Frage eine Extremsituation – und damit höchst interessant für das ZWMB-Team – ist eine Expedition in die Antarktis. Im Zentrum des Interesses steht die Forschungsstation Neumayer III. Sie liegt gut 2000 Kilometer entfernt vom Südpol im Weddell-Meer. Bis zu 14 Monate am Stück verbringen Wissenschaftler auf der rund 5000 Quadratmeter großen Station, in den Wintermonaten besteht die Besatzung aus gerade einmal neun Personen. Draußen herrschen Temperaturen von bis zu minus 50 Grad, etwa 60 Tage im Jahr kommt die Sonne nicht über den Horizont.

„Tagtäglich wird dir da klargemacht: Du bist hier isoliert, vor allem bei extremem Wetter wie einem Schneesturm“, sagt Gunga. Er selber habe Neumayer III einmal besucht, in den Sommermonaten. Schon da habe sich das Gefühl eingestellt: „Hier hilft dir keiner, hier bist du allein.“

Isolation verändert das Gehirn

Was machen solche Bedingungen mit den Menschen? Zunächst einmal verändern sie den Alltag, erklärt Gunga. Das Schlafverhalten ändert sich, da in der Antarktis die UV-Strahlung und damit das Licht anders ausfällt als in gemäßigten Zonen. Das bringt den sogenannten circadianen Rhythmus des Menschen durcheinander. Unserem Gehirn hingegen setzen vor allem Monotonie und soziale Isolation zu. Herausgefunden hat das Hirnforscher Alexander Stahn vom ZWMB. Er untersuchte Wissenschaftler, die monatelang auf der Neumayer III stationiert waren. Vor und nach ihrem Aufenthalt in der Antarktis hielt er den Zustand ihrer Gehirne durch Magnetresonanztomographen fest. Außerdem absolvierten die Wissenschaftler kognitive Tests, und ihr Blut wurde untersucht.

Das Ergebnis: Unter anderem schrumpfte ihr Hippocampus um 4 bis 11 Prozent. Der Hippocampus ist im Gehirn dafür zuständig, dass wir neue Erinnerungen anfertigen können. Ebenso beeinflusst er als zentrale Schaltstelle das limbische System, das unsere Triebe regelt, wie Appetit oder Schlafverhalten. Er reguliert damit auch unsere Emotionen oder unseren Orientierungssinn. Schon nach wenigen Monaten auf der Station ließen bei den Forschern bestimmte kognitive Leistungen wie Aufmerksamkeit oder räumliches Gedächtnis nach. Und auch über einen Monat nach ihrer Rückkehr von der Expedition war die ursprüngliche Größe des Hippocampus nicht wiederhergestellt. Heißt: Isolation und Monotonie beeinflussen unsere Leistungsfähigkeit.

Die Forschungsstation Neumayer III in der Antarktis. Wer hier im Winter arbeitet, muss Außentemperaturen von minus 50 Grad, tagelange Dunkelheit, Monotonie und Enge ertragen.

Und auch die psychische Gesundheit. „Wenn ich jemanden isoliere, verändere ich seine Bewegungsfreiheit“, sagt Gunga. Der Mensch wird körperlich wie geistig eingeengt, weil er zum Beispiel sozial schwierigen Situationen nicht mehr aus dem Weg gehen kann. Forschungen des ZWMB haben ergeben, dass Frauen in solch beengten Situationen häufiger von Depression betroffen sind, schlechter schlafen und mehr Gewicht zunehmen als Männer. Weitere Expeditionen hätten gezeigt, dass technisches Personal eher anfällig für depressive Verstimmungen war als wissenschaftliche Mitarbeiter. Der Grund: Die Techniker erledigen viele Routine-Aufträge und zu wenig neue Aufgaben, erklärt Gunga. Die fehlenden neuen Reize erhöhen das Krankheitsrisiko.

Gungas Team beschäftigt sich nicht nur mit Wissenschaftlern in extremen Situationen, sondern auch mit Menschen, die extremen Hobbys nachgehen. Beispielsweise überwachen Forscher Schlafrhythmus und Energieumsatz von Teilnehmern des „Yukon Arctic Ultra“. Dabei handelt es sich um einen der härtesten Ultramarathons der Welt. Er führt seine Teilnehmer jedes Jahr im Februar durch den bitterkalten Nordwesten Kanadas. Doch soweit muss man gar nicht blicken. „Warum kommt jemand zum Beispiel auf die Idee, sich am Bungee-Seil eine Brücke hinunterzustürzen?“, fragt Gunga.

Kein Sprung ins kalte Wasser

Eine Antwort darauf weiß Marcus Reineke. Der 50-Jährige aus Niedersachsen ist professioneller Schwimmer und Leiter einer Schwimmschule. Er war über 50-mal niedersächsischer Landesmeister und 10-mal norddeutscher Meister. Aber ab einem bestimmten Punkt habe er das Gefühl gehabt, „alles erreicht zu haben“, erzählt Reineke.

Also zog es ihn in die Natur. Schwimmen im Freiwasser – in einem See oder in einem Fluss – habe ihn schon immer fasziniert, besonders in der Kälte. „Das sah immer toll aus“, beschreibt Reineke seine Faszination. Die Königsdisziplin ist laut Reineke die sogenannte Eismeile: Das Schwimmen in unter fünf Grad kaltem Wasser über 1600 Meter. Sein erster Sprung ins Wasser dauerte nur Sekunden, die fünf-Grad-Grenze erreichte Reineke nach drei Monaten Training. Seit seiner Teilnahme an den ersten „Ice Swimming German Open“ 2015 nimmt Reineke regelmäßig in ganz Europa an den Wettkämpfen teil.

Wichtig ist laut Reineke vor allem eines: Zeit. Dass man seinem Körper Zeit gibt, sich an die Kälte zu gewöhnen. Und dass man selber genug Zeit bekommt, um den eigenen Körper kennenzulernen. Was Eisschwimmen gefährlich mache, seien die körpereigenen Reflexe. Taucht der Körper plötzlich in eiskaltes Wasser, beginnt er, heftig und unkontrolliert zu atmen, und zwar über mehrere Minuten lang. Für Herz und Kreislauf ist das eine extreme Belastung. Durch die Kälte verengen sich außerdem die Blutgefäße. Der Kreislauf kann deshalb kollabieren. Im sehr kalten Wasser kann man außerdem kaum die Luft anhalten – die Gefahr, zu ertrinken, ist hoch. Dafür reichen schon ein Viertelliter Wasser in der Lunge.

Der Yukon Arctic Ultra ist einer der härtesten Marathons der Welt und führt die Teilnehmer durch die winterlichen Wälder Nordkanadas.

Marcus Reineke im Winter in der Ostsee: Wenn die Wassertemperatur unter fünf Grad fällt, wird es für den Eisschwimmer erst interessant.

„Man muss diese Reflexe kennenlernen und mit ihnen umgehen lernen“, sagt Reineke. Deshalb müssen Eisschwimmer möglichst oft trainieren, am besten täglich. Sie folgen außerdem strengen Regeln: Niemals ins Wasser springen, sondern langsam hineingehen. Niemals allein schwimmen. Immer sollte jemand am Ufer auf einen aufpassen.

Eine kritische Phase gibt es auch nach dem Schwimmen, erklärt er weiter. Denn während des Schwimmens speichert der Körper die Wärme in seiner Mitte, um die lebenswichtigen Organe zu schützen. Steigt man aus dem Wasser, zirkuliert das erkaltete Blut wieder im Körper – ein Schock für den Organismus. „Ich habe schon einige gesehen, die ohnmächtig geworden sind.“ Deshalb müsse man sich sofort abtrocknen und in trockene Kleidung steigen. Der Körper brauche Zeit, um sich wieder aufzuwärmen. Nach einer besonders kalten Schwimm-Tour – die kälteste war in Estland bei etwa einem Grad Wassertemperatur – sei das „Warmzittern“ des Körpers besonders lang und anstrengend. „Man muss schon ein bisschen verrückt sein“, lacht er.

Auch jetzt noch hat Reineke Respekt vor jedem Gang ins kalte Wasser: „Es ist jedes Mal eine komplett neue Erfahrung, du hast jedes Mal Angst.“ Doch das Eisschwimmen entwickelt auch ein Suchtpotenzial. Hinterher stelle sich immer ein Glücksgefühl ein: „Du hast es wieder geschafft.“ Die Eiseskälte schärfe außerdem die Konzentration, so der 50-Jährige. „Beim Eisschwimmen ist man nur bei sich.“

Selbstfindung in Extremen

Hanns-Christian Gunga von der Berliner Charité kann das nachvollziehen: „Jeder sehnt sich heutzutage nach einer eigenen Identität.“ Wenn man an seine eigenen Grenzen gehe, habe das etwas von Aufopferung, wenn man sein gestecktes Ziel erreiche, sei das wie eine Erlösung. Was Gunga besonders fasziniert, ist, dass Menschen Extreme suchen, obwohl ihre biologischen Grenzen eng gesteckt sind. Der Körper funktioniere zum Beispiel nur bei einer Kerntemperatur zwischen 36 und 37,5 Grad Celsius optimal. Steigt oder sinkt sie um ein bis zwei Grad, leidet schon die Leistungsfähigkeit des Gehirns.

„Im mediterranen Klima, also zwischen 23 und 25 Grad, fühlt der Mensch sich am wohlsten.“ Zumindest, wenn man angezogen sei. Doch aus diesem schmalen Fenster unserer Wohlfühltemperatur „bewegen wir uns mehr und mehr heraus.“ In einigen Jahrzehnten, so Grunga, werde der Mensch ganz unfreiwillig extremen Umwelten ausgesetzt sein. Schon jetzt seien die Temperaturen im Sommer in vielen Ländern zu hoch, der Klimawandel aber werde auf Dauer ganze Landstriche entvölkern: „Die Lebensbereiche auf der Welt werden enger werden.“ Der Mensch, er wird sich über kurz oder lang auf größere Extreme einstellen müssen.

„Nah am Tod gewesen zu sein, war ein großes Glück“

Interview: Markus Wanzeck

Reinhold Messner ist der wahrscheinlich berühmteste Bergsteiger und Überlebenskünstler unserer Zeit. Ein Gespräch über ein Leben in Extremen und warum ein echtes Abenteuer Kunst ist.

Hätte der Herrgott, nachdem Adam und Eva und das übrige Planetenpersonal wohlgeraten waren, noch einen Experten für Extreme schnitzen wollen, er würde in etwa so aussehen wie Reinhold Messner: wallendes Haar, Rauschebart. Ein von Grenzerfahrungen gezeichnetes Gesicht. Erfahrungen wie die Überschreitung des 8126 Meter hohen Nanga Parbat in Pakistan, im Juni 1970, bei der sein Bruder Günther ums Leben kam. Die Erstbesteigung ohne Sauerstoffflasche des Mount Everest, Dach der Welt, 8848 Meter über dem Meer, die ihm 1978 zusammen mit Peter Habeler gelang. Die Antarktis-Durchquerung mit Arved Fuchs 1989/90, 2800 Kilometer Fußmarsch durch eine Wüste aus Eis. Die Erfahrungen aus rund hundert größeren Expeditionen. Mit Mitte siebzig lässt Messner es ruhiger angehen – ruhiger für seine Verhältnisse. Gelegentliche Exkursionen wie ein kleiner Aufstieg zum Nanga-Parbat-Basislager sind schon noch drin.

Reinhold Messer respektiert Religionen, an einen Herrgott hoch droben glaubt er nicht.

natur: Wenn Sie also nicht als Überlebenskünstler geschaffen wurden: Wie sind Sie dann zu einem geworden?

Messner: Ich bin anfangs nur in die Berge gegangen, weil uns die Eltern mitgenommen haben auf eine Alm. Das war eine andere Welt als unten im Tal. Irgendwann durften wir auf die Geislerspitzen mitgehen, mein älterer Bruder Helmut und ich. Alle meine Brüder sind später geklettert. Aber nur zwei haben mit dem Extremklettern angefangen: Günther und ich.

natur: In der Familie gab es dafür nicht allzu viel Verständnis. War Ihnen der Respekt wichtig, den andere Extremkletterer Ihnen zollten?

Messner: Ja. Das war damals … keine Sekte, aber die extremen Kletterer in Europa waren so eine Art Szene. Da wusste jeder vom anderen, was der kann und was der gemacht hat. Und das wurde hoch respektiert. Die besten Leute waren in jener Zeit, in den 1960er-Jahren, hauptsächlich Engländer. Es waren ja auch die Engländer, die am Beginn des Alpinismus führend gewesen waren. Ich kannte auch die Generation der 1930er-Jahre sehr gut. Soweit sie noch lebten.

natur: Die Ungewissheit, ein Abenteuer zu überleben, hat Sie zeitlebens begleitet.

Messner: Ja, ich sage immer: Ich gehe dorthin, wo ich umkommen könnte, um nicht umzukommen. Die große Kunst beim Abenteuer ist, nicht umzukommen – aber das ist nur dann eine Kunst, wenn man umkommen könnte. Wenn alles abgesichert ist, wenn ich beispielsweise am Bungee-Seil hänge, dann ist es ein Kick. Oder es ist Sport. Aber keine Kunst. Wir Extrembergsteiger überwinden die Ängste – die auch bei uns kommen – durch den Selbsterhaltungstrieb und zwingen uns, weiterzugehen bis an den äußersten Rand des Machbaren. Jeder vernünftige Mensch würde sagen: Das ist nicht normal. Aber untereinander schätzen sich die ganz großen Bergsteiger, indem sie sagen: Der hat so viel überlebt. Diese verrückte Sache, diese, diese, diese … und er lebt noch!

Reinhold Messner 1970 auf dem Gipfel des K2 im Karakorum, dem zweithöchsten Berg der Welt. Er bestieg als Erster alle 14 Achttausender

natur: Abenteuer – was ist das für Sie?

Messner: Im Grunde ist es die Auseinandersetzung zwischen der Menschennatur und der Natur draußen. Letztere ist absichtslos. Sie ist nur da. Wir aber sind nicht absichtslos. Und deswegen passiert etwas zwischen der Bergnatur, der Wildnis, und uns. Darauf muss man sich einlassen! Also, heute gibt’s das ja kaum noch: echte Wildnis. Ich glaube, Abenteuer sind nur möglich, wenn es keine ununterbrochene Kommunikation nach Hause gibt. Aber inzwischen ist jeder Winkel mit Satelliten erreichbar, mit dem Rest der Welt verbunden.

natur: Das gilt auch für den Mount Everest, der zum Ziel vieler Bergtouristen geworden ist.

Messner: Was dort passiert, könnte man Overtourism nennen. Diese Piste am Everest, auf der die Leute zu Hunderten raufkommen, kostet Millionen. Die muss jedes Jahr neu gemacht werden. Man nimmt dem Berg damit die Größe. Man nimmt ihm die Gefahr – nicht ganz, aber fast. Und so ist er inzwischen unsäglich überlaufen. Das gilt für viele berühmte Berge. Auch für den Mont Blanc, den höchsten Berg der Alpen. Den Denali, den höchsten Berg der USA. Den Aconcagua in Argentinien, den höchsten Berg außerhalb Asiens. Wobei der Hype vor allem diese Rekordberge betrifft. Auf die allermeisten Berge steigt im ganzen Jahr niemand hinauf.

natur: Sie haben zeitlebens die Regellosigkeit, die Freiheit in der Bergwildnis betont.

Messner: Natürlich sind das auch Klischees, die mit dem Bergsteigen zusammenhängen. Freiraum. Regellosigkeit. Aber da ist etwas dran. Wir Extrembergsteiger sind in einer archaischen Landschaft nach anarchischen Mustern unterwegs. Da droben gibt es keine Regeln. Es gibt auch keinen Richter. Das heißt dann aber auch: Die ganze Verantwortung fällt auf die Akteure zurück. Solange dich jemand bei der Hand nimmt und in die Wildnis hineinführt, machst du dir keine Gedanken. Wenn du auf dich allein gestellt bist, dann sagst du dir plötzlich: Hoffentlich komm ich da wieder zurück.

Ein Basecamp am Fuß des Mount Everest in Nepal. Messner erklomm den Berg als Erster ohne Sauerstofflasche, heute ist die Besteigung eine Touristenattraktion.

natur: Gibt es unter Extrembergsteigern, die, wie Sie sagen, nicht ganz normal sind, Freundschaften?

Messner: Ja. Die muss es aber nicht geben. Es reicht, wenn eine Zweckgemeinschaft entsteht. Wenn die möglichst besten Partner zusammenkommen für einen Deal. Wie diese drei Burschen, die 2019 in Kanada abgestürzt sind: David Lama, Hansjörg Auer und Jess Roskelley. Alle drei: absolute Spitze. Alle drei: zu den zehn besten Bergsteigern der Welt zu zählen. Aber: eine reine Zweckgemeinschaft. Und sie sind nicht abgestürzt, weil sie keine Freunde waren. Sondern weil eine Lawine sie überrascht hat. Bei mir sind zum Teil aus Zweckgemeinschaften Freundschaften entstanden, die weit über das Bergsteigen hinausreichen. Zum Teil ist nur eine Erinnerung geblieben: Mit dem hab’ ich etwas Großes gemacht. Und das ist auch in Ordnung.

natur: Bedeutet ein bestandenes Abenteuer für Sie Glück?

Messner: Nein.

natur: Unglück? Weil ein Ziel erreicht, weil Lebensinhalt verlorengegangen ist?

Messner: Unglück auch nicht. Erreichte Ziele sind banal. Sie sind vorbei, gestrig. Es kommt darauf an, immer wieder neue Ideen umzusetzen. Und nicht darauf, im Alter auf ein gelungenes Leben zurückzuschauen. Es geht um das gelingende Leben im Hier und Jetzt. Was aber auch nicht heißt, dass alles gelingen muss. Wenn ich scheitere und es überlebe – ich muss es überleben! –, kann das auch eine positive Erfahrung sein. Die Nahtoderfahrung am Nanga Parbat, der Tod des Bruders, das war eine Katastrophe. Aber sie hat mir klargemacht: Ich bin ein Sterblicher. Und die Zeit ist eben begrenzt. So nah am Tod gewesen zu sein, ist ein großes Glück gewesen.

Das Messner Mountain Museum Corones ist das jüngste von sechs Bergmuseen des Abenteurers. Es liegt auf 2275 Metern Höhe und ist in den Berg Kronplatz hineingebaut.

natur: Ihr letztes großes Abenteuer, im Sinne des Ausgeliefertseins in der Wildnis, war die Durchquerung der Gobi 2004. Danach haben Sie sich den Messner Mountain Museums gewidmet. Heute machen Sie Filme.

Messner: Generell mache ich nur das, was ich selber machen kann. Bei dem ich nicht jemanden brauche, der mich sozusagen an die Hand nimmt. Als ich die Gobi durchquert habe, war ich schon sechzig. Da war mir klar: Das ist jetzt die Grenze meiner Machbarkeit. Mehr schaff’ ich nicht. Ich habe gemerkt, dass ich älter werde, mehr darunter leide … Die Geschicklichkeit nimmt schon sehr früh ab. Die Schnellkraft auch. Die Ausdauer später. Die Leidensfähigkeit ist das letzte, was abnimmt. Alles nimmt ab mit dem Alter. Und das gilt es auch zu respektieren.

Reinhold Messner wurde 1944 in Brixen, Südtirol, als eines von neun Geschwistern geboren. Der Extrembergsteiger, Abenteurer und Buchautor erkletterte als erster Mensch alle vierzehn Achttausender der Erde. 1978 bestiegen er und Peter Habeler als Erste den Mount Everest ohne Sauerstoffflaschen. Im selben Jahr gelang Messner die erste Alleinbesteigung eines Achttausenders, des Nanga Parbat. Er gründete sechs Bergmuseen in Südtirol, die „Messner Mountain Museums“ (www.messner-mountain-museum.it), die seit 2017 von seiner Tochter Magdalena geleitet werden. Nach Reinhold Messner sind ein Asteroid und eine Schmetterlingsart benannt. Aktuelle Vortragstermine finden sich auf www.reinhold-messner.de/de/aktuelles/tourneen/.