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Adam kehrte zu Yasemins Haus zurück. Sie öffnete ihm die Tür, und er setzte sich, etwas außer Atem, an den Wohnzimmertisch.

»Hast du Lust auf Lasagne?«

»Ich habe einen Mordshunger«, sagte Adam.

Bei aufgewärmter Lasagne berichtete Adam, was er im Haus entdeckt hatte. Yasemin begutachtete den Schlüssel.

»Kuckucksberg. Nie gehört«, sagte sie.

Sie holte ihren Laptop aus ihrem Zimmer, klappte ihn auf und suchte nach dem Namen auf dem Schlüsselanhänger im Internet. Eine Landkarte öffnete sich. Der Kuckucksberg war ein kleiner, bewaldeter Hügel, der sich unscheinbar zwischen die Gipfel des Alpenmassivs duckte. Yasemin zoomte mit der Maus und vergrößerte die Ansicht. Dort, unter den Bäumen, am Rande eines dünnen Bachs, der sich durch die Natur schlängelte, stand ein Gebäude, das wie eine kleine Berghütte aussah.

»Da, die Hütte scheint die einzige Behausung weit und breit zu sein«, sagte Yasemin.

»Ich bin mir sicher, dass dieser Schlüssel dort ins Schloss passt. Hast du morgen etwas vor? Ansonsten würde ich dich gern auf eine Bergtour einladen.«

Yasemin lächelte. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich mir das entgehen lasse.«

Adam blickte auf das unscheinbare Dach, das auf dem Bildschirm von Yasemins Laptop zu sehen war. Welche Geheimnisse verbargen sich dort? Was hatte sein Vater dort vor seinen Verfolgern versteckt? Er wusste, dass die Antwort sein Leben für immer verändern würde. Würde er es bereuen, in dem Wespennest, das die Vergangenheit seines Vaters war, zu stochern? Vielleicht, aber er war sich sicher: Er würde seine Eltern rächen und ihre Mörder entlarven.

Koste es, was es wolle.

Früh am nächsten Morgen machten sich Adam und Yasemin auf den Weg zum Bahnhof. Da sie damit rechneten, dass die Männer, die das Haus observiert hatten, nach ihnen Ausschau halten würden, mieden sie das Hauptgebäude und schlichen sich über eine Treppe an der hinteren Seite auf den Bahnsteig. Adam sah sich um, konnte jedoch niemanden entdecken, der sich auffällig verhielt.

»Ich glaube, die Luft ist rein«, flüsterte er Yasemin zu.

»Ich hätte zu Hause etwas zu essen einpacken sollen«, sagte sie.

»Mir knurrt auch ganz schön der Magen«, antwortete Adam.

In der Mitte der Plattform befand sich der Stand einer Bäckerei. Adam sah sich noch einmal um und ging dann zu der Vitrine hinüber, in der belegte Brötchen und Croissants auslagen.

»Zwei Butterbrezen, bitte«, sagte er zu der Verkäuferin.

Adam kehrte zu Yasemin zurück. Fünf Minuten später fuhr der Zug ein und hielt mit quietschenden Rädern. Die Türen öffneten sich, und die beiden stiegen ein.

Die Zugfahrt verstrich ohne besondere Vorkommnisse, und sie kamen zwei Stunden später in Gamsstein an. Sie stiegen an dem kleinen Bahnhof aus. Die Butterbrezen hatten den ersten Hunger gestillt, doch für den Aufstieg zum Kuckucksberg würden sie eine Menge Kraft brauchen. Sie gingen in ein kleines Café am Bahnhofsplatz und aßen, im Schatten eines Sonnenschirms, ein spätes Frühstück.

Als Adam und Yasemin satt waren, studierten sie noch einmal die Landkarte der Umgebung auf ihren Smartphones und planten die Route, die sie zur Berghütte einschlagen wollten. Sie verließen das Café und gingen eine Landstraße entlang, die aus dem Dorf führte. Hinter der Dorfgrenze stieg sie sanft nach Süden hin an. Gamsstein befand sich direkt am Fuß des Alpenmassivs, dessen Gipfel hoch über ihnen in den klaren Himmel ragten. Die Hütte stand etwa auf halber Höhe des Kuckucksbergs, der an diesem sonnigen Tag mehrere Bergsteiger angelockt hatte. Als sie der Landstraße etwa eine halbe Stunde gefolgt waren, bogen sie auf einen Kiesweg ein, der in Serpentinen den Berg hinaufführte. Der Anstieg forderte einiges an Kraft, doch sie wurden durch die fabelhafte Aussicht belohnt, die sich vor ihnen ausbreitete. Sie konnten das gesamte Voralpenland überblicken, und in der Ferne glitzerten die bayerischen Seen wie poliertes Silber.

Der Weg führte sie in einen Wald hinein. Die kühle Luft im Schatten der Bäume roch nach Harz und Tannennadeln. Sie überquerten eine Holzbrücke, die über einen Bach lief, der munter durch die Landschaft plätscherte. Dieser wurde von einem glucksenden Wasserfall gespeist, dessen Tröpfchen das Sonnenlicht einfingen und einen Regenbogen in die Luft malten. Yasemin blieb stehen.

»Es ist wirklich traumhaft schön hier«, sagte sie und atmete tief ein. Adam wollte keine Zeit damit verschwenden, die malerische Natur auf sich wirken zu lassen.

»Komm schon, ich möchte wissen, was sich in der Hütte verbirgt«, antwortete er ungeduldig. Yasemin warf einen letzten Blick ins Tal.

»Hey, siehst du die zwei Typen da unten?«, fragte sie. Adam blickte in die Richtung, in die sie mit ihrem Finger deutete.

»Ich glaube, die habe ich in Gamsstein gesehen«, sagte sie. »Meinst du, die verfolgen uns?«

»Wie sollen die uns von Wolfsbach gefolgt sein?«, fragte Adam.

»Keine Ahnung«, antwortete Yasemin.

»Ich habe eine Idee«, sagte Adam. »Komm mit!«

Er lief los, über die kleine Brücke und ein Stück weit den Weg hinauf. Dann verließ er den Weg und verschwand im Wald. Yasemin folgte ihm. Sie duckten sich hinter einen Baumstamm, der auf dem Waldboden lag.

»Leise«, sagte Adam. »Wenn die uns wirklich verfolgen, dann suchen sie sicher nach uns, wenn sie unsere Spur verlieren.«

Obwohl sie außer Hörweite des Wegs waren, hielten sie die Luft an. Sie mussten nicht lange auf die Männer warten, denn es verstrichen nur wenige Minuten, ehe sie auf dem Kiesweg auftauchten. Beide waren muskulös und trugen Wanderstiefel und sportliche Kleidung. Einer der beiden hatte einen Strohhut auf dem Kopf, der andere eine Strickmütze. Ihre Augen waren hinter Sonnenbrillen verborgen. Als sie an die Stelle kamen, an der Adam und Yasemin verschwunden waren, blieben sie stehen.

»Habe ich’s mir doch gedacht«, flüsterte Yasemin. »Die suchen nach uns.«

Der Mann mit der Strickmütze nahm seinen Rucksack von der Schulter und kramte etwas daraus hervor. Es war eine Landkarte. Er entfaltete sie und zeigte sie seinem Begleiter. Sie studierten die Karte und blickten sich um. Dann packte der Mann mit der Strickmütze die Karte wieder ein, und sie folgten dem Weg.

»Falscher Alarm«, sagte Adam erleichtert.

»Puh, ich dachte schon, der zieht eine Pistole aus seiner Tasche«, sagte Yasemin.

»Lass uns einen Moment warten«, schlug Adam vor. »Es schadet nichts, wenn wir zu den beiden Abstand halten.«

Fünf Minuten später kehrten sie zu dem steinigen Weg zurück und setzten ihren Aufstieg fort. Der Weg wurde immer wieder von dicken Wurzeln unterbrochen, die durch das Erdreich an die Oberfläche gedrungen waren und natürliche Stufen bildeten. Sie mussten aufpassen, nicht über diese Wurzelstränge zu stolpern. Als die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, kamen sie an der Hütte an. Am Morgen war es angenehm kühl gewesen, doch jetzt zur Mittagszeit war es so heiß, dass Adam und Yasemin unter ihren Wanderklamotten mächtig schwitzten. Die Hütte lag auf einer Lichtung abseits des Wanderpfads. Sie besaß zwei Stockwerke und kleine Fenster, deren Scheiben von einer Schicht aus Staub und Spinnweben bedeckt waren. An der Fassade prangte ein Hirschgeweih. Die Wände waren aus dunklem Holz gefertigt, und vor dem Haus stand eine Sitzbank.

»Mann, ich hatte keine Ahnung, dass diese Hütte überhaupt existiert«, sagte Adam. »Wir haben hier in der Nähe oft die Ferien verbracht. Ich frage mich, ob mein Vater damals heimlich hierhergekommen ist.«

»Ich muss mich erst mal hinsetzen«, sagte Yasemin. Sie ließ sich auf der Bank nieder und nahm einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche.

Adam ging zur Vordertür und steckte den Schlüssel ins Schloss. Er musste ihn ein bisschen hin und her rütteln, bis er ganz hineinglitt. Dann drehte er ihn langsam um. Das Schloss schnappte zurück. Adam drückte die Klinke herunter und zog die Tür auf.

Er betrat die Hütte.