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Adam fühlte, wie eine Welle von Hass in ihm hochstieg. Das Bild des Hotelzimmers schoss ihm wieder durch den Kopf. Seine Eltern, die in einer Blutlache auf dem Bett lagen. Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten.

»Das Bild wurde auf einem Wohltätigkeitsball in Monte Carlo aufgenommen«, sagte Yasemin. »Mal sehen, ob ich noch mehr Fotos im Internet finden kann.«

Sie öffnete die Seite einer Bilderagentur und gab den Namen des Wohltätigkeitsballs ein, auf dem das Foto aufgenommen worden war.

»Monte Carlo?«, fragte Adam. »Wann war das?«

»Letzten Samstagabend«, sagte Yasemin.

»Dann ist dieser Typ in aller Seelenruhe auf den Ball gegangen, nachdem er meine Eltern umgebracht hat«, sagte Adam. Eine neue Welle des Zorns überkam ihn.

»Hier, ich habe weitere Aufnahmen gefunden.« Yasemin blätterte durch die Ergebnisseiten, die Bilder des roten Teppichs am Veranstaltungsort zeigten. Mehr oder weniger prominente Gäste posierten für die Fotografen und stellten ihre Abendgarderobe zur Schau.

»Da ist er!«, sagte Adam und zeigte auf eines der Fotos. Yasemin klickte es an, und weitere Fotos von Rocco De Laurent erschienen.

»Der Typ mit der Glatze weicht nicht von seiner Seite. Wahrscheinlich ist er ein Bodyguard«, mutmaßte Yasemin.

»Ob mein Vater deswegen in Monte Carlo war?«, fragte Adam. »Wir wollten schließlich auch auf diesen Ball. Vielleicht wollte er diesen De Laurent beschatten.«

Auf dem letzten Bild stand De Laurent neben einer jungen Frau. Er hatte den Arm um sie gelegt. Sie trug ein teures Designerabendkleid und ein Diamantcollier.

»Wer ist das da?«, fragte Adam.

Yasemin las die Bildunterschrift. »Claire De Laurent. Das muss seine Tochter sein.«

»Sieht gar nicht so übel aus«, sagte Adam.

»Ja, wenn ihr Papa nicht deine Eltern auf dem Gewissen hätte, wäre sie perfekt«, bemerkte Yasemin.

»Ich meine ja bloß«, sagte Adam.

»Moment mal!«

Yasemin öffnete das Foto in einem Einzelfenster und vergrößerte es. Sie zoomte auf Claire De Laurents Gesicht.

»Das kann doch nicht sein. Ich kenne sie! Die geht bei mir auf die Schule!«

»Was, ins Streberinternat?«

Yasemin knuffte ihn die Schulter. »Jetzt fang du nicht auch noch an«, sagte sie. »Das ist kein Streberinternat, das ist eine Schule für besonders Begabte.«

»Sag ich doch. Streber.«

Yasemin sah Adam vorwurfsvoll an. »Wie lange kennen wir uns schon?«, fragte sie ernst. »Du weißt, wie sehr ich dieses Wort hasse. Nur weil ich mich für mehr interessiere als Klamotten, Musik und Videospiele, bin ich noch lange keine Streberin. Wegen diesem Blödsinn habe ich die Schule gewechselt.«

Adam hob beschwichtigend die Hände.

»Okay, okay, Whywhy, ich nehme es zurück.«

Yasemin schien besänftigt. Adam sammelte seine Gedanken. »Mein Vater hat also diesen De Laurent auf dem Kieker gehabt. Es hat irgendwas mit seiner Reederei zu tun. In Monte Carlo will er ihn bei dem Wohltätigkeitsball treffen, doch vorher wird er von dem Glatzkopf da …«

Er wollte es nicht aussprechen.

»Wenn wir herausfinden wollen, was dieser De Laurent vorhat, dann geht das vielleicht am besten über seine Tochter. Wenn ich mich mit ihr … anfreunde, erfahren wir sicher mehr.«

Yasemin warf Adam einen argwöhnischen Blick zu. »Anfreunden?«, fragte sie vielsagend.

»Du weißt, was ich meine«, sagte Adam.

Yasemin nickte. »Ja, ich weiß ganz genau, was du damit meinst.«

Adam ignorierte ihren spöttischen Ton. »Und du musst mir dabei helfen«, sagte er.

»Wie denn?«, fragte Yasemin.

»Ganz einfach, ich werde mich in dein Str… in dein Hochbegabteninternat als neuer Schüler einschleichen.«

»Das ist nicht so einfach«, sagte Yasemin. »Es gibt zwei Möglichkeiten, auf dem Internat Winkelried angenommen zu werden: Du bist besonders schlau oder du bist besonders reich.«

Adam nahm scherzhaft seinen Geldbeutel aus der Hosentasche und kramte die Münzen zusammen, die er besaß. »Reicht gerade für einen Lottoschein. Vielleicht haben wir ja Glück?«

Yasemin schmunzelte. »Über Nacht wirst du sicher kein Millionär, bleibt also nur, ein Mathegenie aus dir zu machen.«

»Wieso ausgerechnet Mathe?«, fragte Adam entgeistert. »Davon verstehe ich überhaupt nichts.«

»Aber ich! Und ich kann dir dabei helfen, so zu tun, als hättest du eine Ahnung von Mathematik. Wir haben jedoch ein ganz anderes Problem. Für dieses Schuljahr ist der Anmeldetermin längst verstrichen. Selbst wenn du irgendwie als hochbegabt durchgehst, wirst du erst nächstes Jahr aufgenommen werden können.«

»So viel Zeit haben wir nicht. Wir müssen sie irgendwie davon überzeugen, dass sie mich sofort nehmen.«

Yasemin stutzte. »Wie sollen wir das denn tun?«

»Ich weiß, dass tief in dir eine begabte Schauspielerin schlummert.«

Adam erklärte ihr seinen Plan. Sie war alles andere als begeistert.

Es dauerte eine Weile, bis Yasemin den Mut aufgebracht hatte, Adams Plan in die Tat umzusetzen. Sie nahm ihr Handy, stellte es auf Nummer unterdrücken und wählte die Nummer des Internats Winkelried. Einige Sekunden später nahm jemand am anderen Ende ab.

»Ich würde gern Herrn Zwingli sprechen, bitte«, sagte Yasemin mit ungeduldiger Stimme. Dabei sprach sie mit einem übertriebenen vornehmen Hochdeutsch, das so klang, als wäre sie es nicht gewohnt, zu warten. Kurz darauf war Herr Zwingli, der Schulleiter, am Apparat.

»Einen schönen guten Abend«, sagte Yasemin. »Ich wollte nachfragen, warum wir bezüglich der Bewerbung meines Sohnes noch nichts von Ihnen gehört haben. Die Kaltenbergschule in Dresslach und die École d’Estaing in Frankreich haben schon längst ihre Zusagen geschickt. Wir würden natürlich vorziehen, wenn er zu Ihnen nach Winkelried kommt, allein schon wegen der Nähe, doch wenn Ihre Schule es nicht schafft, seine Bewerbung zeitnah zu bearbeiten, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als ihn nach Kaltenberg zu schicken.«

Yasemin schaltete den Lautsprecher an, damit Adam mithören konnte.

»Ja, äh, Frau … wie war noch gleich der Name?«, antwortete Herr Zwingli mit einem höflichen Schweizer Tonfall.

»Euler«, sagte Yasemin. »Mein Sohn heißt Lorenz Euler.«

»Einen Moment, bitte.«

Zwingli schaltete den Anruf in die Warteschleife. Klassische Musik rieselte aus dem Lautsprecher.

»Wie ich den Zwingli kenne, ist es ihm furchtbar peinlich, dass er die Bewerbung nicht findet«, sagte Yasemin. »Er ist das Abbild eines akkuraten Schweizers.«

»Und diese anderen Schulen, die du genannt hast?«

»Kaltenberg kam letztes Jahr im Internatsranking knapp vor Winkelried. Das hat den Zwingli ganz schön mitgenommen. Der wird alles tun, um Kaltenberg einen Schüler abzuluchsen.«

»Du hast nicht nur für Mathe eine Begabung, Whywhy«, sagte Adam anerkennend.

Herr Zwingli nahm den Anruf wieder an. »Ähm, Frau Euler, sind Sie noch dran?«

»Ja«, antwortete Yasemin.

»Das, äh … das ist mir jetzt äußerst unangenehm«, stammelte Zwingli. »Aber wir können die Bewerbung Ihres Sohnes nicht lokalisieren.«

»Aha«, bemerkte Yasemin knapp.

»Ja, also, sehen Sie, wir könnten Folgendes tun. Wenn Sie mir die Unterlagen nochmals per E-Mail zuschicken, dann würde ich sofort … also umgehend … mit größter Eile … diese noch mal durchsehen und Ihnen dann baldmöglichst eine Antwort geben.«

»Soso. Baldmöglichst heißt wann?«

»Binnen vierundzwanzig Stunden.«

»Das ist akzeptabel.«

»Vielen lieben Dank, Frau …«

Weiter kam er nicht, denn Yasemin hatte schon aufgelegt.

»Wow, du hast echt Schauspieltalent«, sagte Adam bewundernd.

»Danke«, antwortete Yasemin und atmete erleichtert aus. »Ich war ganz schön nervös. Jetzt kommt der schwierige Teil. Wir müssen dir eine neue Identität geben.«

Den Rest des Abends verbrachten sie damit, Adam auf dem Papier in Lorenz Euler zu verwandeln. Zuerst fertigte ihm Yasemin am Computer neue Schulzeugnisse an, die ihm bescheinigten, ein Mathematikwunder zu sein. Adam verfasste ein Empfehlungsschreiben seines meistgehassten Mathelehrers, um seine fiktiven Fähigkeiten noch zu unterstreichen. Im Internet erstellte Yasemin die Webseite eines internationalen Mathewettbewerbs, bei dem Adam den zweiten Platz erreicht hatte.

»Warum nicht den Ersten?«, fragte Adam.

»Wir wollen es nicht übertreiben«, sagte Yasemin.

Zuletzt versuchte Adam, einen Bewerbungsaufsatz zu schreiben, in dem er mit blumigen Worten erklärte, wie sehr er von der Welt der Zahlen fasziniert war. Yasemin half ihm dabei.

»Ich habe keine Ahnung, was an Mathe so toll sein soll«, sagte er.

Yasemin dachte nach. »Also, für mich ist es so, als würde ich Zahlen sehen. Als echtes 3-D-Gebilde. Jede Zahl hat eine andere Farbe … oder sie fühlt sich anders an. Es ist wie eine eigene Welt, in die ich gehen kann, wenn ich die Augen schließe.«

Adam blickte sie an, als wäre bei ihr eine Sicherung durchgebrannt. »Alles okay mit dir, Whywhy?«, fragte er.

Yasemin zuckte mit den Schultern. »Ich finde Zahlen halt cool. Was soll ich sagen?«

Adam begann zu schreiben: »Die Welt der Zahlen ist für mich ein wirklich existierender Ort …«

Eine Stunde später hatten sie alle Unterlagen bereit, um sie Herrn Zwingli zu schicken. Sie kontrollierten ein letztes Mal auf Rechtschreibfehler, dann scannten sie alle ein und sendeten sie ihm per E-Mail. Kurz darauf bekamen sie eine äußerst unterwürfig klingende Antwort von Herrn Zwingli mit der Info, dass er sich bald zurückmelden würde.

»Jetzt können wir nur noch abwarten, ob er den Köder schluckt«, sagte Adam.

»Im Gegenteil«, sagte Yasemin. »Jetzt fängt die richtige Arbeit erst an.«

»Was meinst du damit?«, fragte Adam.

»Jetzt müssen wir an dir arbeiten. Du kannst da nicht als Adam Cassel aufkreuzen. Du musst Lorenz Euler werden. Ein introvertiertes Mathegenie.«

»Warum introvertiert?«, fragte Adam.

»Das macht alles einfacher. Wenn du ein wortkarger, in sich gekehrter Sonderling bist, musst du nicht so viele blöde Fragen beantworten.«

Adam blickte sie mürrisch an.

»In sich gekehrter Sonderling«, murmelte er. »Ich weiß nicht, ob mir diese Rolle liegt. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass eine wie Claire auf solche Typen steht.«

»Das kriegst du schon hin. Das muss eine oscarwürdige Darbietung werden, die du über mehrere Wochen aufrechterhältst, sonst ist der ganze Plan im Eimer«, ermahnte Yasemin.

»Na gut. Dann lass uns mal üben.«