Da Yasemins Eltern bald zurückkehren würden, beschloss Adam, sich sofort auf den Weg in die Schweiz zu machen. Schließlich bestand immer noch die Gefahr, dass die Schergen De Laurents in Wolfsbach nach ihm suchten. Yasemin begleitete ihn zur Tür.
»Danke für deine Hilfe«, sagte er zu Yasemin. »Ohne dich würde ich das alles nicht durchstehen.«
»Gern geschehen. Ich rufe den Zwingli gleich zurück und sage ihm, dass du heute Abend ankommst. Dann kann er schon mal den roten Teppich ausrollen. Wir sehen uns dann dort. Ich reise erst übermorgen an.« Yasemin trug ihr Kopftuch, um die angebrannten Stellen in ihrem Haar zu kaschieren.
»Echt ungewohnt, dich im Kopftuch zu sehen, Whywhy«, sagte Adam.
»Es gehört zu mir. Selbst wenn ich nicht superreligiös bin.«
»Wir sehen uns in der Schweiz«, sagte Adam. Yasemin ging zurück ins Haus. Adam ging zur Straße und lief über Schleichwege durch das Dorf, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Am Bahnhof kaufte er sich ein Ticket nach Sankt Stephan, dem kleinen Schweizer Dorf, das am Fuße des Kauzhorns lag. Das Internat Winkelried war in einem alten Schloss untergebracht, das auf einem Berghang über dem Dorf errichtet worden war. Ein Unternehmer hatte das Schloss Winkelried vor Jahrzehnten gekauft und zu einem Eliteinternat umfunktioniert.
Natürlich konnte Adam in seiner verbliebenen Kleidung nicht in der Schule aufkreuzen. Seine Jeans war von dem Abenteuer in der brennenden Berghütte mit Rußflecken bedeckt, und auf Höhe des Oberschenkels klaffte ein Brandloch. Das T-Shirt, das Yasemin ihm geliehen hatte, roch auch schon recht streng. Adam beschloss, in München am Hauptbahnhof haltzumachen. Er stieg aus und ging in ein Kaufhaus, das direkt gegenüber des Bahnhofsgebäudes stand. Dort kaufte er einen Satz T-Shirts, Unterhosen, zwei paar Jeans, eine dicke Daunenjacke, eine Reisetasche und einen Kulturbeutel mit den nötigsten Waschutensilien. Er erinnerte sich an die Italiener, die ihn von Mailand aus mitgenommen hatten, und ging in die Postfiliale am Bahnhofsplatz. Dort steckte er einige Euroscheine in einen Umschlag, adressierte ihn an Cesare, frankierte ihn und warf ihn in den Briefkasten. Den Rest seines Geldes gab er für Reiseproviant aus. Als er das Kaufhaus voll beladen verließ, hatte er nur noch ein paar wenige Münzen in seinem Geldbeutel.
Adam stieg in den nächsten Zug nach Sankt Stephan, suchte sich ein freies Abteil, hievte seine neue Reisetasche in die Gepäckablage und setzte sich ans Fenster. Als der Zug anfuhr, hatte er schon damit begonnen, Yasemins Mathe-Crashkurs in seinem Kopf zu wiederholen. Primzahlen, imaginäre Zahlen, die Kreiszahl Pi …
Adam schreckte hoch. Draußen huschten sattgrüne Tannen am Fenster vorbei. Vor lauter Mathebegriffen musste er eingenickt sein. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er nicht mehr allein in seinem Abteil war.
Ihm gegenüber saß ein Mann, den er schon einmal gesehen hatte. Es war der hagere Typ, der ihm in Italien mit dem Schaffner aus der Patsche geholfen hatte. Er hielt eine Tüte mit Pistazien in der Hand. Genüsslich knackte er die Schalen, warf sich die Nüsse in den Mund und kaute. Er hielt Adam die Tüte hin. »Pistazie?«, fragte er.
Adam schüttelte den Kopf.
»Wahrscheinlich besser so«, sagte er. »Traue niemandem.« Er zwinkerte Adam zu.
»Im Film sagen das immer die Typen, die die Hauptfigur später verraten«, gab Adam trocken zurück.
»Stimmt.« Der Mann musste schmunzeln.
»Was wollen Sie?«, fragte Adam.
»Dich vor dir selbst schützen.«
»Was meinen Sie damit?«
»Als die Berghütte von deinem Vater abgebrannt ist, habe ich mir schon gedacht, dass du seiner wahren Identität auf der Spur bist. Du musst dir darüber im Klaren sein, dass das gefährliche Leute sind, mit denen du dich anlegst.«
Adam stellte sich stur. »Ich weiß nichts von einer Berghütte«, sagte er. »Ich reise zum Skifahren in die Schweiz.«
Der Mann lächelte und blickte zur Gepäckablage hinauf. »Verstehe«, sagte er. »Ich bin kein Experte, aber braucht man dazu keine Skier?«
»Die leihe ich mir dort«, sagte Adam. »Ist das ein Hobby von Ihnen?«
»Was?«
»Na, kreuz und quer im Zug durch Europa zu fahren, um irgendwelche Leute anzuquatschen?«
Der Mann lachte. »Du erinnerst mich sehr an deinen Vater«, sagte er.
»Da muss es sich um eine Verwechselung handeln«, sagte Adam. »Mein Vater ist einen Meter fünfzig groß und besitzt eine Pizzeria in Frankfurt.«
Der Mann wurde plötzlich ernst. »Deine Eltern wurden in Monte Carlo ermordet, und wenn du nicht untertauchst, so wie er es dir gesagt hat, dann bist du als Nächster dran.«
Adam blickte ihn eiskalt an. »Soll das eine Drohung sein?«, fragte er.
»Nein, du Idiot, eine Warnung«, sagte der Mann ungeduldig. »Ich hoffe, du kennst den Unterschied.«
Adam fühlte, wie er zornig wurde. »Woher weiß ich, dass Sie nicht für den Tod meiner Eltern verantwortlich sind?«
Jetzt war es der Mann, der nachdenklich aus dem Fenster sah. »Ich trage sicher ein Stück weit Schuld daran. Ich hätte wissen müssen, in welche Gefahr sich Friedrich begab.«
Als Adam den Namen seines Vaters hörte, stieg die Trauer wieder in ihm hoch.
»Als … als es vorbei war, habe ich alles versucht, um wenigstens dein Leben zu schützen«, fuhr der Mann fort. »Ich habe eine weitere Leiche in das Hotelzimmer gebracht. Dann habe ich das Feuer gelegt, um deinen Tod vorzutäuschen. Wenn du jetzt nicht von der Bildfläche verschwindest und dir ein neues Leben aufbaust, war das alles umsonst.«
»Wo hatten Sie die extra Leiche her?«, fragte Adam. »So was haben Sie einfach so zur Hand?«
»In meinem Job kommt es zu Todesfällen. Manchmal muss man improvisieren.«
»Und Ihnen soll ich trauen?«
»Nein, du Dummkopf, du sollst niemandem trauen.«
Adam verschränkte die Arme. »Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind, und wenn Sie nicht sofort das Abteil verlassen, ziehe ich die Notbremse.«
Der Mann sah ihn an. »Okay. Irgendwie verstehe ich das. Aber sei dir einer Sache bewusst: Das hier ist dein letzter Ausweg. Wenn du jetzt nicht abhaust, steckst du in dieser Sache drin, ob du willst oder nicht. Und ich habe keine Zeit, deinen Babysitter zu spielen.«
Der Mann stand auf und ging zur Tür. Er zog an dem Handgriff und öffnete sie. Gerade wollte er auf den Gang hinaustreten, als er sich noch einmal umdrehte. Er wirkte, als habe er einen Entschluss gefasst. »Übrigens, ich heiße Dietrich«, sagte er. »Dietrich und Friedrich. Wir waren ein gutes Team, dein Papa und ich.«
Adam blickte ihn an. Er wollte dem Mann glauben, doch Adam traute seiner eigenen Einschätzung nicht. Es war sicherer, dem Rat seines Vaters zu folgen und niemandem zu vertrauen. Dietrich nahm eine Visitenkarte aus der Innentasche seiner Anzugjacke und gab sie Adam. Er blickte auf die Karte. In schwarzer Schrift standen darauf genau zwei Dinge: der Name Dietrich und eine Telefonnummer.
»Ruf diese Nummer an, wenn du Hilfe brauchst«, sagte er. Dann warf er ihm die Tüte mit den Pistazien zu. »Hier, Nervennahrung. Wirst du brauchen.«
Adam sah die Tüte misstrauisch an.
»Keine Angst, sind nicht vergiftet«, sagte der Mann und zwinkerte ihm zu. Er schloss die Tür hinter sich und verschwand den Gang hinunter.
Adam nahm eine der Pistazien aus der Tüte, schälte sie und warf sie sich in den Mund. Als er auf der salzigen Nuss herumkaute, fiel ihm die Notiz aus der Berghütte wieder ein:
D., diese Papiere wurden mir von Blue Fox zugespielt. Ich glaube, das ist ein Volltreffer. – F.
F. und D. Friedrich und Dietrich. Zumindest dieses Detail schien die Geschichte des Mannes zu bestätigen. Adam steckte die Karte in seinen Geldbeutel, aß Pistazien und blickte aus dem Fenster.