Sankt Stephan, Schweiz
Am Nachmittag fuhr der Zug im Bahnhof von Sankt Stephan ein. Adam schnappte sich seine neue Reisetasche aus dem Gepäckfach und stieg aus. Sankt Stephan war ein verschlafenes kleines Nest, das in einem Talkessel zwischen zwei Bergmassiven lag. Der Bahnhof bestand aus einer einzigen Plattform mit zwei Gleisen. Adam lief die Treppe hinunter und ging durch die Unterführung zum Bahnhofsvorplatz. Ein Landgasthof und eine Postfiliale bildeten das Zentrum des Dorfes. Adam ging zu einer Umgebungskarte, die in einer Vitrine ausgehängt war, und suchte das Kauzhorn. Am Fuße des Berges war das Schloss Winkelried eingezeichnet, in dem das Eliteinternat untergebracht war. Da Adam kein Geld für ein Taxi ausgeben wollte und sowieso weit und breit kein Auto zu sehen war, machte er sich zu Fuß auf den Weg. Das Dorf wirkte wie ausgestorben. Außer einer Dame, die ihren Berner Sennenhund ausführte, und einer gelangweilten Bäckereibedienung, die vor der Filiale saß und in einem Magazin blätterte, begegnete er niemandem. Er ließ das Dorf hinter sich und lief an der Straße entlang, die zum Schloss führte. Nachdem er eine Stunde bergauf marschiert war, erreichte er die Einfahrt des Internats. Sie wurde von zwei großen Adlerstatuen gesäumt, die ihre Flügel aufgespannt hatten und auf hohen Säulen links und rechts der Straße saßen. Schloss Winkelried stand auf einer bronzenen Plakette, die auf einer der Säulen angebracht war und die Form eines Wappenschilds besaß. Adam bog in die Einfahrt ein und lief die geteerte Straße zum Internat entlang.
Hinter einer Biegung erschien bald das Schloss Winkelried. Adam musste zugeben, dass er beeindruckt war. Bei dem Schloss handelte es sich um ein Kastell im italienischen Stil, dessen Steinmauern gelb gestrichen waren. Das Hauptgebäude besaß eine Fachwerkfassade, und an den kleinen Fenstern waren rote Fensterläden angebracht. Die spitzen Dächer des Schlosses waren mit roten Schindeln gedeckt. Ein hoher, rechteckiger Turm ragte in der Mitte aus dem Gebäudekomplex heraus. Vor dem Schloss waren Blumenbeete mit prächtigen Rosen angelegt, und an den Außenwänden kroch wilder Wein empor.
»Hier kann man es aushalten«, murmelte Adam, während er sich dem Schloss näherte. Durch einen großen Torbogen trat er in einen Innenhof. Hier spendeten die Schlossmauern kühlen Schatten. Eine große Treppe führte zum Haupteingang des Internats hinauf. Er stieg die Stufen hinauf und betrat das Gebäude. Neben der Eingangstür befand sich ein Fenster, hinter dem ein Sicherheitsbeamter in einer grünen Uniform saß.
»Entschuldigung, wen darf ich melden?«, fragte er in einem Tonfall, der fast nach einer Drohung klang.
Adam schlüpfte in die Rolle des Lorenz Euler. Er vermied Augenkontakt, spielte nervös mit seinen Fingern und sprach mit leiser Stimme. »Ähh … Lorenz … Lorenz Euler.«
Der Sicherheitsmann nahm den Hörer eines Telefons ab und drückte eine Taste auf dem Apparat. Er wechselte ein paar Worte und legte dann wieder auf. »Wenn Sie einen Moment hier warten möchten.«
Adam nickte. Er sah sich um. Die Eingangshalle besaß einen Marmorfußboden und große Fenster, die auf eine Wiese hinter dem Schloss blickten. Eine große Treppe führte zu einer Galerie hinauf, die rund um den ganzen Saal lief. Von dieser gingen Türen und Korridore ab, die in die oberen Stockwerke führten. An den Wänden hingen Wandteppiche, Hirschgeweihe und riesige Ölgemälde. Sogar eine Ritterrüstung stand neben einer Holztür. Durch diese Tür trat nun ein groß gewachsener Mann in einem dunkelgrauen Anzug. Er hatte grau meliertes Haar und auf seiner Nase saß eine dünne rote Brille. Als er Adam entdeckte, streckte er die Hand aus und vollführte eine Art Verbeugung. Adam zögerte, ehe er die Hand schüttelte, immer noch in die Rolle des schüchternen Genies vertieft.
»Zwingli, mein Name!«, sagte der Mann in einem Tonfall, als würde er eine Spielshow im Fernsehen moderieren. »Und Sie müssen Lorenz Euler sein.«
Adam nickte.
»Schön, dass Sie zu uns gefunden haben. Sind Sie mit dem Taxi gekommen?«
»Vom Bahnhof gelaufen«, murmelte Adam.
»Aber, Herr Euler, wir hätten Ihnen doch einen Wagen geschickt. Nächstes Mal bitte bloß kurz anrufen, und der Hausmeister, Herr Lohser, holt Sie ab.« Er wies mit der Hand auf den Mann, der hinter dem Fenster saß.
»Darf ich Ihnen das Gelände zeigen? Sie dürfen Ihr Gepäck ruhig hier abstellen.«
»Ja«, sagte Adam und setzte seine Reisetasche ab.
Herr Zwingli öffnete die Eingangstür, und die beiden schritten die Treppe zum Innenhof hinunter.
»Das ist Schloss Winkelried«, begann Herr Zwingli stolz. »Erstmals urkundlich erwähnt wurde es im dreizehnten Jahrhundert als …«
Adam hörte geduldig zu, während Zwingli die Historie des Schlosses herunterratterte. Als er im neunzehnten Jahrhundert angekommen war, fuhr ein großer schwarzer Geländewagen auf den Innenhof. Die Beifahrertür öffnete sich, ein Mann in dunklem Anzug stieg aus und öffnete die hintere Tür. Ein Junge in Adams Alter stieg aus. Er trug ein T-Shirt der Band Sunscream, eine abgewetzte Jeans, und auf seinem Kopf saß eine Baseballkappe mit dem Logo eines American-Football-Teams. Er hatte drahtlose Kopfhörer im Ohr. Adam erkannte den letzten Hit von Sunscream, den der Junge in voller Lautstärke hörte. Als er Herrn Zwingli entdeckte, nahm er einen der Kopfhörer aus seinem Ohr. Er ging auf ihn zu, legte ihm lässig den Arm um die Schultern und boxte ihn scherzhaft gegen den Arm. »Zwingli! My man!«, rief er mit einem deutlichen amerikanischen Akzent. »Alles locker bei dir? Hast ein bisschen zugenommen über die Ferien.«
Zwingli lächelte dünn. Der Junge musterte Adam von Kopf bis Fuß.
»Neu hier?«, fragte er.
Adam nickte stumm.
Der Junge streckte die Hand aus. »Maitland. Gregg Maitland. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
Adam wusste nicht warum, aber dieser Gregg war ihm sofort zutiefst unsympathisch. »Lorenz Euler«, sagte er leise.
»Lorenz! Lorenzo! Nice to meet you!« Gregg zwinkerte ihm zu, was Adams Eindruck von ihm nicht gerade verbesserte. Der Mann, der Gregg die Autotür geöffnet hatte, war zum Kofferraum gegangen und hob nun einen feuerroten Koffer heraus, der mit allerlei Aufklebern verziert war. Diesen hievte er die Treppe hinauf.
»Venturi, du weißt wo’s lang geht!«, rief Gregg dem Mann auf Englisch zu. Venturi quittierte dies mit einem »Yes, Sir.«
»Wir sehen uns später, Zwingli.« Er machte Pistolen aus seinen Fingern und feuerte imaginäre Patronen auf Adam. »Renzo!«
Damit stöpselte Gregg den zweiten Kopfhörer wieder in sein Ohr und lief die Treppe hinauf. Zwingli wandte sich an Adam.
»Schön, dass Sie einen unserer Schüler kennengelernt haben. Das war Gregory Maitland der Dritte. Sein Vater ist US-Senator.« Beim letzten Satz wippte Zwingli leicht auf den Zehenspitzen auf und ab. Adam hörte den Stolz in seiner Stimme. »Wollen wir uns weiter umsehen?«
Zum Glück hatte Zwingli durch Greggs Unterbrechung den historischen Faden verloren, was Adam zwei Jahrhunderte Geschichtsunterricht ersparte. Zwingli führte Adam um das Schloss herum zu den Sportanlagen, die sich hinter dem Komplex befanden. Die Schule hatte einen großen Fußballplatz, Tennisplätze und eine kleine Sporthalle zu bieten. Außerdem gab es einen Badesee und ein Skigebiet ganz in der Nähe. Die Wintersaison stand kurz vor der Tür, und Adam freute sich schon darauf, die örtlichen Pisten einzuweihen. Sie kehrten zum Innenhof zurück. Als sie gerade an der Treppe zum Hauptgebäude angekommen waren, fuhr ein Kleinbus durch den Torbogen der Mauer. Lohser, der Hausmeister saß am Steuer. Er stieg aus und öffnete die Fahrgasttür. Eine Schar Schüler strömte aus dem Fahrzeug und lief die Treppe hinauf. Adam sah sich jeden einzelnen Schüler an, doch die Person, nach der er suchte, war nicht unter den Neuankömmlingen.
Wo war Claire De Laurent?