18

Am Ende der Besichtigungstour führte Herr Zwingli Adam in den dritten Stock, in dem sich die Schlafzimmer der Jungen befanden. Sie gingen einen langen Korridor entlang und blieben vor einer Zimmertür stehen. Zwingli klopfte an und wartete.

»Herein«, sagte eine Stimme.

Zwingli öffnete die Tür und betrat zusammen mit Adam das Zimmer. Die Wände waren weiß gestrichen, und Fußboden und Decke bestanden aus massivem Holz. Vom Fenster aus hatte man einen Ausblick auf das Dorf Sankt Stephan, und wenn man direkt nach unten sah, den Innenhof und den Eingang des Internats. Zwei Betten standen an gegenüberliegenden Wänden. Neben jedem Bett befanden sich ein Wandschrank und ein Schreibtisch. Auf einem der Betten lag ein großer Koffer, aus dem ein Junge in Adams Alter gerade seine Kleidungstücke in seinen Schrank räumte. Er war es, der sie hereingebeten hatte. An der Wand neben seinem Bett hingen Poster, die Science-Fiction- und Fantasy-Szenen zeigten.

Adams Blick fiel auf seinen Koffer. Zwischen den Hemden und Hosen, die der Junge gerade ausräumte, lag ein Stapel Comichefte. Als der Junge sah, dass Adam die Hefte gesehen hatte, bedeckte er diese verschämt mit einem T-Shirt.

»Das ist Jonathan Berger«, sagte Zwingli. »Herr Berger, Ihr neuer Zimmergenosse, Lorenz Euler.«

Adam schüttelte Jonathan die Hand.

»Abendbrot gibt es in einer Stunde unten im Speisesaal«, sagte Zwingli. »Ich lasse Sie dann mal auspacken.«

Damit verließ er das Zimmer. Adam legte seine Reisetasche auf das freie Bett. Er setzte sich auf die Matratze und sah sich die Poster über Jonathans Bett an. Das Fantasyposter zeigte fünf verschiedene Helden, die einen riesigen Drachen bekämpften. Das Logo einer Rollenspielreihe prangte darüber.

»Spielst du Elder Swords?«, fragte Adam, um das Eis zu brechen.

»Äh … ja.« Jonathans Tonfall klang, als würde er Spott erwarten.

»Cool, das habe ich früher auch gespielt«, log Adam, der diese Rollenspiele immer für Kinderkram gehalten hatte. »Ich hatte einen Level-zehn-Ninja.«

Jonathan lächelte. »Ich spiele meistens die Magier«, sagte er. »Da hat man mehr Möglichkeiten, auf Situationen zu reagieren. Wegen der Zaubersprüche.«

Adam hatte den Eindruck, dass Jonathan ein Stein vom Herzen gefallen war, weil Adam sich nicht lustig über ihn gemacht hatte.

»Wir können ja mal eine Partie spielen, wenn du magst«, fuhr er fort. »Meine Kumpels und ich treffen uns immer freitagabends.«

»Gern«, sagte Adam. Er öffnete seine Reisetasche und begann, seine Kleidung in den Schrank zu räumen.

»Hast du auch ein Stipendium, oder …?« Jonathan ließ den Rest der Frage in der Luft hängen, doch Adam war sich ziemlich sicher, dass der Teil, den er nicht ausgesprochen hatte »… bist du reich?« lautete.

»Mathe«, antwortete Adam knapp.

Jonathan lächelte. »Ich auch!«, rief er. »Frau Glarus ist eine echt super Lehrerin. Sie hat mir sogar erlaubt, mit komplexen Zahlen anzufangen. Was ist dein Spezialgebiet?«

Das war das Letzte, was Adam gebrauchen konnte. Ein Mathegenie als Zimmergenosse! Seine neue Identität würde keine Woche lang halten. »Äh … Primzahlen«, sagte Adam, weil es das Erste war, das ihm in den Sinn kam.

»Cool«, sagte Jonathan. »Damit kannst du vielleicht einmal beim Geheimdienst arbeiten. Kryptografie und so.«

Adam nickte, antwortete jedoch nicht. Vielleicht war es besser, den introvertierten Teil seiner Persönlichkeit stärker herauszustellen, allein schon, um weitere Mathefragen zu vermeiden. Auch Jonathan verstummte. Erst als es Zeit war, zum Speisesaal zu gehen, sprachen sie wieder miteinander.

»Komm mit, ich zeig dir, wo es langgeht«, sagte Jonathan. Gemeinsam gingen sie den Korridor zum Treppenhaus entlang. Aus den Türen der Schlafzimmer strömten die anderen Schüler, die lautstark die Treppe hinunterschwärmten. Sie durchquerten die Eingangshalle und betraten den Speisesaal durch eine Doppeltür.

Adam und Jonathan stellten sich in der Schlange zur Essensausgabe an und nahmen Tabletts von einer Ablage. Als sie ihre Teller mit dampfenden Nudeln erhalten hatten, suchten sie sich einen Sitzplatz. Der Speisesaal war sehr geräumig, und an zwei Wänden gaben Fenster den Blick auf die Umgebung frei. Die Aussicht war traumhaft. Die untergehende Sonne färbte die dünnen Wolken in ein zartes Rosa. Adam setzte sich an einen der Tische am Fenster.

»Lass uns lieber woanders sitzen«, stammelte Jonathan.

»Wieso?«, fragte Adam. »Das sind doch die besten Plätze.«

»Genau deshalb«, antwortete Jonathan kryptisch.

Adam ignorierte die Warnung seines Zimmergenossen und setzte sich hin. Jonathan blickte sich nervös um und nahm dann den Platz neben ihm ein. Adam hatte wirklich Hunger. Er hatte gerade ein paar Nudeln auf seine Gabel genommen, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Adam drehte sich um.

»Renzo!« Es war Gregg, der Junge aus dem Geländewagen. Er hatte sein Outfit komplett gewechselt. Er trug jetzt eine knallrote Jeans und ein blaues Designershirt. Gregg setzte sich neben Adam, legte seinen Arm um Adams Schultern und nahm ihm die Gabel mit den Nudeln ab. Jonathan sah aus, als wolle er im Boden versinken. Gregg steckte sich die Nudeln in den Mund und sprach, während er kaute. »Listen, pal, du bist neu hier. Dafür habe ich volles Verständnis. Deshalb kennst du die Regeln noch nicht.« Er wandte sich an Jonathan. »Geeky-Jon, hast du ihm die Regeln noch nicht erklärt?«

»Äh … nein«, stammelte Jonathan.

»Also, pass auf, es ist ganz einfach, Renzo. Die Plätze hier am Fenster sind für … Leute wie mich. Und die Tische da drüben, bei der Küche, die sind für Leute wie euch.«

Adam musste sich zusammenreißen. Er hatte alle Mühe, diesem Gregg Maitland dem Dritten keinen Kinnhaken zu verpassen. Er musste um jeden Preis seine Tarnidentität schützen. »Äh … ich verstehe nicht. Leute wie wir?«

»Es ist so: Meine Freunde und ich, wir sind diejenigen, die hier alles bezahlen. Das Essen, die Tische, die Stühle, die Betten, den Sportplatz, das finanzieren alles wir. Und Typen wie ihr lebt hier gratis.«

Adam konnte sich einen Seitenhieb nicht verkneifen. »Ah, verstehe, weil wir besonders begabt sind und ihr nicht.«

Er hatte diesen Satz in einem vollkommen neutralen Tonfall gesagt, sodass Gregg nicht einschätzen konnte, ob Adam ihn absichtlich beleidigt hatte.

»Du hältst dich wohl für oberschlau. Ich will das heute mal durchgehen lassen«, sagte er gnädig. »Und jetzt mach den Tisch frei.«

Alles in Adam schrie danach, nicht aufzustehen und diesem Gregg den Teller Nudeln über das Designershirt zu kippen, doch er konnte nicht schon am ersten Abend auffliegen. Jonathan war schon aufgestanden und mit seinem Tablett zu einem der hinteren Tische gegangen. Missmutig folgte Adam ihm. Mit diesem Gregg hatte er auf jeden Fall noch eine Rechnung offen. Als Adam zu Jonathans Tisch ging, fiel ihm auf, dass keiner der Lehrer etwas gesagt hatte. Herr Zwingli saß zwei Tische weiter mit der gesamten Lehrerschaft beisammen, doch niemand hatte es gewagt, diesen Gregg zurechtzuweisen.

Er setzte sich zu seinem Zimmergenossen, und sie aßen stumm zu Abend.

Nach dem Essen zeigte Jonathan Adam den Fernsehraum. Dort wartete bereits eine Gruppe von Jonathans Freunden.

»Das sind Leon, Sandra und Xenia«, stellte Jonathan die anderen vor. Adam schüttelte ihnen reihum die Hand. Leon schaltete den Fernseher ein und startete Willow, einen Fantasyfilm, den Adam noch nicht kannte. Die vier unterhielten sich darüber, wie sehr die Handlung anderen Fantasygeschichten ähnelte. Nach etwa zwanzig Minuten flog die Tür auf, und Gregg und seine Freunde betraten den Raum. »Tut mir leid, Nerds, wir haben den Raum gebucht.«

Ohne ein Wort des Protests standen Jonathan und seine Freunde auf. Gregg beendete den Fantasyfilm und startete einen Actionfilm über illegale Straßenrennen. Adam folgte Jonathan nach draußen.

»Ihr lasst euch das einfach gefallen?«, fragte er.

»Was sollen wir machen?«, antwortete Jonathan niedergeschlagen. »Wenn wir uns beschweren, drohen die mit ihren Eltern. Und die haben bei der Schulleitung mehr zu melden als wir. Schau mal, da oben.«

Er zeigte auf eine Bronzeplakette, die über dem Eingang des Speisesaals hing.

»Maitland-Saal«, las Adam.

»Greggs Vater hat die Renovierung des Speisesaals bezahlt. Wenn Gregg davon redet, dass ihm die Fensterplätze gehören, dann hat er gar nicht so unrecht.«

Adam spürte, wie sich ein Gefühl der Wut in seinem Magen zusammenbraute.

Um neun Uhr war es Zeit, ins Bett zu gehen. Jonathan las im Licht einer Taschenlampe. Adam schloss die Augen, doch er konnte nicht einschlafen. Die Wut auf diesen arroganten Gregg ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Einige Stunden später hörte er, wie unten im Innenhof ein Auto vorfuhr. Er blickte zu Jonathan hinüber, doch dieser schlief tief und fest. Leise stellte Adam sich ans Fenster und blickte nach unten. Ein weißer Mercedes war vorgefahren. Die hintere Tür öffnete sich, und eine junge Frau stieg aus. Adam erkannte sie sofort, selbst aus der großen Entfernung. Es handelte sich um niemand anderen als Claire De Laurent. Rocco, ihr Vater, öffnete die Fahrertür. Die beiden waren gerade in einen tiefen Streit verwickelt. Sie warfen sich laut etwas auf Französisch an den Kopf. Adam beherrschte die Sprache zwar einigermaßen, aber er konnte nur ungefähr heraushören, worüber sie stritten. Das Echo des Innenhofs machte es schwierig, einzelne Wörter zu verstehen. Claire nannte ihren Vater einen Egoisten, der nur an sich selbst dachte und sie und ihre Mutter wie Angestellte behandelte. Rocco versuchte seine Tochter zu beschwichtigen, doch es gelang ihm nicht. Der Anblick Roccos ließ Adam erschaudern. Das war der Mann, der aller Wahrscheinlichkeit nach den Befehl gegeben hatte, seine Eltern zu ermorden. Adam stellte sich vor, er wäre ein Scharfschütze, der auf De Laurent anlegte. Ein einziger Schuss und seine Eltern waren gerächt. Doch er musste Geduld haben, wenn er diesen Typen zur Strecke bringen wollte.

De Laurent war zur Rückseite des Wagens gegangen und hob einen silbernen Koffer aus dem Kofferraum. Immer noch streitend liefen Vater und Tochter die Treppe empor. Adam reagierte schnell. Er wollte wissen, in welchem Zimmer Claire wohnte. Das würde sich später vielleicht als nützlich erweisen. So leise er konnte, um Jonathan nicht zu wecken, ging er zur Tür und zog sie auf. Sie knarzte leise, doch nicht genug, um seinen Zimmergenossen aus dem Schlaf zu reißen. Er prüfte, ob die Luft rein war, dann schlich er auf den Gang hinaus und die Stufen in den zweiten Stock hinunter, wo die Mädchen schliefen. Im selben Moment kamen De Laurent und seine Tochter die Treppe hinauf. Da es auf den Gängen dunkel war, hatte Claire die Taschenlampe ihres Handys aktiviert. Adam duckte sich hinter eine Ritterrüstung, die am Anfang des Korridors aufgestellt worden war. Claire und ihr Vater waren so sehr in ihren Streit vertieft, dass sie ihn nicht bemerkten. Als sie an ihm vorbeigegangen waren, verließ er sein Versteck und lugte um die Ecke des Korridors. Er beobachtete, wie Claire eine Zimmertür am hinteren Ende des Ganges öffnete. Adam wollte gerade wieder in den dritten Stock hinaufgehen, als ihm eine Idee kam. Er schlich sich in die Eingangshalle hinunter, verließ das Gebäude durch die Doppeltür und betrat den Innenhof, wo der weiße Mercedes stand. Er versteckte sich hinter einer der Säulen, die den Hof säumten. Von dort aus wollte er beobachten, wie Rocco sich verhielt, wenn er allein war. Lange musste er nicht warten. Wenige Minuten später kam Rocco aus dem Internatsgebäude. Ein grimmiger Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Er öffnete den Wagen und setzte sich ans Steuer, doch er fuhr nicht sofort los. Stattdessen zog er ein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer.

Adam wollte unbedingt hören, was Rocco zu sagen hatte. Er ging in die Hocke und kroch auf allen vieren auf die Fahrertür zu. Geduckt lauschte er dem Telefongespräch, das er durch das offene Fenster hören konnte. Eine gereizte Note lag in Roccos Stimme. Er war hörbar von dem Streit mit seiner Tochter aufgewühlt. Adam wusste nicht, mit wem Rocco sprach, doch er klang ungeduldig.

»Nein! Auf keinen Fall! Das Treffen findet statt«, sagte er auf Französisch. »Wir müssen nur den Treffpunkt ändern … Hier in der Schweiz … Dann musst du Buteo eben davon überzeugen. Es wird sich für ihn lohnen. In Monte Carlo war er doch ganz heiß auf den Deal.«

Rocco legte auf. Da Adam davon ausging, dass Rocco vorwärts aus dem Hof fuhr, kroch er hinter den Wagen, um nicht im Licht von Roccos Scheinwerfern aufzutauchen. Doch er hatte sich geirrt. Die weißen Rücklichter leuchteten auf. Rocco hatte den Rückwärtsgang eingelegt. Ein beunruhigender Gedanke schoss Adam durch den Kopf. Das Auto war sicher mit einer Rückfahrkamera ausgestattet. Wenn er recht hatte, war sein Gesicht jetzt hell ausgeleuchtet auf dem Display des Wagens zu sehen. Adam sprang hinter dem Mercedes hervor und duckte sich hinter einen Baum, der in der Nähe des Eingangs wuchs – keine Sekunde zu früh. Die Tür des Mercedes öffnete sich, und Rocco trat heraus. Er ging zur Rückseite des Wagens und suchte den Boden des Innenhofs mit seinen Augen ab. »Hallo?«, fragte er in die Dunkelheit hinein. »Jemand da?«

Keine zwei Meter trennten Rocco von Adams Versteck. Adam presste sich an den Baumstamm und versuchte, keinen Laut von sich zu geben. Rocco ließ seinen Blick ein letztes Mal über den Hof schweifen und stieg dann wieder ein. Er setzte mit dem Auto zurück und fuhr die Einfahrt hinaus.

Adam atmete auf. Er wartete ab, bis das Motorengeräusch von Roccos Wagen in der Ferne verstummt war, dann kam er aus seinem Versteck hervor und lief die Treppe zum Eingang hinauf. Auf dem Weg zurück in sein Zimmer dachte er darüber nach, was De Laurent bei dem Telefongespräch gesagt hatte. Er hatte sich mit einem gewissen Buteo in Monte Carlo getroffen, um einen Deal zu besprechen. Das musste doch mit dem Tod seiner Eltern zusammenhängen. Er ging in sein Zimmer zurück, legte sich ins Bett und schlief ein.