19

Als Adam am nächsten Morgen aufwachte, war Jonathan gerade dabei, sich anzuziehen. Anstatt seiner Straßenkleidung trug er einen perfekt sitzenden weinroten Anzug mit Einstecktuch.

»Hast du ein Vorstellungsgespräch?«, murmelte Adam, während er sich den Schlaf aus den Augen rieb.

»Nein«, sagte Jonathan. »Heute ist vor dem Frühstück die große Willkommensversammlung. Zwingli hält eine Rede und gibt einen Ausblick auf das Schuljahr.«

Adam wälzte sich aus dem Bett und warf einen Blick in seinen Kleiderschrank. Außer den Jeans und T-Shirts, die er unterwegs gekauft hatte, sah es dürftig aus. »Du hast nicht zufällig noch einen zweiten Anzug übrig?«, fragte er Jonathan.

»Doch schon, aber der ist mir zu klein. Der passt dir ganz bestimmt nicht.«

»Besser als gar nichts«, sagte Adam.

Jonathan nahm seinen Zweitanzug aus dem Schrank und händigte ihn Adam aus. Dieser hatte alle Mühe, sich in das rote Sakko und die enge Hose zu zwängen. Irgendwie gelang es ihm, seine Hose zu schließen, ohne dass der Knopf abriss. Doch als er sich im Spiegel betrachtete, musste er sich ein Lachen verkneifen. Er sah aus, als hätte er aus Versehen die Kleidung eines Kindes angezogen. Zwischen Hosensaum und Schuhen sah man eine Handbreit Haut, und die Ärmel endeten in der Mitte seines Unterarms. Einen Moment lang weinte er in Gedanken den maßgeschneiderten Designeranzügen nach, die er in seinem früheren Leben besessen hatte.

»Lass uns runtergehen«, sagte Jonathan. »Die Versammlung fängt gleich an.«

Gemeinsam mit den anderen Schülern liefen sie die Treppe zur Eingangshalle hinunter. In dem langen Saal waren Stuhlreihen und ein Rednerpult aufgestellt worden. Die Schüler setzten sich auf die Stühle und unterhielten sich lautstark, bis Herr Zwingli vorn ans Pult trat und an den Kopf des installierten Mikrofons tippte. Die Anwesenden verstummten.

»Herzlich willkommen, meine lieben Schülerinnen und Schüler. Ich hoffe, ihr habt geruhsame Ferien verbracht und seit nun gut erholt und munter, bereit für ein neues Schuljahr.«

Er fuhr fort, die Lehrpläne, Klassenaufteilungen und Freizeitaktivitäten zu besprechen. Adam schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Stattdessen sah er sich in dem Saal um und beobachtete die Schüler. Zuerst fand er Yasemin, die neben einem blonden Mädchen auf der gegenüberliegenden Seite des Saals saß. Sie entdeckte ihn, und die beiden nickten sich verstohlen zu. Dann suchte er nach Claire De Laurent. Er fand sie im hinteren Drittel des Saals. Jetzt bei Tageslicht bemerkte er erst, wie hübsch sie war. Durchdringende dunkelblaue Augen, schulterlanges hellblondes Haar, ein umwerfendes Lächeln – wenn sie nicht die Tochter seines Erzfeindes gewesen wäre, wäre sie genau sein Typ gewesen. Wahrscheinlich wusste sie gar nicht, was für ein Monster ihr Vater war. Sie unterhielt sich mit zwei anderen Mädchen, die neben ihr saßen. Eines hatte langes rotes Haar, das andere einen dunkelbraunen Bob. Irgendwie hatte Adam das Gefühl, dass die drei ihren Look genau aufeinander abgestimmt hatten. Sie wirkten auch zehn Jahre älter als die anderen Mädchen des Internats.

Ein Papierfetzen landete in Claires Haar. Sie nahm ihn heraus und entfaltete ihn. Etwas genervt las sie eine Nachricht, die daraufgeschrieben war, und drehte sich um. Gregg, der zwei Reihen hinter ihr saß, hatte sie ihr zugeworfen. Er zwinkerte ihr zu und lächelte. Claire knüllte den Zettel zusammen, sah ihn eiskalt an und drehte sich wieder um. Sie tuschelte mit ihren Sitznachbarinnen und verdrehte verärgert die Augen. Gregg stieß seinen Nachbarn mit dem Ellbogen an und krümmte sich, als würde er vor Lachen sterben.

»Eine letzte Sache haben wir noch auf der Tagesordnung«, fuhr Zwingli am Rednerpult fort. »Wir dürfen nämlich einen neuen Schüler in unseren Reihen begrüßen. Herr Lorenz Euler, wenn Sie bitte vortreten würden.«

Adam war so sehr in seine Beobachtungen vertieft, dass er Herrn Zwingli gar nicht zugehört hatte.

»Herr Euler, bitte!«

Jonathan drehte sich zu ihm. »Lorenz, der meint dich«, raunte sein Zimmergenosse ihm zu.

Adam blickte nach vorn. Herr Zwingli bat ihn mit einer Geste, vorzutreten. Adam stand auf, zupfte sich den engen Anzug zurecht und ging zum Podium. Er fühlte sich gar nicht wohl in seinem Aufzug.

»Vielleicht möchten Sie sich Ihren Schulkameraden kurz vorstellen.«

Adam stellte sich ans Rednerpult. Sein zu kurzer Anzug half ihm ein wenig dabei, wieder in die Rolle des schüchternen Schülers zu schlüpfen. »Ha… hallo. Also … mein Name ist Lorenz. Lorenz Euler und … äh … ich …«

Er übertrieb das Stammeln ein wenig, doch es zeigte Wirkung. Vom hinteren Ende des Raumes erklang plötzlich Greggs Stimme.

»Hey, das ist mein Freund Renzo!« Er stand auf und rief mit seinen Freunden Adams Spitznamen. »Renzo! Renzo! Renzo! Renzo!«

Bald stimmte der ganze Saal mit ein. Gregg blickte sich zufrieden um und dirigierte mit den Händen. Adam tat so, als würde er vor Scham am liebsten im Boden versinken. Er trat vom Pult zurück und senkte den Blick. Zwingli lachte dünn und wandte sich an die Schüler. »Vielen Dank für diesen lebhaften Winkelrieder Willkommensgruß!«, sagte er beschwingt. »Ich bin sicher, Herr Euler, dass Sie sich bei uns wie zu Hause fühlen werden.«

Adam blickte den Schulleiter fassungslos an. Er hatte nicht den geringsten Versuch unternommen, die Rufe der Schüler zu unterbinden. Ihm musste doch klar sein, dass sie versucht hatten, Adam lächerlich zu machen. Das grenzte ja an Mobbing.

»Dann wünsche ich Ihnen und uns ein erfolgreiches Schuljahr!«

Damit standen die Schüler auf und gingen in den Speisesaal. Adam gesellte sich dort zu Jonathan, der an einem der Tische in der Nähe der Küche saß. Er blickte zu Gregg und seinen Freunden an den Fensterplätzen hinüber. Jonathan versuchte ihn aufzumuntern. »Nimm’s nicht so schwer«, sagte er. »Die behandeln jeden so, der neu auf die Schule kommt. Ein paar Tage haben sie dich auf dem Kieker, bis sie ein anderes Opfer finden.«

Nach dem Frühstück bildete sich eine lange Schlange vor der Bibliothek, die in einem der Außengebäude untergebracht war. Am Ende der Willkommensversammlung hatte jeder der Schüler einen Stundenplan und eine Liste mit Büchern in die Hand gedrückt bekommen, die sie nun abholen sollten. In der Mitte des Raums waren mehrere Tische zusammengestellt worden, hinter denen die Bibliotheksleiterin stand. Sie suchte aus mehreren Kisten die Bücher der Schüler zusammen und händigte sie ihnen aus. Adam wollte diese Gelegenheit nutzen, um mit Claire De Laurent ins Gespräch zu kommen. Das war schließlich der ganze Sinn dieser Undercover-Aktion. Er mogelte sich so in die Schlange, dass er vor Claire und ihren Freundinnen stand. Als er an der Reihe war, seine Bücher abzuholen, wartete er, bis auch Claire ihren Stapel erhalten hatte. Einen Moment lang achtete sie nicht auf ihre Bücher und blickte stattdessen auf ihr Handy. Adam nutzte diesen Moment, um seinen Stapel mit dem von Claire zu tauschen. Als sie mit ihren Büchern die Bibliothek verließ, folgte er ihr. Sie überquerte gerade den Innenhof, als Adam ihr zurief: »Entschuldigung! Claire? Ist das dein Name?«

Claire drehte sich um und sah den komischen jungen Mann in dem viel zu kleinen Anzug herablassend an. »Wer will das wissen?«

Adam hielt die Bücherliste hoch, die auf dem Stapel seiner Schulbücher lag. »Ich glaube, ich habe deine Bücher.«

»Oh!« Claire blickte auf ihre Liste. »Lorenz Euler.«

»Das bin ich«, sagte Adam.

Claire hielt ihm seine Bücher hin, und er tauschte sie gegen ihren Stapel aus. Bei dem letzten Buch handelte sich um einen französischen Roman.

»Flaubert?«, fragte er und fügte in fast perfektem Französisch hinzu: »Sie sind Französin? Freut mich, Sie kennenzulernen.« Er küsste spielerisch ihre Hand und lächelte.

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, antwortete sie, ebenfalls auf Französisch. »Du bist aber kein Franzose, oder?«

»Halb. Meine Mutter ist Französin. Ich bin jedoch in Deutschland aufgewachsen.«

»Ah, cool«, sagte sie und lächelte ihr umwerfendes Lächeln. Unvermittelt landete eine Hand auf Adams Brust und schob ihn zur Seite. Diese Hand gehörte zu Gregg Maitland.

»Mach ’ne Fliege, Renzo«, sagte er barsch und wandte sich an Claire. »Hast du mich vermisst?«

»Nein. Falls du dich nicht erinnerst, wir haben vor dem Sommer Schluss gemacht.«

Gregg tat so, als würde er nachdenken. »Hm … nein, ich kann mich nicht erinnern. Wollen wir essen gehen? Freitagabend? Kerzenlicht und der ganze Schnickschnack?«

Claire sah ihn mit einem Blick an, der sich nicht zwischen Verachtung und Sympathie entscheiden konnte. »Falls ich nichts Besseres zu tun habe«, sagte sie schließlich. Damit drehte sie sich um und ging ins Internatsgebäude zurück. Weder Claire noch Gregg schenkten Adam die geringste Beachtung. Dieser stand nun allein in dem Innenhof. Dachte er jedenfalls.

»Dein Charme zieht wohl bei den Frauen nicht mehr«, sagte eine Stimme hinter ihm. Er drehte sich um. Yasemin war gerade aus der Bibliothek gekommen und hielt ihre Bücher in den Händen. Sie lächelte.

»Ich bin ein bisschen aus der Übung, seit mein Leben auf den Kopf gestellt wurde, Whywhy«, antwortete er.

»Komm, lass uns auf die Wiese gehen«, sagte Yasemin. »Ist wahrscheinlich besser, wenn keiner herauskriegt, dass wir uns kennen. Mit deiner neuen Frisur habe ich dich fast nicht erkannt.«

Adam lachte. »Ich erschrecke mich immer noch jeden Morgen selbst, wenn ich in den Spiegel schaue.«

Sie brachten ihre Bücher auf ihre Zimmer und trafen sich dann hinter dem Internatsgebäude. Adam erzählte ihr, was ihm auf seiner Reise in die Schweiz widerfahren war. Yasemin war besonders an seiner Begegnung mit dem Mann im Zug interessiert.

»Meinst du, du kannst diesem Dietrich trauen?«, fragte sie.

»Ich glaube, ich kann niemandem trauen, doch irgendwie habe ich ihm seine Geschichte geglaubt. Schließlich passt sie zu der Notiz, die wir in der Berghütte gefunden haben.«

Er nahm die Visitenkarte aus seinem Geldbeutel, die Dietrich ihm gegeben hatte. »Hier. Er hat gesagt, ich soll mich melden, wenn ich Hilfe brauche.«

Yasemin nahm ihr Handy aus ihrer Hosentasche und schoss ein Foto der Karte. »Für alle Fälle«, sagte sie. Adam steckte die Visitenkarte wieder ein.

»Hast du dich schon ein bisschen eingelebt?«, fragte Yasemin, als sie an den Blumenbeeten vorbeischlenderten, die an der Mauer entlang angelegt worden waren.

»Du hast nicht übertrieben, als du gesagt hast, man muss entweder reich oder intelligent sein, wenn man diese Schule besuchen will. Was du nicht erwähnt hast, ist, dass manche der Reichen sich wie Vollidioten verhalten.«

»Wer denn zum Beispiel?«, fragte Yasemin.

»Na, dieser Gregg. Der behandelt mich und die anderen Stipendiaten wie Menschen zweiter Klasse.«

»Ja, der ist einer der Schlimmsten«, sagte Yasemin.

Als Adam sich Greggs Verhalten ins Gedächtnis zurückrief, brodelte Wut in ihm hoch. »Ich weiß nicht, wieso, aber diesen Typen kann ich nicht ausstehen. Er ist arrogant, selbstverliebt und tut so, als gehöre ihm die Welt.«

Yasemin lachte.

»Was ist so komisch?«, fragte Adam.

»Ich weiß ganz genau, wieso du ihn nicht leiden kannst«, sagte sie.

Adam stutzte. »Und warum?«, fragte er.

»Ist doch klar. Du siehst dich selbst in ihm.«

Adam fiel die Kinnlade herunter. »Was soll das heißen?«, fragte er entrüstet.

»Du weißt, dass du mein bester Freund bist«, begann Yasemin. »Aber du hast dich gegenüber manchen Leuten in unserer Schule genauso arrogant und selbstverliebt verhalten wie dieser Gregg. Ich meine, dein ganzes Leben fand auf Instagram statt und wer für dich nicht cool genug war, der hat gar nicht existiert.«

Adam wollte protestieren. Er wollte Yasemin beweisen, dass sie unrecht hatte. Doch je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass sie ihn richtig eingeschätzt hatte. In seinem früheren Leben war er wie dieser Gregg gewesen. Ein arroganter, selbstverliebter Draufgänger. Diese Gewissheit schmerzte. Erst jetzt wurde ihm klar, wie er auf andere gewirkt hatte.

»Alles klar mit dir?«, fragte Yasemin.

»Ja, ja«, antwortete Adam.

Wortlos gingen sie ins Internatsgebäude zurück.