Am Nachmittag fand auf dem Fußballplatz hinter dem Internatsgebäude der Sportunterricht statt. Adam lief mit Jonathan über die Wiese. Dieser redete angeregt über den Lehrplan, doch Adam hörte nicht zu. Wieder und wieder ging er in Gedanken durch, was Yasemin über ihn und Gregg gesagt hatte: Du siehst dich selbst in ihm. Längst vergangene Situationen fielen ihm ein, die ihre Einschätzung nur bestätigten. Wie oft hatte er sich auf Kosten anderer Schüler einen Scherz erlaubt, um cooler zu wirken? Er erinnerte sich an eine Deutschstunde, in der die Lehrerin ein schüchternes Mädchen gebeten hatte, einen Absatz vorzulesen. Sie war rot angelaufen und hatte stotternd angefangen zu lesen. Adam hatte begonnen, sie anzufeuern, und seine Freunde hatten mit eingestimmt. Dadurch hatte sich das Mädchen nur noch mehr geschämt. Warum hatte er das getan? Es war keine Bosheit gewesen, er hatte dem Mädchen nichts antun wollen. Er hatte es getan, um im Mittelpunkt zu stehen. Er wollte auffallen, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Gefühle des Mädchens waren ihm dabei völlig gleichgültig gewesen.
Sie erreichten den Fußballplatz, wo Herr Wandschneider, der Sportlehrer, sie in Teams einteilte. Jonathan und Adam landeten in derselben Mannschaft, während Gregg und seine Freunde in das Team der Gegner eingeteilt wurden. Das war Adam nur recht. Sein Hass auf Gregg war durch Yasemins Bemerkung nur noch gewachsen. Jetzt sah er in Gregg seine eigenen miesesten Eigenschaften, ein dunkles Ebenbild seiner selbst. Herr Wandschneider hatte auf eine ausgeglichene Stärke der beiden Teams nicht viel Wert gelegt, denn kurz nach Anpfiff war klar, dass Adams Mannschaft keine Chance hatte. Gregg war, zu Adams Verdruss, ein exzellenter Mittelstürmer. Nicht nur seine Dribbelkünste ragten heraus, sondern auch seine Ellbogen, mit denen er ein ums andere Mal die Abwehrspieler von Adams Team aus dem Weg drückte. Bei einem besonders harten Angriff stieß er Jonathan so hart in den Brustkorb, dass dieser vor Schmerz ins Gras fiel. Adam half ihm auf. Jonathan hielt sich die Rippen. »Das ist Fußball, kein Kampfsport«, murmelte Jonathan.
Adam ging zu Herrn Wandschneider, um sich zu beschweren. »Das war doch ein klares Foul!«, rief er aufgebracht. Gregg stoppte den Ball und warf dem Lehrer einen vielsagenden Blick zu.
»Hier in Winkelried fördern wir einen robusten Wettbewerb unter den Schülern«, sagte Herr Wandschneider in einem Ton wie aus einem Werbespot.
Adam platzte fast der Kragen. »Das grenzt doch an Körperverletzung!«, rief er.
»Na, nun übertreib mal nicht«, mahnte der Lehrer.
Gregg prustete los. »Wie sagt man auf Deutsch?«, sagte er. »Ich hab’s: Weichei!«
Adam musste sich zusammennehmen, um Gregg nicht an die Gurgel zu springen. Stattdessen nickte er ihm zu.
»Robuster Wettbewerb?«, sagte er zu sich selbst. »Das kannst du haben, my friend.«
Herr Wandschneider pfiff, und das Spiel ging weiter. Gregg rannte mit dem Ball in Richtung Tor. Jonathan kam von der Seite und stürzte sich in den Zweikampf. Gregg schubste ihn mit der Hand zu Boden und lenkte den Ball in den Strafraum. Er wollte gerade zum Schuss ansetzen, als Adam ihn mit voller Wucht zu Boden rammte.
Herr Wandschneider pfiff. Gregg rappelte sich auf und wollte Adam in den Schwitzkasten nehmen, doch dieser rammte ihm den Ellbogen in die Rippen und ließ ihn über sein Fußgelenk zu Boden fallen.
»Foul!«, rief Herr Wandschneider. »Grobes Foul! Elfmeter. Und du bist raus!«
Dabei zeigte er Adam die Rote Karte. Adam drehte sich zu ihm. »Ich dachte, Sie sind für robusten Wettbewerb«, sagte er in einem provokanten Tonfall.
»Es muss aber alles im Rahmen bleiben«, antwortete Wandschneider. »Zwei Stunden Nachsitzen wegen unsportlichen Verhaltens.«
Herr Wandschneider ging zu Gregg, der immer noch im Gras lag, und half ihm beim Aufstehen. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
Gregg sah Adam mit einem wütenden Blick an. »Geht schon«, murmelte er.
Adam setzte sich an die Seitenlinie. Wieder begann es, in ihm zu brodeln. Je länger er in diesem Internat war, desto mehr wurde ihm klar, dass die Lehrer die reichen Schüler hofierten, während die anderen wie Menschen zweiter Klasse behandelt wurden.
Jonathan nickte ihm anerkennend zu. Wenigstens hatte er es gewürdigt, dass Adam ihm zur Seite gesprungen war.
Nach dem Abendessen im Speisesaal rief Herr Wandschneider Adam zu sich. »Herr Euler, da Ihr Betragen heute auf dem Sportplatz nicht dem Ehrenkodex unseres Instituts entsprach, muss ich Sie leider zu zwei Stunden Nachsitzen verdonnern. Kommen Sie bitte mit mir.«
Adam folgte dem Sportlehrer in die Bibliothek, wo er ihn anwies, an einem Tisch Platz zu nehmen. Er gab ihm ein leeres Schulheft und eine gebundene Ausgabe von Goethes Faust.
»Sie schreiben jetzt so lange ab, bis die Zeit um ist«, sagte er.
Adam seufzte, nahm den Füller, den Wandschneider ihm gegeben hatte, und begann zu schreiben. Zwei Stunden später hatte er den Prolog und die erste Szene abgeschrieben. Herr Wandschneider, der am Nebentisch saß und ein Taschenbuch las, entließ ihn, konnte sich eine weitere herablassende Bemerkung jedoch nicht verkneifen. »Ich hoffe, wir haben unsere Lektion gelernt. Unsportlichkeiten kann ich überhaupt nicht leiden.«
»Gelernt habe ich auf jeden Fall etwas«, sagte Adam trocken. »Gute Nacht.«
Er verließ die Bibliothek und betrat den Innenhof. Es war schon nach zehn Uhr und im Internatsgebäude brannte nur noch in vereinzelten Fenstern Licht. Als Adam die Treppe zum Eingang fast erreicht hatte, trat jemand aus dem Schatten des Gebäudes und versperrte ihm den Weg. Es war Gregg. Er lächelte, doch in seinen Augen lag keine Spur von Humor. »Hey, Renzo. Ich glaube, wir sollten reinen Tisch machen.«
Jemand packte Adam von hinten, sodass er seine Arme nicht bewegen konnte. Adam versuchte sich loszureißen, doch er konnte dem eisernen Griff nicht entkommen. Gregg trat auf ihn zu. Er legte ihm eine Hand auf den Hinterkopf und flüsterte ihm ins Ohr. »Du bist neu hier. Du weißt noch nicht, wie es läuft. Darum werde ich heute mal nicht so hart sein. Weißt du, wer mein Vater ist? Er sitzt im US-Senat. Und ich werde irgendwann auch dort sitzen. Ich werde Macht ausüben, von der so einer wie du nur träumen kann. Mag ja sein, dass du mehr Grips hast, aber du wirst noch herausfinden, dass das in dieser Welt nicht viel zählt. Was zählt, ist, wer du bist, wen du kennst und wie viel Macht du ausübst. Und davon gebe ich dir jetzt eine Kostprobe.«
Er trat zurück. »Venturi?«, sagte er und nickte demjenigen zu, der Adam festhielt. Adam hatte angenommen, dass es sich um einen von Greggs Freunden handelte, doch als er sich umdrehte, fand er sich Angesicht zu Angesicht mit Greggs Bodyguard.
»Los, Venturi, mach deinen Job. Dieser Typ hat mich schließlich heute angegriffen.«
Adam sah, dass der Bodyguard zögerte. Ihm war sichtlich unwohl dabei, einem unbewaffneten Jungen wehzutun.
»Venturi«, ermahnte Gregg. »Muss ich meinem Vater mitteilen, dass du deinen Job nicht machst?«
»Nein, Sir«, murmelte der Bodyguard. Er ballte die rechte Hand zur Faust und rammte sie in Adams Bauch. Es fühlte sich an, als wäre er von einer Kanonenkugel getroffen worden. Adam sackte mit einem Schmerzenslaut zusammen. Er krümmte sich auf dem Boden und hielt sich die Bauchmuskeln. Venturi trat zu. Die Spitze seines harten Lederschuhs grub sich in Adams Bauch. Er keuchte vor Schmerz. Der Bodyguard trat ein zweites Mal zu, bevor Gregg ihm Einhalt gebot.
»Das reicht für heute«, sagte Gregg. »Ich glaube, Renzo hat seine Lektion gelernt. Meinst du nicht auch, Venturi?«
»Ja, Sir«, sagte der Bodyguard mit einem Hauch von Selbstzweifel in der Stimme. Sie ließen Adam hustend auf dem Kopfsteinpflaster liegen und gingen ins Haus zurück. Adam biss die Zähne zusammen. Jeder Atemzug tat ihm weh. Er setzte sich auf und versuchte gleichmäßig zu atmen. Dieser Venturi musste wohl jede freie Minute im Fitnessstudio verbringen, seine Faust und seine Füße hatten jedenfalls die Durchschlagskraft von Dampfhämmern. Adam blickte zur Bibliothek. Verdutzt bemerkte er, dass Herr Wandschneider am Fenster stand. Der Lehrer blickte ihn ausdruckslos an, dann wandte er sich ab und verschwand. Hatte er die ganze Aktion mitbekommen und nichts unternommen? Adam rappelte sich auf und ging ins Internat zurück.