An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Jedes Mal, wenn Adam sich im Bett bewegte, flammte der Schmerz in seinem Bauch und seinen Rippen auf. Außerdem geisterten Adam immer schrecklichere Rachefantasien durch den Kopf. Am nächsten Morgen schlurfte er in den Duschraum. Die Haut an seinem Bauch hatte sich grün und blau gefärbt. Er band sich ein Handtuch um und putzte sich vor dem Spiegel die Zähne.
»Hey, danke für gestern«, sagte Jonathan, der das Waschbecken neben ihm benutzte. »Es gibt nicht viele, die es mit Gregg aufnehmen würden.«
»Ich verstehe, warum«, sagte Adam und rieb sich die blauen Stellen auf seinem Bauch.
»Lass mich raten«, sagte Jonathan. »Du bist aus Versehen mit voller Wucht in eine Wand gerannt.«
Adam lachte. »Ja, komischerweise trug die Wand einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug.«
»Sein Bodyguard?«, fragte Jonathan ungläubig.
»Sieht so aus, also würde unser lieber Mr Maitland sich nicht selbst die Hände schmutzig machen.«
Die beiden gingen in ihr Zimmer zurück und zogen sich an. Im Frühstücksraum setzten sich Jonathan und Adam so weit wie möglich von Gregg weg. Adam beobachtete, wie dieser sich bei Claire einschmeichelte. Eine Mischung aus Verachtung und Eifersucht stieg in ihm hoch. Ihm fiel ein, dass er noch keine Fortschritte dabei gemacht hatte, mehr über Claire und ihren Vater herauszufinden.
»Sie ist hübsch, nicht wahr?«, sagte Jonathan.
»Hm?«, brummte Adam.
»Claire«, sagte Jonathan.
»Nicht so mein Typ«, sagte Adam nüchtern.
»Ach komm schon. Die ist jedermanns Typ.«
Adam war überrascht, dass Jonathan gemerkt hatte, wen er da beobachtet hatte. Nach dem Frühstück suchte er nach Yasemin und zog sich mit ihr in eine unbeobachtete Ecke zurück.
»Du musst mir helfen«, sagte er. »Ich will endlich mehr über Claire herausfinden.«
»Was soll ich tun?«, fragte Yasemin.
»Wenn ich irgendwie an ihr Handy käme, könnte ich ihre Kommunikation überwachen. Vielleicht kann ich mich in ihr Zimmer schleichen. Kannst du mir nicht eine App besorgen, die ich auf ihrem Handy installieren kann? Dann kann ich mithören, was sie mit ihrem Vater beredet.«
»Nein«, sagte Yasemin.
Adam war überrascht. »Ich dachte, so was ist für dich ein Kinderspiel«, sagte er.
»Wäre es auch«, sagte Yasemin. »Aber ich tue das nicht. Ich helfe dir gern dabei, mehr über Claire herauszufinden, aber ihr Handy zu hacken, grenzt ja an Stalking. Damit will ich nichts zu tun haben.«
»Sie hat meine Eltern auf dem Gewissen!«, rief Adam aufgebracht.
»Nein, ihr Vater hat deine Eltern auf dem Gewissen. Und selbst das haben wir noch nicht bewiesen.«
»Und wie soll ich das beweisen, ohne Zugriff auf ihr Handy zu haben?«, fragte Adam.
»Keine Ahnung«, sagte Yasemin. »Aber ich hacke mich auf gar keinen Fall in ihr Telefon.«
»Du bist ja eine tolle Freundin«, blaffte Adam.
Yasemin sah ihn fassungslos an. »Du hast ja Nerven«, sagte sie. »Ich helfe dir, wenn sich die ganze Welt gegen dich verschworen hat, rette dich sogar aus einem brennenden Haus, und jetzt bin ich nicht mehr gut genug für dich, weil ich nicht das Handy deiner Angebeteten hacke? Mach doch, was du willst.« Kopfschüttelnd ging Yasemin die Treppe zu den Klassenzimmern hinauf.
Adam kratzte sich am Kopf. »Super gemacht«, sagte er zu sich selbst. »Wirklich klasse, Alter.«
Er machte kehrt und ging den Korridor hinunter, der zu dem Klassenzimmer führte, in dem seine Mathestunde stattfand. Er setzte sich auf den Platz neben Jonathan. Natürlich konnte er sich kein bisschen auf den Stoff konzentrieren, den die Lehrerin, Frau Glarus, jetzt an der Tafel erklärte. Er dachte immer noch über das Zusammentreffen mit Yasemin nach. Warum wollte sie ihm nicht helfen? Klar, ein Handy zu hacken, war nicht die feine Art, mal abgesehen davon, dass es auch höchst illegal war, aber Claire war nun mal eine Gegenspielerin. Heiligte in diesem Fall der Zweck nicht die Mittel?
»Vielleicht kannst du uns weiterhelfen, Lorenz?«
Adam blickte auf. Er hatte keine Ahnung, wovon Frau Glarus sprach. Sie hielt ihm ein Stück Kreide hin. An die Tafel hatte sie eine Kurve in einem Koordinatensystem gemalt. f(x)= x4–16 stand daneben geschrieben. Adam stand auf und ging langsam zur Tafel. Er senkte den Kopf und spielte wieder den introvertierten Schüler.
»Kannst du uns die Ableitung hinschreiben?«, fragte Frau Glarus lächelnd. »Das ist für dich doch sicher ein Kinderspiel.«
In Adams Hirn rasten die Gedanken. Ableitung? Was zur Hölle war das? Er konnte sich dunkel erinnern, dass Yasemin dieses Wort mal erwähnt hatte, doch er hatte keine Ahnung, was es damit auf sich hatte.
»Äh … klar«, sagte er, um Zeit zu gewinnen. Er blickte die Kurve an. Dann die Gleichung. Wenn er auf einen Geistesblitz gehofft hatte, wurde er enttäuscht. Er drehte sich um. Jonathan sah ihn an. Dann senkte er, fast unmerklich, für einen Moment die Augen. Adam blickte auf seinen Tisch. Jonathan hatte seine Handfläche gehoben, als würde er eine Karte beim Pokern aufdecken. Dort stand die Lösung: f’(x)=4x3. Adam hob die Kreide an und malte die Lösung langsam, mit laut quietschenden Zügen, an die Tafel. Dann schlurfte er an seinen Platz zurück und setzte sich.
»Sehr gut«, sagte Frau Glarus. »Mia, vielleicht kannst du versuchen, die abgeleitete Kurve einzuzeichnen«.
Sie hielt einem Mädchen die Kreide hin, das nun ihrerseits an die Tafel kam. Adam blickte zu Jonathan hinüber. »Danke«, murmelte er.
»Nicht der Rede wert«, antwortete dieser.
Nach der Stunde gingen sie zusammen zu ihrem nächsten Klassenzimmer. »Sag mal, das mit der Ableitung eben, wusstest du das echt nicht?«, fragte Jonathan.
Zuerst antwortete Adam nicht. Er wog ab, ob er Jonathan vertrauen konnte. Schließlich entschied er sich dagegen. »Ich hatte einfach einen kleinen Aussetzer.«
»Okay«, sagte Jonathan. »Das passiert jedem mal.«
»Danke, dass du mir geholfen hast«, sagte Adam.
»Das ist das Mindeste, das ich tun kann. Du bist der Erste, der sich gegen Gregg wehrt. Ich habe den Typen so satt.«
Adam antwortete nicht. Ihm fiel wieder ein, was Yasemin über Gregg und ihn gesagt hatte. Hätte er selbst Jonathan in seinem früheren Leben wie Dreck behandelt? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, und das nagte an ihm. Vor dem Klassenzimmer, in dem der Englischunterricht stattfand, stand Claire mit ihren beiden Freundinnen und unterhielt sich. Gregg, der an der Englischklasse nicht teilnahm, schlich sich von hinten an sie heran. Er hielt ihr eine Visitenkarte vor die Nase. Sie drehte sich genervt um. »Was soll das?«, fragte sie Gregg.
»Da habe ich für uns beide heute Abend einen Tisch reserviert«, antwortete Gregg. »Fünf-Gänge-Menü, weltbekannter Koch, ein Michelin-Stern – ganz netter Laden also.«
Claires Freundinnen lächelten. Adam glaubte, ein wenig Neid in den Augen der Rothaarigen aufblitzen zu sehen.
»Venturi fährt uns und holt uns wieder ab. Was sagst du?« Gregg setzte sein – vermeintlich charmantestes – Lächeln auf.
»Ist ja ganz nett, aber letztes Mal hast du den ganzen Abend auf dein Handy geschaut und deinen Freunden Nachrichten geschrieben.«
»Okay. Wir lassen die Handys hier. Das gilt dann aber auch für dich.«
Claire konnte sich ein Lächeln ihrerseits nicht verkneifen. »Na gut, Gregg, aber wenn du dich nicht wie ein wahrer Gentleman verhältst, spreche ich danach kein Wort mehr mit dir. Ich hoffe, das ist dir bewusst.«
»Das würde ich auf keinen Fall riskieren«, antwortete dieser.
Claire drehte sich um und ließ die Visitenkarte zu Boden fallen. »Bis später«, sagte sie und ging ins Klassenzimmer.
Gregg hob die Karte auf und verschwand in einem der Korridore. Claire würde also diesen Abend mit Gregg in einem Restaurant verbringen, während ihr Handy in ihrem Zimmer lag. Das war der perfekte Moment, um darauf eine Spionage-App zu installieren. Warum musste Yasemin nur so stur sein? Adam kam ein Gedanke. Er wandte sich an Jonathan. »Sag mal, kennst du dich mit Handys aus?«
Es war neun Uhr abends, als Adam in seinem Zimmer stand und aus dem Fenster blickte. Venturi, Greggs Bodyguard, hatte den Geländewagen vorgefahren, und Gregg hielt Claire die hintere Tür auf. Sie stieg ein, Gregg setzte sich neben sie, und der Wagen fuhr los.
Adams Gelegenheit war gekommen. Er hatte Jonathan erzählt, dass er Greggs Handy hacken wollte. Jonathan, der einiges von Handysoftware verstand, hatte ihm eine App auf einen USB-Stick geladen. Diesen musste er nur in den Anschluss von Claires Handy stecken, um ihre gesamte E-Mail- und Textkommunikation auf seinem eigenen Handy abrufen zu können. Er wartete einige Minuten, um sich zu vergewissern, dass die beiden nicht aus irgendeinem Grund zurückkamen, dann schlich er sich auf den Gang hinaus. Ab zehn Uhr mussten die Schüler in ihren Zimmern sein, doch das galt natürlich nicht für Gregg und Claire. Adam erlebte ja jeden Tag, welchen Sonderstatus die reichen Schüler genossen. Er ging zum Ende des Ganges und schlich sich die Treppe zum Geschoss der Mädchen hinunter. Hier hatte er als männlicher Schüler erst recht nichts zu suchen. Wenn er hier erwischt wurde, konnte er von der Schule fliegen.
Frau Glarus, die Mathelehrerin, machte gerade ihren Rundgang. Adam stellte sich wieder hinter die Ritterrüstung, die ihm schon einmal als Versteck gedient hatte. Frau Glarus lief nichts ahnend an ihm vorbei und ging die Treppe hinunter. Der Gang war leer, und außer den Gesprächen, die hinter den Türen der Schülerinnen stattfanden, hörte er nichts. Er lief zu der Tür, die Claire mit ihrem Vater am Abend ihrer Ankunft betreten hatte, und presste sein Ohr an das Holz. Adam lauschte, doch von drinnen war nichts zu hören. Wie die meisten der reichen Schüler wohnte Claire allein. Adam drehte den Türgriff und ging hinein.
Claires Zimmer hatte die gleiche Ausstattung wie die anderen Zimmer, doch sie hatte noch ein paar Möbelstücke dazugekauft. Neben dem Wandschrank stand eine fahrbare Kleiderstange, an der mehrere Designeroutfits und Abendkleider hingen. Am Ende des Bettes stand ein Schminktisch mit einem beleuchteten Spiegel und an der Wand über dem Bett war ein Bücherregal angebracht. Auf diesem standen Schulbücher, aber auch Romane in Französisch, Deutsch und Englisch. Claire schien viel zu lesen. Adam wollte die Aktion so schnell wie möglich hinter sich bringen und ging zu Claires Nachttisch, der neben dem Kopfende des Bettes stand. Dort lag ihr Handy, das in einer roten Plastikhülle steckte. Er wollte gerade danach greifen, als er Schritte draußen im Gang hörte. Er hielt inne. Die Schritte mussten einer anderen Schülerin gehören, die auf ihr Zimmer ging. Oder machte Frau Glarus einen weiteren Rundgang? Irgendetwas störte Adam an diesem Geräusch. Die Schuhe klangen zu dumpf, zu schwer. Einer plötzlichen Eingebung folgend, huschte er zum Wandschrank und schlüpfte hinein. Keine Sekunde zu früh, denn als er gerade im Inneren des Schranks verschwunden war, öffnete sich die Tür zu Claires Zimmer. Adam spähte durch den Türspalt des Schranks. Es war nicht De Laurents Tochter, die in der Tür erschien, sondern Venturi, Greggs Bodyguard.
Was zum Teufel …? Er hielt die Luft an. Jetzt durfte er bloß kein Geräusch verursachen. Venturi musste die beiden am Restaurant abgeliefert haben und dann sofort zurückgekehrt sein. Was hatte er in Claires Zimmer verloren? Venturi ging zum Nachttisch und hob Claires Handy auf. Dann nahm er einen USB-Stick aus seiner Innentasche und steckte ihn in den Anschluss des Handys. Adam konnte es nicht fassen. Gregg musste ihm befohlen haben, Claires Handy zu manipulieren. Adam hielt den Atem an. Venturi legte das Handy zurück auf den Nachttisch, blickte sich ein letztes Mal im Zimmer um und trat dann wieder auf den Gang hinaus.
Adam verließ den Schrank. Gregg hatte das Date also genutzt, um Claires Handy zu hacken. Adam blickte auf den USB-Stick in seiner Hand, den Jonathan ihm gegeben hatte. Plötzlich wurde ihm klar, dass Yasemin recht gehabt hatte. Adam war keinen Deut besser als dieser Gregg. Klar, er wollte den Mörder seiner Eltern überführen, doch war das wirklich der Grund, warum er Claires Handy hacken wollte? Welche Informationen hatte er sich davon erhofft? War der wirkliche Grund nicht, dass er Claire näherkommen wollte? Er verwarf den Gedanken, horchte an der Tür und lief dann in den Gang hinaus. Im Treppenhaus lief er in den dritten Stock und ging in den Waschraum. Dort warf er den USB-Stick in die Toilette und drückte den Abzug. Der Stick verschwand gurgelnd im Abflussrohr.
Wenn er Claires Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte, dann nicht mit solchen Methoden.