22

Am nächsten Tag suchte Adam Yasemin nach dem Frühstück. Zusammen gingen sie in den Garten, um nicht belauscht zu werden.

»Du … also … ich …«, druckste Adam herum.

»Was denn?«, fragte Yasemin ungeduldig.

»Du hattest recht. Ich muss mich bei dir entschuldigen.«

»Recht womit?«, fragte sie.

»Wegen Gregg. Dass ich so bin wie er.«

Er schilderte Yasemin, was sich in der vergangenen Nacht zugetragen hatte. »Da habe ich es erst kapiert, was es heißt, jemandes Handy zu hacken. Das ist eine ganz miese Nummer.«

»Schön, dass du selbst drauf gekommen bist«, antwortete Yasemin.

Adam hielt ihr die Hand hin. »Freunde?«, fragte er.

Yasemin schüttelte sie. »Freunde.«

»Jetzt weiß ich aber auch nicht weiter, Whywhy. Wie soll ich an Claire rankommen?«, fragte er.

Yasemin hob fassungslos die Hände in den Himmel. »Dass ich den Tag noch erleben darf!«, rief sie. »Wo du mich um Rat fragst, wie du dich an eine Frau ranmachen sollst.« Sie lachte. »Na, lass deinen Charme spielen, Blödmann. Auf die Gefahr hin, dass es dir zu Kopf steigt: Du siehst ganz gut aus. Selbst mit der Frisur. Und auf den Mund gefallen bist du auch nicht. Wenn ich dir als Frau einen Rat geben darf: Auch Claire möchte nur jemanden haben, der hinter ihre oberflächliche Fassade blickt. Zeig ihr, dass du besser bist als Gregg.«

Jetzt war es Adam, der lächelte.

Es war ein kühler Nachmittag. Der Winter lag in der Luft, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der erste Schnee fallen würde. Der Speisesaal besaß eine Terrasse, auf der man bei gutem Wetter draußen essen und dabei das Bergpanorama genießen konnte. Um dort zu essen, war es inzwischen zwar zu kalt, doch Claire und ihre beiden Freundinnen saßen, in dicke Daunenjacken gehüllt, an einem der Holztische und unterhielten sich. Adam hatte sich ein französisches Buch aus der Bibliothek ausgeliehen und setzte sich nun hinter die Mädchen. Er schlug seine Lektüre auf und begann so zu tun, als würde er lesen. Er wartete ab, bis eine Pause in der Konversation der Mädchen entstand, dann räusperte er sich.

»Pardon, Mademoiselle«, sagte er. Claire blickte auf.

»Kannst du mir vielleicht helfen?«, fuhr er in ihrer Muttersprache fort. »Ich habe mein Wörterbuch auf meinem Zimmer gelassen. Was heißt dieses Wort hier?« Er zeigte auf das Wort, das ihm angeblich Schwierigkeiten bereitete.

Claire stand auf und setzte sich neben ihn. Er konnte ihr Parfüm riechen. Er war zwar kein Experte, doch es duftete teuer.

»Zeig mal her«, sagte sie und sah sich das Buch an. »Traîneau à voiles«, las sie vor. »Traîneau ist ein …« Sie schnippte mit den Fingern, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. »Damit fährt man im Winter den Berg runter.«

»Ski?«, fragte Adam.

»Non, wie in dem Lied Jingle Bells

»Schlitten«, rief Adam.

»Genau, Schlitten«, bestätigte Claire. »Und voiles sind …«

Wieder dachte sie nach. »An dem Mast von einem Piratenschiff …«

»Segel!«, rief Adam.

»Das ist es.«

»Also ein Segelschlitten«, sagte Adam.

»Was ist das für ein Buch?«, fragte sie neugierig.

Adam zeigte ihr das Cover. »Ah, Jules Verne. Liest du das für den Unterricht?«, fragte sie.

»Nein, nur so. Um mein Französisch zu verbessern. Man weiß ja nie, wann es mal nützlich werden kann.«

Bei dem letzten Satz hatte er sie lächelnd angesehen. Claire erwiderte seinen Blick. Sie schien überrascht zu sein, dass er mit ihr flirtete, doch Adam bemerkte erfreut, dass sie es ihm nicht übel nahm. Im Gegenteil.

»Ich unterhalte mich immer gern in meiner Muttersprache«, sagte Claire.

Ein Schatten fiel auf Adams Buch. Claire blickte auf. Auch Adam drehte sich um. Gregg stand hinter ihnen. Adam konnte ihm ansehen, dass es ihm überhaupt nicht passte, dass Claire neben ihm saß.

»Claire, ich führe dich zum Essen aus, und du zeigst mir den ganzen Tag die kalte Schulter?«, fragte Gregg. »Und jetzt sitzt du hier neben diesem Loser?«

»Ich habe mich nur nett unterhalten«, antwortete sie. Gregg warf Adam einen verächtlichen Blick zu. Dieser beschloss, Salz in die Wunde zu streuen. Er stand auf und verneigte sich tief. »Vielen Dank, Mademoiselle«, sagte er auf Französisch. »Bis zum nächsten Mal. Ich mache mich jetzt mit meinem Segelschlitten auf und davon.« Er lächelte Claire an, und diese konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Adam zwinkerte Gregg zu. Dieser verstand natürlich kein Wort von dem, was er gerade gesagt hatte. Er versuchte nach außen hin cool zu bleiben, doch Adam wusste, dass es hinter seiner Fassade brodelte. Adam nahm sein Buch und verschwand im Speisesaal.

Er ging auf sein Zimmer, legte sich auf sein Bett und dachte nach. Es war ihm ziemlich leichtgefallen, mit Claire zu flirten. Das war auch kein Wunder, schließlich sah sie sehr gut aus. Doch da war noch etwas anderes. Er mochte sie. Er mochte sie wirklich. Als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, auf den Fotos vom roten Teppich im Internet, da hatte er sie für eines dieser Starlets gehalten, die sich toll dabei vorkommen, in Designerkleidern vor Fotografen zu posieren. Doch er hatte den Verdacht, dass er sie unterschätzt hatte. Sie besaß einen scharfen Verstand. Außerdem hatte sie Humor.

»Oh Mist, du wirst dich doch nicht in sie verknallen«, sagte er zu sich selbst. Doch er ahnte, dass es bereits zu spät war. Er war drauf und dran, sich in die Tochter des Mannes zu verlieben, der seine Eltern auf dem Gewissen hatte. Jonathan öffnete die Tür und riss ihn aus seinen Gedanken. »Im Fernsehraum läuft gleich Die Bourne Identität. Hast du Lust runterzugehen?«, fragte er.

»Klar«, sagte Adam, der eine Ablenkung gut gebrauchen konnte. Zusammen gingen sie die Treppe hinunter. Der Film lief bereits auf dem großen Fernseher, als Adam und Jonathan den Raum betraten. Die anderen Schüler saßen auf den wild zusammengewürfelten Stühlen, Sofas und Sesseln, die im Raum verteilt waren. Adam und Jonathan setzten sich auf zwei Kissen an die hintere Wand. Zu Adams Rechten saßen Gregg und seine Freunde, sie schenkten dem Film jedoch keine Beachtung. Stattdessen blickten sie auf Greggs Handy. Dabei zeigten sie immer wieder auf das Display, während sie tuschelten und lachten.

Adam beugte sich vor, um zu sehen, was die Jungs da trieben. Auf der Anzeige von Greggs Smartphone waren Textnachrichten zu sehen. Der Name Claire stand am oberen Rand des Bildschirms. Eine neue Nachricht erschien und dann eine Antwort, obwohl Gregg gar keine verfasst hatte. Jetzt wurde Adam klar, was da vor sich ging. Gregg benutzte die Spionagesoftware, die Venturi auf Claires Handy installiert hatte. Die App ließ Gregg Claires Textnachrichten und E-Mails lesen. In diesem Moment drehte Gregg sich um. Er musste Adam aus den Augenwinkeln heraus gesehen haben. »Hast du ein Problem?«, fragte er missgelaunt.

Adam lehnte sich zurück. »Nein«, antwortete er. »Alles bestens.«

Gregg starrte ihn einige Sekunden lang an, dann wandte er sich wieder seinem Handy zu. Adam ließ den Film auf dem großen Fernseher an sich vorbeirauschen. Sollte er Claire warnen? Vor ein paar Tagen war er selbst kurz davor gewesen, ihr Handy zu hacken, doch jetzt wollte er sie vor einem Angriff schützen. Er musste es tun. Diesem Gregg konnte man nicht trauen. Adam stand auf, murmelte Jonathan eine Entschuldigung zu und verließ den Fernsehraum. Adam dachte nach. Wo hielt sich Claire jetzt wohl auf? Wahrscheinlich auf ihrem Zimmer. Er durfte das Stockwerk der Mädchen um diese Zeit zwar noch betreten, doch er wollte auf keinen Fall gesehen werden. Da er sie anonym warnen wollte, beschloss er, ihr eine Nachricht zu schreiben. In seinem Zimmer angekommen, nahm er einen Kugelschreiber aus seinem Federmäppchen und riss die Ecke eines DIN-A4-Blattes ab. Dann schrieb er in großen Druckbuchstaben eine kurze Nachricht darauf:

Jemand liest deine SMS. Handy gehackt.

Er faltete den Zettel in der Mitte und legte ihn in seine Handfläche. Dann ging er die Treppe zum Stockwerk der Mädchen hinunter, wartete, bis der Korridor ausgestorben war, und lief zu Claires Tür. Adam bückte sich und schob den Zettel unter dem Türspalt durch. Er stand auf, klopfte an die Tür und rannte dann, so schnell er konnte, den Gang entlang zu der Ritterrüstung, die ihm nun schon zum dritten Mal als Versteck diente. Er hörte, wie sich Claires Tür öffnete. Einen Moment später schloss sie sich wieder. Adam wartete einige Sekunden und lief dann die Treppe hinunter in die Eingangshalle. Er betrat den Fernsehraum und setzte sich wieder neben Jonathan.

Gregg blickte immer noch gebannt auf das Display seines Handys und las Claires Nachrichten. Einen Moment später zeigte das Fenster der App eine Fehlermeldung: Verbindung unterbrochen. Ungeduldig beendete Gregg die App und startete sie neu. Doch es half nichts. Die Verbindung zu Claires Handy war tot. Frustriert ließ er das Handy in seiner Hosentasche verschwinden und verschränkte die Arme.

Als die Schüler am nächsten Morgen in den Speisesaal kamen, färbte die aufgehende Sonne den Himmel rotorange.

»Ist es nicht schön?«, sagte Yasemin, die neben Adam am Tisch saß.

»Hm«, brummelte Adam missgestimmt.

»Was ist mit dir?«, fragte sie.

»Ach nichts«, sagt er.

Yasemin folgte seinem Blick und sah, dass er Gregg beobachtete, der neben Claire saß und mit ihr flirtete.

»Oh nein«, sagte Yasemin.

»Was ist los?«, fragte Adam.

»Den Blick kenne ich«, antwortete sie.

»Welchen Blick?«

»Diesen Ich-möchte-in-deinen-Augen-ertrinken-Blick.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Adam mürrisch.

»Na, dass du Claires Reizen erlegen bist.«

»Ihren Reizen erlegen?«, fragte Adam.

»Du willst was von ihr«, stellte Yasemin fest.

»Quatsch«, sagte Adam. »Wie kann ich was von ihr wollen? Ihr Vater ist schließlich mein Erzfeind.«

Yasemin lächelte. »Ich weiß, wie Jungs denken«, sagte sie. »Oder, besser gesagt, wann sie nicht denken. Jedenfalls nicht mit dem Kopf …«

»Yasemin!«, sagte Adam mit gespielter Empörung.

»… sondern mit dem Herzen, Lorenz. Oder was dachtest du?«

Adam grinste.

Plötzlich wurde Yasemin ernst. »Pass auf dich auf, okay?«, sagte sie. »Das kann nicht gut enden mit euch. Das ist dir hoffentlich klar.«

»Ist schon okay«, sagte Adam. »Ich bin ein großer Junge.«

Yasemin blickte ihn an. »Auch großen Jungs kann Schlimmes passieren.«

Sie blickte aus dem Fenster.

Vor seiner Französischstunde ging Adam in die Bibliothek, um ein Buch abzuholen. Als er diese wieder verließ und über den Innenhof ging, traf ihn ein Schneeball von hinten. Er drehte sich um und erwartete, Jonathan oder Yasemin zu sehen, die ihm einen Streich spielen wollten, doch es war Gregg, der hinter ihm stand.

»Hey, Asshole!«, rief er und stürzte sich auf ihn. Bevor Adam reagieren konnte, hatte Gregg ihn zu Boden geworfen, am Hals gepackt und sein Gesicht in einen Schneehaufen gedrückt.

Adam stieß Gregg seinen Ellbogen in die Rippen und kämpfte sich frei. Er stand auf, klopfte sich den Schnee aus der Kleidung und blickte Gregg an.

»Sieh mal einer an«, sagte Adam provozierend. »Du schlägst jetzt schon selbst zu? Ich dachte, dein Bodyguard erledigt für dich die Drecksarbeit.«

»Du hast Claire gesagt, dass mit ihrem Handy was nicht stimmt.«

»Was soll mit ihrem Handy nicht stimmen?«, fragte Adam mit einer Unschuldsmiene.

»Das weißt du genau«, fauchte Gregg. »Du hast mich gestern Abend im Fernsehraum bespitzelt.«

»Bespitzelt? So was würde ich nie tun«, sagte er und ging in Richtung Eingang, ohne Gregg aus den Augen zu lassen.

»Pass mal gut auf, Renzo«, sagte dieser. »Du musst dir nicht einbilden, dass du bei Claire irgendwie landen kannst. So einer wie du ist Luft für sie.«

Adam grinste Gregg an. »Das werden wir sehen, Gregg.«

Damit drehte er sich um, und verschwand im Internatsgebäude.