23

Das Zusammentreffen mit Gregg bestärkte Adam nur darin, Claire für sich zu gewinnen. Am nächsten Abend fand er sie allein in einem Klassenzimmer. Sie saß an einem Tisch, umringt von offenen Büchern. Gebannt starrte sie auf das Display ihres Laptops, dabei hatte sie ihr Kinn auf ihren Handrücken gestützt. Adam betrat das Zimmer. »Die Stunde ist schon vorbei«, sagte er mit einem freundlichen Tonfall.

Claire blickte auf und lächelte. »Ich weiß«, sagte sie. »Ich bereite nur etwas für morgen vor.«

Adam ging zu ihr hinüber. »Darf ich?«, fragte er und deutete auf den Stuhl neben ihr.

»Gern«, sagte sie.

Adam setzte sich. »Was bereitest du vor?«

»Ich bin im Debattier-Club«, sagte sie.

»Debattier-Club?«, fragte Adam.

»Ja. Wir bekommen ein Diskussionsthema und müssen dann entweder dafür oder dagegen Argumente bringen. Ich bin morgen dran.«

»Interessant. Was ist das Thema?«, fragte Adam.

»›Soll der internationale Waffenhandel verboten werden?‹«, antwortete Claire.

»Oh Mann, ganz schön kompliziert«, sagte Adam.

Claire musterte ihn. »Wenn es einfach wäre, wäre es ja langweilig«, sagte sie.

»Stimmt. Und, bist du dafür oder dagegen?«

»Das weiß ich noch nicht«, sagte sie. »Was ich persönlich davon halte, spielt keine Rolle. Ich bekomme kurz vorher eine Meinung zugelost. Darum muss ich für beide Seiten Argumente vorbereiten. Deshalb verbringe ich meinen Abend hier.« Sie blickte zurück auf das Display ihres Computers. Adam wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mit ihr allein zu sprechen.

»Ich habe eine Idee«, sagte er. »Wir könnten doch zusammen üben.«

Claire blickte auf. »Wie denn das?«, fragte sie.

»Ich schlage ein Thema vor, und wir debattieren.«

Claire zuckte mit den Schultern. »Okay. Welches Thema?«

Adam stellte sich vor sie hin und verschränkte die Arme. »Folgendes Thema«, sagte Adam. »›Soll Claire mit Lorenz auf ein Date gehen?‹« Er lächelte.

Claire hob eine Augenbraue. »Okay«, sagte sie. »Das ist einfach. Ich argumentiere dagegen. Erstens, ich kenne dich überhaupt nicht. Was ist, wenn ich mich langweile?«

Adam dachte nach. »Ich kenne mich aber, und ich weiß, dass ich kein Langweiler bin. Oder langweilst du dich gerade in diesem Moment?«

»Nein, nicht besonders.« Sie legte den Kopf zur Seite. »Zweitens, du bist nicht mein Typ.«

Adam ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Hey, nur weil ich nicht mit meinem eigenen Bodyguard rumlaufe und mein Vater kein US-Politiker ist, heißt das noch lange nicht, dass man mit mir keinen Spaß haben kann.«

Claire schien die Antwort zu gefallen, doch sie versuchte, es nicht zu zeigen. »Drittens, du bist … wie sagt man … insolent

»Frech«, übersetzte Adam. »Ist das wirklich ein Argument gegen ein Date mit mir? Ich würde sagen, das spricht eher dafür.« Er grinste.

Claire sah ihn herausfordernd an. »Du bist dran«, sagte sie.

»Okay, hier ein paar Argumente, warum du es tun solltest. Erstens, ich bin ein ziemlich netter Typ. Zweitens, ich langweile dich nicht. Drittens, ich sehe nicht schlecht aus.«

»Viertens, du bist ganz schön eingebildet«, warf Claire ein.

»Ich würde es selbstbewusst nennen, aber okay. Fünftens, was hast du zu verlieren? Entweder du hast ein romantisches Date, das vielleicht zu mehr führt, oder du hast ein paar Stunden deines Lebens vergeudet. Das Risiko ist gering, der potenzielle Gewinn ist riesig.«

Claire dachte nach. »Weißt du«, sagte sie. »Ich habe dich wirklich falsch eingeschätzt. Ich dachte, du bist eher so ein introvertierter Typ.«

»Vielleicht ist das nur meine Tarnidentität«, sagte Adam etwas unvorsichtig.

»Okay, Lorenz, mal sehen, ob du wirklich so ein toller Hecht bist«, sagte sie. »Du hast dein Date.«

Adam grinste erneut. »Morgen, neun Uhr abends unten in der Eingangshalle. Ich hole dich dort ab.«

»Ich hoffe, ich bereue es nicht«, sagte Claire.

Adam stand auf. »Wir sehen uns dann.«

Er verließ das Klassenzimmer, drehte sich jedoch noch einmal um. Claire widmete sich wieder dem Display ihres Laptops. Doch sie schüttelte kaum merklich den Kopf und lächelte.

Adam konnte den nächsten Abend kaum erwarten. Er verbrachte den Tag damit, alles vorzubereiten. Pünktlich um neun Uhr abends wartete er in der Eingangshalle auf Claire. Einige Minuten später kam sie die Treppe hinunter. Adam bemerkte, dass sie Make-up trug. Ein gutes Zeichen.

»Fahren wir mit dem Taxi?«, fragte sie.

»Ich dachte, wir könnten uns ein wenig die Beine vertreten«, antwortete Adam.

»Du willst bis ins Dorf laufen?«, fragte Claire entgeistert.

»Wer hat was vom Dorf gesagt?«, antwortete Adam.

Zusammen verließen sie die Eingangshalle. Adam führte Claire über den Innenhof zur Rückseite des Schulhauses. Dort gingen sie durch den Garten.

»Ist dir kalt?«, fragte Adam.

»Ein bisschen«, sagte Claire.

Adam zog seine Jacke aus, und legte sie Claire um die Schultern.

»Ein echter Gentleman«, sagte sie.

»Es ist nicht weit«, antwortete Adam. »Bald kannst du dich aufwärmen.«

Sie liefen über die Wiese, die sich hinter dem Internat erstreckte. Nach einigen Minuten erreichten sie den Badesee, in dem man im Sommer bestimmt hervorragend schwimmen konnte. Claire staunte. Am Ufer des Sees hatte Adam ein kleines Lagerfeuer entzündet. Daneben hatte er eine Picknickdecke ausgebreitet, auf der ein Korb stand. Adam deutete auf die Decke. »Bitte, setz dich.«

Claire nahm auf der Decke Platz und wärmte die Hände am Feuer. »Verrückt, bei dieser Kälte ein Picknick zu organisieren«, sagte sie und wickelte sich in eine der Wolldecken, die Adam bereitgelegt hatte.

»Finde ich nicht«, sagte Adam. »Ist doch romantisch hier draußen am Feuer. Und wenn dir kalt ist, kannst du dich gern an mich rankuscheln.«

»Das hättest du wohl gerne«, antwortete Claire.

Adam deutete auf ein dichtes Gebüsch, das zwischen ihnen und dem Schulhaus wucherte. »Durch das Gestrüpp sieht man uns vom Internat aus nicht. Wir sind also ungestört.«

Er öffnete den Korb und förderte französischen Käse, frisches Brot, Weintrauben und eine Thermoskanne zutage.

»Ich liebe diesen Käse!«, rief Claire. »Wo hast du das alles herbekommen?«

Sie begann, sich eine Scheibe Brot zu belegen. Adam schraubte den Verschluss der Kanne ab und goss sich und Claire dampfenden Tee ein. »Ich habe mich im Kühlraum der Küche bedient. Wusstest du, dass Zwingli seinen eigenen Vorrat an Wurst- und Käsedelikatessen dort aufbewahrt? Nur das feinste Zeug. Ich habe mir ein wenig davon ausgeborgt.«

»Ausgeborgt?«, wiederholte Claire und biss in ihr Brot.

Adam hob seine Tasse. »Auf ein unvergessliches Date«, sagte er.

Claire stieß mit ihrer Tasse an. Nachdem sie gegessen hatten, saßen sie nebeneinander und starrten ins Feuer.

»Das erinnert mich an Paris«, sagte Claire. »Bevor ich hier ins Internat kam, haben wir in der Nähe des Jardin du Luxembourg gewohnt. Nachts ist er geschlossen, doch wir sind im Sommer oft abends über den Zaun geklettert und haben dort ein Picknick gemacht. Das war Tradition. Natürlich haben wir dort kein Lagerfeuer angezündet.«

Adam blickte Claire an. Das Feuer verlieh ihren Augen einen orangeroten Glanz. »Du klingst, als würdest du Paris vermissen«, sagte er.

»Oft. Es ist zwar wunderschön hier, und die Schule ist eine der besten Europas, aber die Menschen können ganz schön kühl sein. In Paris hatte ich Freunde, die Musiker waren oder Künstler oder Poeten. Eine verrückte Mischung, weißt du? Hier will jeder der nächste große Irgendwas sein. Der nächste große Politiker. Der nächste große Wissenschaftler. Der nächste große Firmenchef. Manchmal habe ich das Gefühl, du wirst hier nur danach beurteilt, wen du kennst, wer deine Eltern sind und wie wichtig du bist. Nicht wer du bist.«

Adam war überrascht. Auch er hatte Claire falsch eingeschätzt. Er hatte sie für eingebildet und oberflächlich gehalten, doch sie schien ein offenes Wesen zu besitzen.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte nicht jammern. Was ist mit dir? Wo kommst du her?«

Adam hätte jetzt nichts lieber getan, als ihr die Wahrheit zu sagen. Er wollte Claire nicht anlügen, denn er spürte, dass sie ihn wirklich mochte. Doch er hatte keine Wahl. Anstatt von seinem echten Leben zu erzählen, tischte er ihr die Details seiner Tarnidentität auf.

»Mein Leben ist nicht so spannend«, begann er. »Ich komme aus einem kleinen Dorf in der Nähe von München. In der Schule war ich immer ziemlich gut in Mathe. Mein Lehrer hat meinen Eltern geraten, mich hier zu bewerben, und jetzt bin ich hier.«

»Verstehst du dich gut mit deinen Eltern?«, fragte Claire.

»Mehr oder weniger«, sagte Adam. Er unterdrückte den Anflug von Trauer, den ihre Frage bei ihm auslöste. Das war seine Chance, mehr über Claires Vater in Erfahrung zu bringen. Er musste sie nutzen. »Was ist mit dir?«, fragte er.

Claire atmete vielsagend aus. »Puh. Schwierig. Manchmal so, manchmal so. Ich liebe meinen Vater, zwar über alles, aber …« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Er gefällt sich in der Rolle des Vorzeigevaters. Oft stellt er jedoch seine Geschäfte über seine Familie. Meine Mutter leidet besonders unter ihm. Er kauft ihr das teuerste Zeug, Schmuck, Kleidung, Schuhe, doch er behandelt sie wie ein Püppchen.« Claire blickte Adam an. »Okay, genug von meinem Kram. Ich möchte diesen Augenblick nicht verderben.«

»Das tust du nicht«, sagte Adam. »Im Gegenteil, ich …«

Weiter kam er nicht, denn Claire küsste ihn in diesem Moment. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände, und er spürte ihre Lippen auf seinen. Vor Überraschung fiel er fast zur Seite ins Feuer. Claire lachte und hielt ihn fest. »Vorsicht!«, rief sie.

Adam musste tief Luft holen. »Wow!«, sagte er.

»Der Moment war da«, sagte Claire und blickte ihn an. Ihr Lächeln wärmte ihn mehr als das Feuer. »Eins musst du über mich wissen, Lorenz«, sagte Claire. »Ich nehme mir, was ich will.«

Sie legte Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand an ihre Lippen, küsste sie und drückte ihm ihre Finger auf seinen Mund. Dann stand sie ohne ein weiteres Wort auf und ging zum Schulhaus zurück. Sie drehte sich nicht mal mehr zu ihm um.

Adam war sprachlos. Er konnte nicht anders, als ihr mit offenem Mund dabei zuzusehen. Erst als sie hinter dem Gestrüpp verschwunden war, fand er seine Fassung wieder.

Er holte tief Luft. »Wow«, wiederholte er voller Anerkennung. »Die hat’s echt drauf.«

Mit einem eigens dafür bereitgestellten Eimer schöpfte er Wasser aus dem Badesee und goss es über das Feuer. Es zischte laut, und Dampf stieg auf.