Als Adam am nächsten Morgen aufwachte und aus dem Fenster sah, tanzten Schneeflocken aus einer grauen Wolkendecke herab. Er beobachtete, wie der Wind die dicken Flocken durcheinanderwirbelte. Genauso stürmisch ging es in seinen Gedanken zu. Er dachte an den vergangenen Abend zurück. Claires Kuss hatte ihm den Schlaf geraubt, und wenn er die Augen schloss, konnte er ihre Lippen immer noch auf seinen spüren.
Er sprang förmlich aus dem Bett. »Es schneit, Jonathan. Ist es nicht wunderschön?«
Auf der anderen Seite des Zimmers lugte Adams Zimmergenosse unter der Bettdecke hervor. »Es ist sechs Uhr morgens, und an meinen Füßen wachsen Eiszapfen«, murmelte Jonathan verschlafen.
»Was du brauchst, ist eine kalte Dusche«, sagte Adam. »Das bringt den Kreislauf in Schwung.«
Adam packte sein Waschzeug und verließ das Zimmer. Jonathan hatte für seinen Enthusiasmus nur ein Kopfschütteln übrig.
Eine Stunde später betraten Adam und Jonathan gemeinsam den Speisesaal. Jonathan hatte Adams Rat verschmäht und heiß geduscht. Während sie zu ihrem Tisch liefen, suchte Adam nach Claire. Er fand sie an einem der Fensterplätze, wo sie mit ihren Freundinnen sprach. Als sie aufblickte und Adam entdeckte, lächelte er sie an. Doch anstatt sein Lächeln zu erwidern, tat Claire so, als hätte sie ihn nicht gesehen. Adams Laune verdüsterte sich. Zu allem Überfluss kam nun auch noch Gregg in den Speisesaal, der direkt zu ihr hinüberging. Er sprach sie an, und sie begann sich angeregt mit ihm zu unterhalten. Warum ignorierte sie Adam? Hatte der Kuss am Lagerfeuer ihr nichts bedeutet? Hatte sie nur mit seinen Gefühlen gespielt?
In der folgenden Englischstunde konnte Adam sich nicht auf den Unterricht konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab, und er musste an Claire denken. In der Pause passte er sie auf dem Weg zu den Toiletten ab. »Hi, Claire«, sagte er. »Wie geht’s?«
»Gut«, antwortete sie. Ihr Tonfall klang, als wären sie entfernte Bekannte.
»Ich dachte, wir könnten vielleicht heute Abend etwas unternehmen«, sagte Adam.
»Das geht leider nicht«, antwortete Claire knapp. »Mein Vater hat heute einen Geschäftstermin in der Nähe. Vorher führt er mich zum Essen aus. Wir sehen uns.«
Bevor Adam etwas erwidern konnte, verschwand sie in der Mädchentoilette. Enttäuscht machte Adam kehrt. Wieso zeigte sie ihm die kalte Schulter? War das Ganze nur ein Spiel für sie? Wollte sie ihn ein wenig zappeln lassen? Erst als er in die Eingangshalle zurückkehrte, wurde ihm bewusst, was Claire gesagt hatte. Ihr Vater hatte einen Geschäftstermin. Wahrscheinlich um sich mit diesem Buteo zu treffen, den er bei seinem Anruf erwähnt hatte. Irgendwie musste Adam herausfinden, worum es bei diesem Treffen ging. Es gab nur eine Lösung. Er musste De Laurent direkt belauschen. Doch wie sollte er das anstellen? De Laurent würde sicher mit dem Auto anreisen. Adam konnte ihm auf keinen Fall zu Fuß folgen. Er besaß jedoch kein Auto oder sonst irgendeinen fahrbaren Untersatz. Er ging zum Ausgang des Internats und setzte sich auf die Treppenstufen zum Innenhof. Ein Knattern durchdrang die eisige Luft. Lohser, der Hausmeister, war gerade dabei, das Kopfsteinpflaster des Hofs mit einem Miniaturschneepflug freizuschaufeln. Sollte Adam ein Taxi rufen, um den Mercedes von De Laurent zu verfolgen? Aber das war erstens auffällig, und zweitens konnte er es sich nicht leisten. Aus demselben Grund konnte er sich auch kein Motorrad mieten. Sollte er versuchen, in den Kofferraum des Mercedes zu klettern? Viel zu gefährlich. Wenn dieser sich nicht von der Innenseite öffnen ließ, war er geliefert.
Lohser parkte den Schneepflug, stieg ab und lief wortlos an Adam vorbei die Treppe hinauf. Adams Blick fiel auf das unscheinbare Fahrzeug, das einem Miniaturtraktor mit Schneeschaufel glich.
Ihm kam ein abenteuerlicher Gedanke. Wenn das Wetter mitspielte, konnte es funktionieren.
Der Abend war hereingebrochen. Im Laufe des Tages hatte sich der romantische Flockentanz zu einem mittleren Schneesturm gesteigert, und der Wind peitschte die kalten Flocken so gnadenlos durch die Luft, dass diese horizontale Streifen in die Nacht malten. Das war Adam nur recht, denn je schlimmer das Schneetreiben war, desto langsamer musste De Laurent in seinem Mercedes fahren. Der weiße Luxuswagen war gerade vor dem Eingang des Internats vorgefahren. Die Beifahrertür wurde geöffnet, und Claire stieg aus. Sie war in eine hellblaue Daunenjacke gekleidet, die einen Kragen aus Pelzimitat besaß. Mit einem knappen Gruß verabschiedete sie sich von ihrem Vater und lief mit gesenktem Kopf die Stufen hinauf. De Laurent legte den Rückwärtsgang ein und drehte den Wagen um. Als er das Tor zur Straße passierte, begann Adam seinen Plan in die Tat umzusetzen. Der Wagen fuhr in Schrittgeschwindigkeit durch das Tor. Adam huschte aus seinem Versteck hervor und klebte einen Gegenstand an die Stoßstange des Wagens, den er vorher präpariert hatte. Dabei handelte es sich um einen Katzenaugen-Reflektor, wie man ihn an Fahrradspeichen findet. Diesen hatte er aus Lohsers Büro neben dem Eingang stibitzt. Ein bisschen Klebeband, und das Ding saß fest. Außerdem hatte er sich den Schlüssel ausgeliehen, der zu dem Fahrzeug gehörte, mit dem er nun die Verfolgung aufnahm. Er setzte sich auf den Fahrersitz und drehte den Schlüssel in der Zündung. Der Motor des Minischneepflugs heulte auf und das Gefährt tuckerte mit 30 Sachen los. Es würde eine seltsam langsame Verfolgungsjagd werden.
Adam hielt zum Wagen von De Laurent so viel Abstand, wie er konnte, ohne ihn aus den Augen zu verlieren. Durch den Reflektor an der hinteren Stoßstange konnte er ihn selbst in der Dunkelheit und aus einiger Entfernung von anderen Autos unterscheiden. Das Wetter zwang De Laurent dazu, mit gedrosseltem Tempo zu fahren, und Adam hatte keine Mühe, ihm über die Bergstraße zu folgen. Er hatte die Schneeschaufel des Pflugs angehoben, damit die Geschwindigkeit nicht noch weiter gedrosselt wurde. Während er eine Hand dazu benutzte, sein Gesicht vor Wind und Schnee zu schützen, lenkte er mit der anderen. De Laurents Wagen hatte eine Richtung eingeschlagen, die ihn vom Dorf wegführte. Die Straße stieg steil an, und der mickrige Motor des Schneepflugs heulte auf. Mehrmals verlor Adam den Mercedes aus seinem Blickfeld, wenn der Wagen um eine der engen Kurven fuhr, doch Adam holte ihn jedes Mal wieder ein. Obwohl er eine dicke Wollmütze und eine Winterjacke trug, war sein Gesicht zu Eis erstarrt. Er konnte seine Nase und seine Lippen kaum noch spüren. Immer wieder ballte er die Hände in seinen Handschuhen zu Fäusten, um die Blutzirkulation in seinen Fingern anzuregen.
De Laurents Wagen verschwand hinter einem Hügel. Als der Schneepflug klappernd und pfeifend die Kuppe des kleinen Bergs erreichte, war von dem Mercedes weit und breit nichts zu sehen. Adam fuhr weiter. Die Straße vor ihm war jetzt relativ gerade, doch weder die Rücklichter eines Wagens noch das Katzenauge, das er installiert hatte, waren zu erkennen. Adam wollte schon verärgert aufgeben, als er eine Einfahrt passierte, die er im dichten Schneetreiben fast übersehen hätte. Er stoppte den Schneepflug und blickte die Auffahrt hinauf. De Laurents Wagen hatte vor einem Haus geparkt, dessen helle Fenster in der Dunkelheit wie ein Halloween-Kürbis leuchteten. War das der Ort, wo er sich mit diesem Buteo treffen wollte? Adam musste es herausfinden. Er ließ den Schneepflug am Straßenrand stehen und lief querfeldein auf das Haus zu. Dabei stampfte er durch kniehohe Schneemassen. Kurze Zeit später hatte er den hinteren Teil des Hauses erreicht. Bei dem Gebäude handelte es sich um ein modernes Chalet, dessen schräges Dach an der Rückseite bis zu dem Berghang hinabreichte. Die Außenwand bestand aus hellem Holz, und an der Front besaß es große Fenster, die das Tal überblickten. Bei Tag hatte man von hier aus sicher eine wundervolle Aussicht über das Bergpanorama.
Adam schlich sich von hinten an die Luxushütte an. Er staunte nicht schlecht, als er einen Swimmingpool entdeckte, der sich auf der Terrasse hinter dem Haus befand. Dampfschwaden stiegen von der Wasseroberfläche empor. Der Pool war beheizt. An der Hauswand waren, in einem Ständer, mehrere Paar Skier gelagert. Außerdem hingen dort zwei Kajaks von Haken herab, mit denen man wohl im Sommer in einem der umliegenden Bergseen paddeln konnte.
Adam hastete um den Pool herum und kletterte das schräge Dach fast bis zur Spitze empor, darauf bedacht, möglichst wenig Geräusche zu machen. Er musste höllisch aufpassen, dass er nicht auf der Eisschicht ausrutschte, die sich unter dem Schnee gebildet hatte. Ein Dachfenster war hier in die Schindeln eingelassen. Vorsichtig wischte er den frischen Schnee beiseite und blickte hinein. Er sah ins Wohnzimmer der Hütte, auf dessen Holzboden mehrere Schafsfelle lagen. Adam konnte De Laurent erkennen, der mit einem anderen Mann und mit dem Rücken zu ihm vor einem Kaminfeuer stand. War das Buteo? Hatte das Treffen schon begonnen? Doch als der andere Mann einen Schritt nach rechts machte, wurde Adam trotz der Kälte heiß unter dem Kragen. Die blanke Glatze war von hier oben nicht zu übersehen. Es war der Typ, der seine Eltern ermordet hatte.
Das Geräusch eines Autos drang von der Straße zu ihm. Adam blickte auf. Ein großer weißer Geländewagen fuhr die Einfahrt herauf. Er kam neben De Laurents Mercedes zum Stehen. Der Fahrer – ein Muskelpaket in einem schwarzen Anzug – stieg aus, öffnete die hintere Tür und half einem klein gewachsenen Mann aus dem Wagen. Im selben Moment hörte Adam, wie sich die Haustür öffnete. Kurz danach erschien De Laurent in der Einfahrt. Er schüttelte die Hand des Mannes, der in dem Geländewagen gesessen hatte.
»Monsieur Buteo, willkommen in der Schweiz«, sagte Rocco herzlich.