Adam und Gregg kehrten gerade rechtzeitig zum Mittagessen ins Internat zurück. Adam hatte zwar echt Hunger, doch er hatte auch das Bedürfnis, die Ereignisse des Morgens mit jemandem zu besprechen. Dafür kam natürlich nur Yasemin infrage. Er setzte sich zu ihr.
»Hallo«, sagte sie. »Warst du in der Sonne? Du bist ziemlich rot im Gesicht.«
Adam erzählte von dem Rennen, das er sich mit Gregg geliefert hatte.
Anstatt zu staunen, schüttelte sie nur den Kopf. »Jungs«, sagte sie. »Es wundert mich, dass Männer noch nicht ausgestorben sind. Manchmal fehlt es euch echt an Grips. Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass Claire ihre romantischen Entscheidungen aufgrund eines Skirennens trifft.«
»Nein! Das habe ich doch Gregg auch gesagt.«
»Und wieso fährst du dann trotzdem die Todespiste herunter?«, fragte sie.
Adam stutzte. »Äh … na … das ist doch eine Sache der Ehre.«
»Leben wir im siebzehnten Jahrhundert, oder was? Eigentlich hast du dich noch blöder verhalten als Gregg.«
»Wieso das?«, fragte Adam.
»Na, weil du dein Leben für nichts aufs Spiel gesetzt hast. Gregg hat sich ja immerhin eingebildet, dass er einen Rivalen aus dem Weg schafft. Du hattest rein gar nichts zu gewinnen.«
»Eine Sache habe ich doch gewonnen«, sagte Adam.
»Und was?«, fragte Yasemin.
»Einen neuen Freund.«
Wie auf Kommando lief Gregg in diesem Moment an ihrem Tisch vorbei und winkte Adam zu. »Hi, Renzo!« rief er freundlich.
Adam winkte zurück und grinste Yasemin an. Er machte ein Herzchen aus seinen Fingern und hielt es sich vor die Brust.
»Best friends forever«, sagte er übertrieben cool.
Yasemin konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Irgendwie habe ich’s gewusst«, sagte sie.
»Was?«, fragte Adam.
»Dass ihr zwei euch noch anfreundet. Ihr ähnelt euch wirklich.«
»Auf jeden Fall haben wir den gleichen Geschmack, was Frauen angeht«, sagte Adam. »Oh, das habe ich dir noch gar nicht erzählt. Claire hat mich zu ihrer Silvesterparty eingeladen.«
»Pass bloß auf dich auf«, sagte Yasemin.
»Wenn Buteo auch kommt, bekommen wir bestimmt heraus, was De Laurent plant«, antwortete Adam.
Sein Blick wanderte zur anderen Seite des Speisesaals, wo er Claire entdeckte. Er wollte nichts lieber, als sich zu ihr zu setzen. Sie in den Arm zu nehmen. Über ihr Haar zu streichen …
»Hey, Adam«, sagte Yasemin.
Wie aus einer Trance kam er in die Wirklichkeit zurück. »Hm?«, brummte er und blickte Yasemin an.
»Ich kenne diesen Blick. Ich hoffe, du weißt, was du tust.«
»Klar«, sagte Adam.
»Du kannst es dir nicht erlauben, echte Gefühle für Claire zu entwickeln«, sagte Yasemin. »Sie ist nun mal die Tochter deines Todfeindes.«
»Das ist mir schon klar«, murmelte Adam. Doch er wusste, dass es schon viel zu spät war, um seine Gefühle in den Griff zu bekommen. Er hatte sich längst in sie verliebt.
An diesem Abend traf er sich mit Claire an dem Teich, an dem er damals ihr erstes Date organisiert hatte. Sie küssten sich und liefen Arm in Arm durch den Schnee, einmal rings um das Ufer herum. Sie sprachen über alles und nichts und genossen es, zusammen zu sein.
»Tu mir einen Gefallen«, sagte Claire, als sie sich verabschiedeten. »Es muss nicht jeder wissen, dass wir zusammen sind.«
Adam wollte schon protestieren, doch Claire besänftigte ihn. »Nicht, dass ich mich schäme, oder so. Es ist wegen meines Vaters. Ich weiß nicht, wie er es fertigbringt, doch er scheint immer bestens über jeden meiner Schritte informiert zu sein. Manchmal glaube ich, er lässt mich ausspionieren. Ich möchte dich ganz für mich, Lorenz. Ich möchte ihm erst von dir erzählen, wenn ich dazu bereit bin.«
»Okay«, sagte Adam.
Claire gab ihm einen Kuss.
Adams Herz hüpfte.
Claire ging zuerst zum Internatsgebäude zurück. Sie sah sich noch einmal um, bevor sie um die Ecke des Schlosses bog. Adam wartete kurz und folgte ihr dann. Er kehrte in sein Zimmer zurück. Jonathan saß auf seinem Bett. Er wischte sich über die Augen, als hätte er gerade Tränen vergossen.
»Alles okay mit dir?«, fragte Adam.
»Ja, klar, was soll schon sein?«, antwortete Jonathan in einem bemüht lässigen Tonfall.
»Bist du sicher?«
Jonathan senkte den Kopf. »Ich habe Xenia auf ein Date eingeladen. Sie hat mich abblitzen lassen.«
Adam setzte sich auf seinen Stuhl. »Das tut mir leid.«
»Ich komme mir so dumm vor«, fuhr Jonathan fort. »Warum sollte sie auch mit mir ausgehen? Ich bin doch ein Niemand.«
»So darfst du nicht denken«, sagte Adam. »Niemand ist niemand. Ich helfe dir, okay?«
»Wobei?«, fragte Jonathan.
»Na, mit Xenia.«
»Du kannst mir nicht helfen. Außer, du kannst mich in jemand anderen verwandeln.«
Adam musste schmunzeln. »Kopf hoch, okay?«
Er war durch seinen Abendspaziergang mit Claire so gut gelaunt, dass er seine Freude unbedingt teilen musste.
»Vertrau mir. Wir kriegen das hin.«
»Tut mir leid, wenn ich das anzweifele, aber was verstehst du schon davon? Du bist doch auch nicht gerade ein Frauenheld.«
Adam grinste. »Kannst du ein Geheimnis bewahren?«
»Was?«, fragte Jonathan.
»Ich bin mit Claire zusammen.«
»Was?!«
Jonathan machte große Augen. »Unsere Claire? Claire De Laurent?«
»Ja.«
»Wie hast du das hinbekommen?« Die Bewunderung, mit der Jonathan Adam ansah, tat gut.
»Weißt du, ich bin nicht wirklich der, der ich zu sein scheine.«
Jonathan sah ihn fragend an.
»Das schüchterne Mathegenie ist nur eine Maske.«
»Ich hab’s mir schon gedacht«, sagte Jonathan.
»Warum das?«, fragte Adam.
»Erstens, weil du in Mathe eine Niete bist.«
Adam musste grinsen. »Und zweitens?«
Jonathan zeigte auf das Fantasyposter, das über seinem Bett hing. »Bei Elder Swords gibt es gar keine Ninjas.«
Adam lachte. Es war gut, sich jemandem anvertraut zu haben.
»Und was machst du dann hier?«, fragte Jonathan.
Adam sagte das Erstbeste, was ihm einfiel. »Na ja, meine Eltern sind nicht gerade arm«, gab er vor. »Ich bin eigentlich einer der Fensterplatzsitzer.«
»Verstehe«, antwortete Jonathan.
Adam vermied es, über seine Eltern und die Verbindung zu De Laurent zu sprechen. Doch wenigstens konnte er jetzt jemand anderem von Claire erzählen. Yasemin würde ihn ja nur doch wieder tadeln, wenn er seine Gefühle für sie nicht im Zaum hielt.