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Chamonix, Frankreich

Der Tag der Abreise war gekommen. Adam hatte seinen Koffer gepackt und deponierte diesen im Stauraum des Kleinbusses, mit dem Lohser ihn zum Bahnhof bringen würde. Yasemin war extra früh aufgestanden, um sich von ihm zu verabschieden. »Pass auf dich auf«, sagte sie. »Und schreib mir, sobald du etwas erfährst. Ich kann dir von hier helfen.«

»Mach ich«, sagte Adam. »Und vielen Dank!«

Er umarmte sie zum Abschied und sie drückte ihn fest an sich.

»Mach’s gut«, sagte sie.

Adam stieg in den Kleinbus, und Lohser fuhr aus dem Innenhof heraus in Richtung der Straße. Einige Minuten später waren sie am Bahnhof angekommen. Lohser half Adam, seinen Koffer aus dem Wagen zu hieven, und fuhr dann ins Internat zurück. Adam begab sich zum Bahnsteig. Er wartete auf den Zug, stieg ein und suchte sich ein Abteil, in dem er allein seinen Gedanken nachhängen konnte. Er schrieb eine Textnachricht an Claire, die sie mit einigen Herzchen-Emojis quittierte. Über die Weihnachtsfeiertage hatte er sie sehr vermisst, doch ihm war auch bewusst, dass alles anders sein würde, wenn er den Landsitz der De Laurents erreichte. Er konnte jetzt nicht mehr nur der verliebte Junge sein, der mit seiner Freundin das neue Jahr feierte, er war jetzt wieder der Mann, der den Tod seiner Eltern rächen musste. Auch wenn es das Ende seiner Beziehung mit Claire bedeutete. Er musste auch auf der Hut sein. De Laurent war ein gefährlicher Mann, und wenn er diesen Buteo richtig einschätzte, dann war auch mit ihm und seinen Kunden nicht zu spaßen. Er war auf dem Weg in die Höhle des Löwen.

Die Reise dauerte nur einige Stunden. Der Zug fuhr über Lausanne, durch Genf und über die französische Grenze nach Chamonix. Dort, im Schatten des Mont Blanc, verließ Adam sein Abteil und trat mit seinem Koffer auf den Bahnsteig hinaus. Er blickte gerade zu den Wegweisern hinauf, um den Weg zum Taxistand zu finden, als er eine Hand spürte, die ihm mit voller Wucht auf die Schulter schlug.

»Renzo!«, rief eine wohlbekannte Stimme hinter ihm.

Adam drehte sich um und fand sich Gregg gegenüber. »Gregg?«, fragte er. »Was machst du denn hier?«

»Ich glaube, wir sind aus demselben Grund hier«, sagte Gregg. »Ich bin zu Claires Feier eingeladen.«

Adam runzelte die Stirn. »Ich dachte, wir hätten die Sache geklärt. Du hast das Rennen verloren. Oder hätte ich dich in den Abgrund fallen lassen sollen?«

Gregg grinste. »Nein. Du verstehst mich falsch. Ich bin zwar auf Claires Party eingeladen, aber ich bin nicht wegen ihr hier, sondern wegen Valerie.«

Adam ging ein Licht auf. »Claires Freundin?«

»Ja. Sie konnte meinem Charme nicht widerstehen. Wollen wir uns ein Taxi teilen?«

»Klasse Idee. Wo ist eigentlich Venturi?«

»Ich habe meinen Vater überredet, dass ich keinen Personenschutz mehr brauche. Ehrlich gesagt, hat es mich ein bisschen genervt, dass er mir dauernd auf Schritt und Tritt gefolgt ist.«

»… und ab und zu deine Mitschüler verprügelt hat«, fügte Adam hinzu.

»Das war echt blöd von mir«, sagte Gregg. Er bot Adam entschuldigend die Hand an. Adam schlug ein. Sie liefen zusammen zum Taxistand und luden ihre Koffer in eines der wartenden Autos. Dann setzten sie sich auf die hintere Bank. Adam sagte dem Fahrer die Adresse, und das Taxi fuhr los. Chamonix war ein beschauliches Dorf, durch dessen Mitte sich ein kleiner Fluss schlängelte. Die Skisaison lief gerade auf Hochtouren, und die Gassen waren voll mit Wintersportlern. Reisebusse, die weitere Touristen in die vielen Hotels des Ortes brachten, kamen im Minutentakt im Dorf an. Das Taxi nahm eine Brücke über den Fluss und fuhr dann auf einer Landstraße aus Chamonix heraus. Gregg sah aus dem Fenster. »Wow! Der Mont Blanc ist wirklich eindrucksvoll.«

Adam, der zwar schon einmal zum Skifahren hier gewesen war, musste ihm beipflichten. »Ja. Die Aussicht hier ist wirklich spektakulär.«

Das Taxi fuhr eine Weile die Landstraße entlang und bog dann in eine kleinere Straße ein, die den Berghang hinaufführte. Nachdem es eine Zeit lang bergauf gegangen war, fuhren sie eine Art Plateau entlang, das sich unterhalb des Bergmassivs erstreckte. Der Fahrer drehte sich zu ihnen um und zeigte auf eine große Villa, die in der Ferne auftauchte. »L’Etoile des Glaciers!«, rief er.

Adam blickte aus dem Seitenfenster. Was er sah, ließ ihn staunen. Das Grundstück, auf das sie zufuhren, nahm das gesamte Tal ein. Am Fuß des Bergs stand ein Landsitz, der aus mehreren Gebäuden bestand, deren Fassaden im ländlichen Stil gehalten waren. Sie besaßen großzügige Balkone und hohe Giebeldächer, auf denen sich der Schnee wie Zuckerguss auf einem Lebkuchenhaus türmte. Die einzelnen Häuser waren um einen zentralen Platz angeordnet, auf den das Taxi jetzt fuhr. An der Fassade des Haupthauses stand ein Schriftzug in altmodischen Buchstaben: L’Etoile des Glaciers. Darunter die Jahreszahl 1864. Einem Luxushotel stand diese Behausung in nichts nach. Adam stieg aus, doch ehe er dem Fahrer dabei helfen konnte, sein Gepäck aus dem Kofferraum zu holen, fiel ihm schon jemand von hinten um den Hals. Er drehte sich um.

Claire drückte ihm einen dicken Kuss auf die Lippen. »Ich habe dich so vermisst«, sagte sie und blickte ihn freudestrahlend an.

»Ich dich auch«, antwortete Adam.

»Hey, Claire«, sagte Gregg.

»Ah, ihr seid zusammen angekommen. Wie schön«, antwortete sie und gab ihm jeweils ein Bussi auf beide Wangen.

»Kommt mit, ich zeige euch eure Zimmer.«

Die Jungs folgten Claire in die Eingangshalle des Haupthauses. Adam hatte zwar schon in einigen Luxushotels übernachtet, doch dieses Gebäude war anders. Es hatte nicht die sterile Atmosphäre eines Hotels. Der Kronleuchter und die Möbel waren zwar vom Allerfeinsten, doch sie hatten schon einige Jahre auf dem Buckel. Man konnte fühlen, dass dieser Landsitz seit Jahrzehnten derselben Familie gehörte. In einem offenen Kamin in der Eingangshalle prasselte ein Feuer, das gemütliche Wärme ausstrahlte. Adam und Gregg folgten Claire ins Treppenhaus. Die Treppe und der Handlauf bestanden aus massivem Holz, und die Stufen knarzten bei jedem Schritt wie ein Sargdeckel in einem Horrorfilm. Im dritten Stock betraten sie einen Korridor, von dem einige Türen abgingen. Sie folgten ihm eine Weile, bis Claire an einer Tür hielt.

»Gregg, das ist dein Zimmer«, sagte sie.

Er betrat es. »Ein Doppelbett. Nice!«

»Valerie schläft unten«, fügte Claire hinzu. »Damit ihr nicht auf dumme Gedanken kommt.«

Gregg grinste und schloss seine Zimmertür.

Claire führte Adam zum nächsten Schlafzimmer. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn hinein. »Und hier schläfst du«, sagte sie.

Adam stellte seinen Koffer ab und blickte sich um. »Wahnsinn!«, sagte er staunend.

Wie das Haus selbst, so waren auch die Zimmer in einem ländlichen Stil gehalten. Das große Bett bestand aus Holz, und die Bettdecke sah weich und bauschig aus. Perfekt, um sich in einer kalten Winternacht zu verkriechen. Auf der rechten Seite des Bettes befand sich eine Tür, die zu einem Balkon führte. Gegenüber war der Durchgang zu einem kleinen Badezimmer. Adam betrat den Balkon. Claire folgte ihm. Sie umarmte ihn und küsste ihn erneut.

»Es ist wirklich traumhaft hier«, sagte Adam. Er blickte nach unten. Der Balkon befand sich an der Rückseite des Gebäudes. Hier hatte man eine Aussicht auf den Hang, der hinauf bis ins Alpenmassiv führte. Hoch über ihnen befand sich der Gipfel eines Berges. Hinter dem Haus führte ein Weg in eine Kluft, die genau zwischen zwei Ausläufern des Massivs lag.

»Wo führt der Weg hin?«, fragte Adam.

»Der ist gesperrt«, sagte Claire. »Da kommen öfter Steinlawinen herunter.«

Sie drückte sich an ihn. »Ich habe die ganze Zeit an dich gedacht, Lorenz«, sagte sie.

Adam schloss die Augen. Er wünschte sich nichts mehr, als dass er ihre Gefühle unbeschwert erwidern könnte. Wie schön wäre es, wenn er sich einfach in ihre Liebe fallen lassen könnte, ohne an das zu denken, was ihn hierhergebracht hatte. Doch dann stieg das Bild seiner Eltern in ihm hoch. Was würden sie von ihm denken? Er, hier, im Haus ihres Mörders, mit seiner Tochter verbandelt. Er konnte die Enttäuschung beinahe spüren, die sie ihm entgegenbringen würden.

»Was ist mit dir?«, fragte Claire. »Alles okay?«

Adam rang sich ein Lächeln ab. »Ja, klar!«, sagte er. »Ich bin nur müde von der Reise.«

»Wie unhöflich von mir«, sagte Claire. »Mach dich erst mal frisch. Handtücher findest du im Schrank.«

Adam nickte. Sie gingen wieder in das warme Zimmer.

»Komm nachher einfach runter. Ich bin im Wintergarten, direkt hinter der Eingangshalle.«

»Okay.«

Claire gab ihm einen weiteren Kuss, ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Adam war allein. Er legte seinen Koffer auf das Bett, öffnete ihn und verstaute seine Klamotten im Schrank. Dann ging er ins Bad und nahm eine heiße Dusche. Als er fertig war, zog er sich eine frische Jeans, ein Hemd und einen Pullover an und verließ das Zimmer. Da das Haus schon vor über hundert Jahren errichtet worden war, waren die Gänge und Korridore etwas verwinkelt, sodass er sich mehrmals verlief, bevor er das Treppenhaus gefunden hatte. Er stieg die Stufen hinab. Alles wirkte wie ausgestorben, und er begegnete keiner Menschenseele.

Adam erreichte die Eingangshalle und trat durch eine Doppeltür, die an der Hinterseite in den Wintergarten führte. Dabei handelte es sich um einen Glasanbau, in dem diverse Blumen und Pflanzen aus Beeten und Kübeln wucherten. Eine Seite war ganz einer Sammlung von Orchideen gewidmet. Die kreisrunden Blütenblätter schillerten in allen Farben. Der Duft von Dutzenden Blüten schwebte im Raum und benebelte Adam ein wenig die Sinne. Er hörte hinter sich ein Geräusch und drehte sich um.

Rocco De Laurent stand hinter ihm.