31

Adam zuckte zusammen. Roccos Gesicht war wie versteinert. Sein hellblondes Haar saß perfekt, und er trug einen weißen Strickpullover. Auf Adam wirkte er kalt wie eine Eisskulptur, die zum Leben erweckt worden war. Doch sein eisiger Blick währte nur eine Sekunde. Dann entblößte er seine perfekten Zähne in einem einstudiert wirkenden Lächeln. Seine Augen lächelten nicht mit. »Du musst Lorenz sein. Meine Tochter hat mir schon viel von dir erzählt. Rocco. Rocco De Laurent.« Er streckte Adam die Hand entgegen. Adam nahm sie und schüttelte sie. Rocco zog sie zurück und rieb sich die Hände, als wolle er Adams Berührung von seiner Haut waschen.

»Willkommen auf L’Etoile des Glaciers. Ich hoffe, du fühlst dich hier wie zu Hause.«

Er drehte sich um, und Adam verstand dies als Aufforderung, ihm zu folgen. »Wo kommst du her?«, fragte er.

Adam begann zu stottern und tischte ihm die Geschichte auf, die er mit Yasemin einstudiert hatte. Er verfiel wieder in die Rolle des schüchternen Mathegenies, die er im Internat schon fast wieder abgelegt hatte. Horchte Rocco ihn aus? Schöpfte er Verdacht? Wusste er, mit wem er es wirklich zu tun hatte? Oder wollte er einfach herausfinden, ob dieser in sich gekehrte junge Mann gut genug für seine Tochter war?

»Setz dich doch bitte«, sagte Rocco und deutete auf eine schwarze Bank aus Gusseisen, die neben einem Rosenbeet stand. Adam setzte sich. Die Bank war äußerst unbequem, und das kalte Metall bohrte sich in seinen Rücken. De Laurent stellte sich an ein Pflanzenregal, auf dem mehrere japanische Bonsaibäume aufgereiht waren. Er nahm eine gebogene Pflanzenschere und begann, die dünnen Äste zurechtzuschneiden.

»Was machen deine Eltern?«, fragte er. Er hatte seinen Rücken zu Adam gedreht, und daher konnte er nicht einschätzen, wie Rocco die Frage gemeint hatte. Hatte er ihn entlarvt?

»Mein Vater ist Chemiker, und meine Mutter …« Das Bild seiner Eltern stieg wieder in ihm hoch. Tot. Auf dem Bett des Hotels. »… meine Mutter ist …«

De Laurent hatte ihm immer noch den Rücken zugedreht. Eine Rosenschere lag neben der Bank auf dem Rand des Beets. Warum griff er nicht einfach danach? Rammte sie ihm in den Rücken? Beendete die ganze Scharade.

»… meine Mutter …«

Seine Fingerspitzen strichen über den Rand der Schere.

»Da bist du ja!« Claire kam durch die Tür, die zur Empfangshalle führte. Adam zog seine Hand von der Schere zurück.

Claire nahm seine andere Hand und zog ihn hoch. »Papa, das ist Lorenz«, sagte sie voller Stolz.

Rocco drehte sich um. »Wir haben bereits Bekanntschaft gemacht«, sagte Rocco und entblößte wieder seine Zähne.

Claire drehte sich zu Adam. »Oh, ich hoffe, Papa hat dich nicht zu sehr genervt.«

»Nein, gar nicht«, sagte Adam verlegen.

»Er hat dir sicher die ganze hundertjährige Geschichte von diesem Schuppen aufgetischt.«

»Hundertsechzigjährige Geschichte«, korrigierte Rocco.

»Komm mit«, sagte Claire. »Wir gehen in die Küche und besorgen uns etwas zu essen.«

Rocco blickte zur Tür, wo er jemanden entdeckte. »Ah, Bruno! Ich wollte mit Ihnen noch mal den Ablauf für morgen durchgehen.«

Adam drehte sich um. Sein Herz setzte aus. Dieser Bruno, den Rocco angesprochen hatte und der jetzt in der Tür stand, war niemand anderer als der Glatzkopf, der seine Eltern erschossen und ihn dann durch halb Südfrankreich gejagt hatte. Adam senkte den Blick. Er war sich nicht sicher, ob De Laurent ihn erkannte, doch Bruno hatte ihn mit eigenen Augen gesehen. Halb geduckt ging er mit Claire am Mörder seiner Eltern vorbei und folgte ihr in die Eingangshalle. Dort trafen sie auf Gregg.

»Hast du Hunger?«, fragte Claire.

»Ich sterbe fast!«, antwortete Gregg. »Valerie hat gerade angerufen. Sie sitzt im Taxi.«

»Oh, super!«, antwortete Claire. Sie führte die beiden durch eine weitere Tür in einen Korridor, der an der Küche endete.

»Ich wollte mich noch mal für die Einladung bedanken«, sagte Gregg.

»Gern geschehen«, antwortete sie. »Valerie hätte mir die Freundschaft gekündigt, wenn ich dich nicht eingeladen hätte.«

»Trotzdem nett von dir. Auch wegen der Sache, die zwischen uns war.«

Claire zog eine Augenbraue hoch. »Wie sagt ihr Amerikaner? Water under the bridge. Schwamm drüber.«

Sie betraten die Küche. Sie glich einer Restaurantküche, in der man bequem ein ganzes Bankett zubereiten konnte. Es gab zwei industrielle Gasherde, und in die Wand waren zwei Backöfen übereinander eingelassen. Claire ging zu dem riesigen Kühlschrank hinüber, der neben den Backöfen stand. Er war fast groß genug, um ihn zu betreten. Sie nahm frische Butter und feinsten französischen Aufschnitt heraus. Aus einem Brotkasten nahm sie einen frisch gebackenen Laib und begann, den dreien Sandwiches zu machen. Sie aßen zusammen in der Küche und unterhielten sich über die Ereignisse des Schuljahres.

Greggs Telefon summte, und er blickte auf das Display. »Valerie ist da!«, sagte er und verließ die Küche, um sie in der Eingangshalle abzuholen.

»Es macht dir wirklich nichts aus, dass Gregg hier ist?«, fragte Adam.

»Nein. Die Sache mit ihm … mit uns wäre das nie etwas geworden. Wir passen einfach nicht zueinander.«

»Bist du nicht sauer auf Valerie, dass sie mit deinem Ex-Freund zusammen ist?«

Claire zuckte mit den Schultern. »Ich wusste, dass sie heimlich ein Auge auf ihn geworfen hatte. Wenn es sie glücklich macht …«

Die Tür öffnete sich, und Valerie kam herein. Sie fiel Claire um den Hals. »Claire!«, rief sie. »Ich habe dir so viel zu erzählen …«

Mit ihren Sandwiches und heißem Tee liefen sie zu einer Terrasse, die den Vorplatz überblickte. Sie verbrachten den Rest des Nachtmittags damit, sich zu unterhalten und Pläne für den Silvesterabend zu schmieden.

An diesem Abend war kein großes Dinner geplant, und die vier zogen sich in den Fernsehraum zurück, wo sie sich einen Film ansahen und Snacks aßen. Claire hatte sich an Adams Schulter gekuschelt und war eingenickt. Er blickte zu Gregg hinüber, der in der gleichen Haltung dasaß. Auch Valerie war auf ihm eingeschlafen und schnarchte leise. Gregg grinste ihn an.

»Wir scheinen ja aufregende Gesprächspartner zu sein«, witzelte er.

Adam musste lächeln. Vorsichtig weckten sie ihre Freundinnen. Claire gab Adam einen Gutenachtkuss und zog sich auf ihr Zimmer zurück. Adam, der keine Lust hatte, bei Gregg und Valerie das dritte Rad am Wagen zu spielen, verließ den Fernsehraum. Er lief durch einen der vielen Korridore, die sich durch den Landsitz schlängelten. Sein Blick fiel nach draußen auf den Vorplatz des Hauses. Zwei Gestalten standen dort vor der Eingangstür. Es handelte sich um Rocco und Bruno. Sie schienen auf irgendjemanden zu warten. Adam nahm sich einen Stuhl und setzte sich ans Fenster. Nach einigen Minuten näherten sich die Scheinwerfer eines Autos. Ein weißer Geländewagen fuhr vor, der Adam nur zu bekannt vorkam. Er hatte ihn damals auf dem Parkplatz der Almhütte gesehen. Der Wagen gehörte Buteo, der nun ausstieg und Roccos Hand schüttelte. Sie wechselten ein paar Worte, doch Adam konnte leider nicht hören, was die beiden besprachen. Jetzt fuhr ein zweiter Wagen vor dem Haupthaus vor. Dann näherten sich drei weitere. Es war ein ganzer Konvoi aus Luxuskarossen, die wie bei einem Staatsbesuch nacheinander hielten und ihre Passagiere entließen. Was hatte Rocco damals vorgeschlagen? Bringen Sie Ihre Klienten auf unseren Landsitz mit. Dann können wir Ihre Sorgen aus der Welt räumen. Die Herren, die jetzt aus den Autos stiegen, mussten also Buteos Klienten sein. Als der letzte Wagen den Vorplatz wieder verlassen hatte, betraten Rocco und Buteo die Eingangshalle. Adam musste herausfinden, was diese Typen zu besprechen hatten. So schnell er konnte, lief er die Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Als er das Treppenhaus verließ, hörte er Stimmen, die aus der Eingangshalle zu kommen schienen. Doch er war zu weit weg, um die Worte zu verstehen. Er lief den Korridor entlang und kam an eine Tür, die in den Wintergarten führte. Perfekt! Von dort aus konnte er unbemerkt belauschen, was in der Eingangshalle vor sich ging. Geduckt schlich er zu dem Regal mit den Bonsais, die Rocco am Morgen beschnitten hatte. Er lugte um die Ecke. Im Wintergarten war es dunkel, sodass er sich keine Sorgen machen musste, entdeckt zu werden. In der hell erleuchteten Eingangshalle saßen die Herren, die aus den Autos gestiegen waren. Adam nahm sein Handy aus der Hosentasche und schoss ein paar Fotos der Anwesenden. Vielleicht konnte Yasemin etwas über sie in Erfahrung bringen.

In der Mitte saß ein etwas untersetzter Mann mit einem Vollbart, der eine Nickelbrille trug. Neben ihm stand eine blonde Frau in einem Hosenanzug. Rocco hielt gerade einen Vortrag auf Englisch und die Frau übersetzte seine Worte in eine Sprache, die Adam nicht erkannte. Der Mann nickte, als würde er Roccos Worten zustimmen. Alle Augen im Raum waren auf ihn gerichtet.

»Und deshalb können wir Ihnen garantieren, dass die Ware unbeschadet bei Ihnen ankommen wird«, schloss Rocco seine Ansprache ab.

Die Dolmetscherin übersetzte seine Worte. Rocco wechselte einen nervösen Blick mit Buteo. Sie warteten gespannt auf die Antwort des Brillenträgers. Dieser kratzte sich an seinem Bart. Dann lehnte er sich nach vorn. »Ich will die Produkte sehen«, sagte er in gebrochenem Englisch.

Nun richteten sich alle Augen auf Rocco. »Natürlich«, antwortete dieser. Er deutete auf die anderen Männer, die aus den Autos gestiegen waren.

»Monsieur Buteos Klienten waren so freundlich, uns einige Probeexemplare ihrer Waren zu überlassen. Wir haben eine kleine Demonstration vorbereitet. Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Ich würde vorschlagen, dass Sie ihre Mäntel wieder anziehen, denn es ist äußerst kühl draußen.«

Der Mann mit der Brille hievte sich aus dem Sessel und zog einen Pelzmantel an, den er über die Lehne gelegt hatte. Die anderen Männer taten es ihm gleich. Rocco deutete auf die Tür, die zum Korridor in Richtung der Küche führte. Jetzt setzte sich eine kleine Prozession in Bewegung. Vorweg der Mann mit der Brille, tief im Gespräch mit Rocco und Buteo. Seine Dolmetscherin lief hinter ihm und übersetzte. Dann folgten Buteos Klienten. Sie hatten also eine Kostprobe der Waren für eine Demonstration geliefert. Aber worum handelte es sich dabei? Adam musste es herausbekommen. Er musste jedoch vorsichtig sein, denn ganz hinten lief Bruno, der Bodyguard. Wenn er Adam entdeckte, war alles aus. Adam schnappte sich eine Winterjacke, die an einem Kleiderhaken an der Wand hing, und folgte der Gruppe.

Die Prozession lief durch den Gang zu einer Tür, die auf der Hinterseite des Haupthauses ins Freie führte. Hier befanden sich Geräteschuppen, Abfalltonnen und eine Garage, in der ein Kleinbus und ein Traktor abgestellt waren. Rocco führte seine Gäste an der Garage vorbei und hielt auf den Weg zu, den Adam vom Fenster aus gesehen hatte. Merkwürdig, Claire hatte ihm doch gesagt, dass dieser Weg wegen Steinlawinen gesperrt worden war. Der Kiesweg war vom Schnee befreit worden, und es ging leicht bergauf. Neben dem Weg wuchsen einige Tannen, deren Äste mit Schnee bedeckt waren. Adam nutzte sie als Deckung, um der Gruppe unbemerkt zu folgen. Dabei musste er höllisch aufpassen, dass Bruno ihn nicht entdeckte. Immer wieder ließ der Bodyguard seinen Blick über die Umgebung schweifen. Diese Männer mussten wichtige Leute sein, und Rocco konnte keinen Zwischenfall riskieren. Nach einigen Minuten gelangte die Gruppe an einen Maschendrahtzaun, der das Gelände zwischen den beiden Bergmassiven einzäunte. Der obere Rand war mit Klingendraht versehen. Ein Gatter, das den Weg versperrte, war mit einem dicken Vorhängeschloss gesichert. Rocco hielt an, und Bruno ging zu dem Gatter. Er fischte einen Schlüssel aus seiner Innentasche und öffnete das Schloss. Das Tor schwang auf. Die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung und ging hindurch. Als alle das Gatter durchquert hatten, schloss Bruno es wieder. Er blickte noch einmal zum Landsitz zurück und stieß dann wieder zu der Gruppe.

Adam war ausgesperrt. Vorsichtig näherte er sich dem Drahtzaun. Er hätte es zwar geschafft, an den engen Maschen emporzuklettern, doch an dem messerscharfen Klingendraht würde er sich sicher die Handflächen zerfetzen. Was sollte er tun?

Adam lief an dem Zaun entlang. Zu seiner Rechten ging es steil bergauf und der Zaun folgte dem Verlauf des Bodens. Es war ganz schön mühsam, durch den tiefen Schnee zu stapfen, doch Adam hoffte, dass er irgendwo eine Stelle fand, wo der Zaun oder der Klingendraht ein Loch aufwiesen. Das Glück war nicht auf seiner Seite. Der Zaun war völlig unversehrt. Adam wollte gerade ins Tal zurückkehren, als sein Fuß mit einem Stein kollidierte, der unter der Schneedecke gelegen hatte. Adam stolperte und fiel hin. Er stand auf und klopfte sich den kalten Schnee aus der Kleidung. Der Stein war nun gut sichtbar. Es handelte sich um einen Brocken, der in etwa die Größe seines Kopfes besaß. Adam hob ihn hoch. Wenn es keine elegante Lösung gab, dann musste man es eben mit roher Gewalt versuchen. Er hievte den Stein über seinen Kopf und warf ihn dann mit aller Kraft gegen den Zaun. Es schepperte laut, der Zaun hielt jedoch stand. Adam blickte sich um. Hatte jemand das Geräusch bemerkt? Der Gutshof war zu weit weg, als dass man ihn dort gehört hätte. Er hoffte nur, dass die Gruppe auf der anderen Seite des Zauns auch nichts bemerkt hatte. Adam hatte keine Wahl. Wenn er wissen wollte, was De Laurent im Schilde führte, dann musste er den Zaun überwinden. Er hob den Stein erneut hoch und warf ihn gegen den Zaun. Nach dem dritten Wurf hatte sich das Drahtgewebe bereits deutlich verformt. Adam warf den Stein erneut mit aller Kraft. Der Zaun gab nach. Am unteren Rand bog sich der Draht so zurück, dass ein Zwischenraum entstand. Adam griff nach den Maschen und zog daran. Das Loch wurde größer. Ein letztes Mal riss Adam an dem Draht. Jetzt war der Abstand groß genug, um unter dem Drahtgeflecht hindurchkriechen zu können. Adam bückte sich und kroch auf allen vieren auf die andere Seite des Zauns. Er stand auf und rannte los. Wenn er nicht zu spät kommen wollte, musste er sich beeilen.

Adam lief den Berghang hinab zurück zu dem Weg, auf dem die Gruppe verschwunden war.