33

Es war der 31. Dezember. Adam stand auf, duschte sich und zog sich an. Er ging zum Speisesaal hinunter, wo das Frühstück serviert wurde. In dem großen Raum waren mehrere Tische verteilt, an denen die Gäste der De Laurents saßen. Adam hielt sich von Rocco, Buteo und den anderen Verschwörern fern und ging zu Claire, die an einem Fensterplatz saß. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Gut geschlafen?«, fragte sie.

Adam nickte bloß. In seinem Kopf wälzte er immer wieder die Erkenntnisse hin und her, die er durch Yasemins E-Mail gewonnen hatte. Er war einem internationalen, illegalen Waffengeschäft auf der Spur, das seine Eltern mit dem Leben bezahlt hatten.

»Maman!«, rief Claire plötzlich.

Eine blonde Frau war an ihren Tisch getreten. Adam schätzte sie auf Ende dreißig. Sie wirkte zerbrechlich wie eine Porzellanfigur.

»Lorenz, ich möchte dich meiner Mutter Monique vorstellen. Maman, das ist mein Freund Lorenz.«

Adam stand auf und lächelte. Er gab ihr die Hand. Sie nahm sie, doch als er ihr in die Augen blickte, beobachtete er etwas Merkwürdiges. Sie stutzte. Es war nur ein Moment, doch Adam hätte schwören können, dass sie ihn erkannt hatte. Aber woher? Er war Monique De Laurent doch noch nie über den Weg gelaufen.

Claires Mutter überspielte ihre Überraschung und lächelte dünn. »Freut mich«, sagte sie auf Französisch. Sie ließ die beiden allein und ging zu ihrem Mann hinüber, der im Kreise seiner Handelspartner saß und Small Talk hielt.

»Wir fahren heute Abend mit dem Schlitten ins Dorf, um uns das Feuerwerk anzusehen!«, sagte Claire. »Das wird sicher wahnsinnig romantisch.« Sie lächelte ihn an.

Adam tat sein Bestes, ihr Lächeln zu erwidern. Ihm wurde klar, dass seine Beziehung zu Claire bald zu Ende gehen würde. Sobald er wusste, was genau De Laurent plante, musste er von hier fliehen. Er würde Claire nie wiedersehen. Der Gedanke gefiel ihm ganz und gar nicht.

»Ist hier noch Platz für uns zwei?« Gregg und Valerie waren an den Tisch getreten.

Claire zog den Stuhl neben sich zurück, und Valerie nahm dort Platz.

Gregg setzte sich neben Adam. »Ob man hier auch gescheiten Frühstücksspeck und Spiegeleier bekommt?«, fragte Gregg und rieb sich die Hände.

Die vier verbrachten den letzten Tag des Jahres damit, die Umgebung zu erkunden. Sie machten einen Spaziergang über das Land, das zu dem Gutshof gehörte. Claire führte sie über die verschneiten Wiesen zu einem Hang, von dem man eine tolle Aussicht über das Tal hatte. Danach gingen sie zum Landsitz zurück und machten sich für den Abend fertig. Nach einem Galadinner mit acht Gängen liefen die Gäste des Hauses auf den Vorplatz, wo mehrere Pferdeschlitten auf sie warteten. Adam, Claire, Gregg und Valerie setzten sich in einen der Schlitten. Sie hielten sich mit Lammfelldecken warm, die Adam unglücklicherweise an die Demonstration der Landminen erinnerte, deren Zeuge er letzte Nacht geworden war. Der Pferdeschlitten setzte sich in Bewegung, und Trauben von Glöckchen, die am Zaumzeug der Zugtiere befestigt worden waren, begannen zu klingen. Es war der perfekte Wintertraum, doch Adam war nicht zum Träumen zumute.

Claire kuschelte sich an ihn. »Es ist so wunderschön«, sagte sie.

Das war es auch. Doch Adam konnte es nicht genießen. Nach etwa einer halben Stunde hielten die Pferde auf einer Wiese an, von der aus man das Tal und die Stadt Chamonix überblicken konnte. Hier waren bereits Stühle und Bänke aufgestellt worden. In Eiskübeln stand feinster Champagner bereit. Die Gäste stiegen aus und setzten sich auf die Sitzgelegenheiten. Die Stimmung war ausgelassen. Bis Mitternacht waren es nur noch ein paar Minuten. Irgendwer gab Claire und Adam je ein Glas Champagner, und Valerie hatte einige Wunderkerzen dabei, die sie nun entzündeten.

Claire legte Adams Arme um ihren Körper und kuschelte sich an ihn. »Ich glaube, das ist das schönste Silvester, das ich je erlebt habe«, flüsterte sie ihm zu.

»Für mich auch«, antwortete er.

Irgendwer begann die Sekunden bis Mitternacht herunterzuzählen. »Zehn … neun …«

Was für ein verrücktes Jahr. Vor zwölf Monaten war Adam ein sorgloser junger Mann gewesen, dem es an nichts gefehlt hatte und der das Leben in vollen Zügen genossen hatte.

»Acht … sieben …«

Der Tod seiner Eltern hatte ihn abrupt aus diesem Leben gerissen. Er sah sie jetzt wieder vor seinem geistigen Auge, wie sie in ihrem eigenen Blut lagen.

»Sechs … fünf …«

Seit diesem Moment war er auf der Flucht gewesen, hatte seine Identität verloren, war mehrmals nur knapp mit dem Leben davongekommen.

»Vier … drei …«

Und es war die Schuld eines einzigen Mannes gewesen.

Rocco De Laurent.

Er würde sich rächen. Das schwor er sich.

»Zwei … eins …«

Er blickte den Mann an, der sein Leben zunichtegemacht hatte. Und als hätte dieser Adams Augen auf seinem Hinterkopf gespürt, drehte er sich genau in diesem Moment zu ihm um. Eiskalt starrte er Adam an.

»Null … Frohes Neues Jahr!«

Aus dem Dorf stiegen Feuerwerksraketen in die Luft, die die Nacht mit knallbuntem Licht erhellten. Es krachte und ratterte, und überall wurden Lieder angestimmt. Doch Adam und Rocco sangen nicht mit. Sie blickten sich über die Menge hinweg in die Augen. Die Herzen beider Männer waren mit kalter Verachtung gefüllt.

»Frohes neues Jahr, Lorenz!«, sagte Claire und drehte sich zu ihm um. Adam brach den Augenkontakt mit Rocco ab. Sie gab ihm einen langen, sanften Kuss.

»Frohes neues Jahr, Claire«, erwiderte er.

Gregg hatte in die Zwischenräume seiner Finger sechs Wunderkerzen gesteckt und tanzte nun vor Valerie herum, die einen Lachanfall bekam.

»Frohes neues Jahr, mein Schatz.« Rocco war zu Adam und Claire herangetreten und stieß nun mit seiner Tochter an. Dann hielt er Adam sein Glas hin.

»Lorenz?«, sagte er.

Adam stieß mit ihm an. Rocco lächelte kalt. Dann ging er zu Sariyev und Gavião hinüber. Adam versuchte, über das Krachen der Feuerwerkskörper zu verstehen, was die beiden da besprachen.

»So ein Feuerwerk werden Sie bald auch entfachen können«, sagte Rocco zu Sariyev. Als dieser die Übersetzung gehört hatte, lachte er laut auf und klopfte De Laurent freundschaftlich auf die Schulter.

Das Feuerwerk im Dorf endete mit einem lauten Knall, und ein roter Funkenregen ergoss sich wie Blut über den Himmel. Die Gäste klatschten laut Beifall. Dann gingen sie zu ihren Schlitten zurück und stiegen ein.

»War das nicht herrlich?«, fragte Claire.

»Großartig«, sagte Valerie. »So etwas habe ich noch nie erlebt.«

»Du bist so still«, bemerkte Claire an Adam gewandt.

»Es war wirklich etwas ganz Besonderes«, sagte Adam.

Zurück auf dem Landsitz veranstalteten die De Laurents eine Feier. Eine Liveband spielte im Speisesaal Coverversionen bekannter Hits, und Claire, Adam, Gregg und Valerie tanzten ausgelassen dazu. Es war schon fast drei Uhr morgens, als Adam beobachtete, wie Rocco seine Gäste aufforderte, ihm zu folgen.

»Ich muss mich mal eben frisch machen«, sagte Adam und wollte gerade in Richtung der Toiletten verschwinden. Doch Claire ließ ihn nicht gehen. »Diesen Tanz noch«, sagte sie.

Sie legte ihre Arme um Adam und blickte ihm tief in die Augen. Zusammen wiegten sie sich im Takt des romantischen Songs. Sie küssten sich tief und lange. Das Lied endete, und die Band spielte eine schnellere Nummer. Adam ließ von Claire ab und ging in Richtung des Korridors, in dem Rocco mit seinen Geschäftspartnern verschwunden war. Einige Servicekräfte in schwarzen Uniformen liefen hier herum, doch von Rocco und den anderen war nichts zu sehen. Adam folgte dem Gang um eine Ecke, aber der Korridor dahinter lag in völliger Dunkelheit da. Adam durchquerte ihn und trat durch die Tür an seinem Ende ins Freie. Leise Musik drang aus dem Speisesaal, wo die Party immer noch in vollem Gange war. Adam ging in die Mitte des Platzes und betrachtete das Haupthaus. Außer im Speisesaal brannte noch in der Küche Licht. Doch dann entdeckte er, dass auch von der Rückseite eines Nebengebäudes ein schwacher Lichtschein kam. Adam ging um die Ecke und sah ein hell erleuchtetes Fenster. Er schlich sich näher heran und blickte hinein. De Laurent und die Verschwörer hatten sich in einem geräumigen Billardsalon versammelt. Sie hatten sich in bequemen Ledersesseln niedergelassen, tranken Brandy aus schweren Kristallgläsern und rauchten Zigarren. In einem offenen Kamin prasselte ein Feuer. Rocco stand in der Mitte des Raumes. Seine Hände waren auf einen Billardtisch gestützt, der mit rotem Filz ausgelegt war. Er hielt wieder mal eine Ansprache. Adam musste unbedingt hören, was er zu sagen hatte. Er schlich sich zu einer Tür, die ins Innere des Nebenhauses führte, und ging einen Korridor entlang. Eine Doppeltür mit Glasfenstern gab den Blick auf den Billardsalon frei. Adam konnte es nicht riskieren, durch das Fenster zu spähen. Ein kurzer Blick eines Anwesenden würde genügen, um ihn zu entdecken. Stattdessen stahl er sich in ein Nebenzimmer des Billardsalons, das in völliger Dunkelheit dalag. Er kroch zu einer Verbindungstür und blickte durch das Schlüsselloch. Der große Billardtisch war genau in seinem Blickfeld. Adam hielt den Atem an und lauschte De Laurents Worten.

»… und so bleibt uns nur noch, alles unter Dach und Fach zu bringen. Monsieur Sariyev, wenn ich bitten darf.«

Sariyev, der in einem Sessel beim Kaminfeuer gesessen hatte, stand auf und ging zu Rocco hinüber. Er griff in die Innentasche seines Sakkos, nahm einen teuren Füllfederhalter und ein Scheckbuch heraus und legte Letzteres auf den Filz des Tisches. Mit einer beschwingten Armbewegung schrieb er seinen Namen und einen Betrag auf den Scheck. Er trennte diesen aus seinem Scheckbuch und händigte ihn De Laurent aus. Prompt standen die versammelten Herren auf, klatschten Beifall und hoben dann ihre Gläser in die Luft.

»Auf Agamemnon!«, rief Rocco.

»Agamemnon!«, stimmten die anderen mit ein.

Sie tranken.

Rocco nahm den Scheck an sich. Mithilfe einer Büroklammer heftete er ihn an ein Dokument, das auf dem Billardtisch lag.

»Jetzt, da alles unter Dach und Fach ist, sollten wir zu der Party zurückkehren«, sagte De Laurent. »Wir wollen ja keine Aufmerksamkeit durch unsere Abwesenheit erzeugen.«

Die Anwesenden standen auf und verließen das Zimmer, dicht gefolgt von De Laurent und Gavião, die sich freundschaftlich die Arme um die Schultern gelegt hatten. Adam wartete, bis sich die Stimmen der Herren entfernt hatten, und schlich sich dann aus seinem Versteck. Er öffnete die Tür zum Billardsalon, blickte nach links und rechts, um sicherzustellen, dass die Luft rein war, und ging dann zu dem Billardtisch. Das Dokument, das Rocco hinterlassen hatte, lag auf dem roten Filz. Adam sah es sich an. Die Zahl auf dem Scheck, den Sariyev unterzeichnet hatte, ließ ihm die Kinnlade herunterfallen. Vor lauter Nullen war dem Kommandanten fast der Platz ausgegangen. Das Papier, an dem der Scheck heftete, war jedoch viel interessanter. Es handelte sich um einen Frachtbrief. Adam überflog ihn. Der Name des Schiffes stach Adam sofort ins Auge: Agamemnon. Das war es also, worauf die Männer getrunken hatten.

»Adam Cassel.«

Adam fuhr herum.

Rocco stand in der Tür.

Auf seinem Gesicht lag ein Grinsen.

In seiner Hand hielt er einen Revolver.

»Willkommen auf L’Etoile des Glaciers