Adam öffnete die Augen. Es war Tag, die Sonne schien ihm ins Gesicht, doch ihm war eiskalt. Langsam setzte er sich auf und legte die Arme um seinen Körper. Ein kalter Wind blies. Adam blickte sich um.
Sofort erkannte er, wo er sich befand.
Vor ihm wuchsen zwei Berge in den Himmel, in deren Mitte ein Kiesweg hindurchführte. Er saß genau in der Mitte des Talkessels, in dem die Demonstration der Antipersonenminen stattgefunden hatte. Gut fünf Meter von ihm entfernt, zu seiner Rechten, lag der Kadaver eines der Schafe, das durch die Druckwelle der Mine zerfetzt worden war.
Sofort vergaß Adam die Kälte.
Ihm wurde bewusst, dass in der Erde rings um ihn herum weitere Minen vergraben worden waren. Wenn er einen Schritt in die falsche Richtung tat, würde ihn das gleiche Schicksal wie das Schaf ereilen.
Er blickte sich um. Außer ihm war keine Menschenseele zu sehen. Wenn er es heil aus diesem Minenfeld schaffte, konnte er unbemerkt vom Landsitz der De Laurents entkommen. Er schaute sich genauer um. Vielleicht konnte er auf dem Boden irgendwelche Abdrücke entdecken, die ihm einen Hinweis auf die Platzierung der Minen geben könnten. Doch über Nacht war frischer Schnee gefallen, und die weiße Decke war, außer an seinem eigenen Standort und den Plätzen, wo die Schafskadaver lagen, unversehrt. An der Seite, an der in jener Nacht die Zuschauer gestanden hatten, war noch der Generator abgestellt, der den Scheinwerfern Strom geliefert hatte. Drei dicke schwarze Kabel führten von diesem Generator zu den großen Gerüsten, auf denen die Scheinwerfer installiert worden waren. Diese Gerüste standen an drei gegenüberliegenden Seiten des Tals.
Adam folgte einem der Kabel mit seinem Blick. Es lief von dem Generator quer über das Minenfeld auf die andere Seite. Wenn er es erreichen konnte, konnte er vielleicht daran ziehen und das Gerüst zum Umstürzen bringen. Er musste es versuchen. Doch wie sollte er das Minenfeld überqueren, ohne selbst in die Luft gejagt zu werden? Der einzige Ort, an dem er sicher sein konnte, dass dort keine Mine mehr vergraben war, war sein eigener Standort. Konnte er irgendeinen Gegenstand in weitem Abstand auf den Boden werfen, um so zu testen, ob dort eine Mine vergraben war? Doch er hatte nichts bei sich, das dafür geeignet wäre. Sollte er es trotzdem wagen, einen Schritt zu tun? Er hob seinen Fuß an und ließ ihn vorsichtig einige Zentimeter neben sich in die Schneedecke sinken. Er wagte es kaum, zu atmen. Millimeter für Millimeter ließ er seinen Fuß auf den Boden nieder. Er spürte gefrorenes Gras. Adam schloss die Augen und verlagerte sein Gewicht auf den Fuß.
Nichts geschah. Erleichtert atmete er aus. So würde er jedoch nie an den Rand des Minenfeldes gelangen. Die Chance, auf eine Mine zu treten, wurde mit jedem Schritt größer. Adam blickte sich erneut um. Hatte er vielleicht etwas übersehen? Irgendetwas, das ihm einen Hinweis auf die Platzierung der Minen geben konnte? Und dann kam ihm eine Idee. Die Schafe! Sie hatten schließlich die Minen ausgelöst. Dort, wo ihre Kadaver lagen, waren also ganz sicher keine weiteren Minen mehr vergraben. Doch das Schaf, das ihm am nächsten lag, war fünf Meter von ihm entfernt. So weit konnte er nicht springen, jedenfalls nicht ohne Anlauf. Er musste also hinter sich einen kleinen Pfad freilegen, um Schwung für seinen Sprung zu holen. Mit der Fußspitze räumte er vorsichtig den Schnee beiseite. Darunter kamen gefrorene Grashalme zum Vorschein. Adam wusste nicht, ob man die vergrabenen Minen an der Oberfläche sehen konnte. Er schätzte jedoch, dass diese unterirdisch deponiert wurden. Wenn man sie von der Oberfläche aus sehen konnte, wären sie ja wirkungslos. Er musste es also riskieren, einen Fuß nach dem anderen ins Gras zu setzen. Vorsichtig ging er los. Mit jedem Schritt, den er tat, schlug sein Herz schneller. Erst, als er am Ende seines kurzen Pfades angekommen war, wagte er es, auszuatmen. Er drehte sich um. Vor ihm lag eine freie Fläche von etwa drei Metern, auf der er Anlauf nehmen konnte, um dann fünf Meter weit zu springen. Das war fast schon eine olympische Distanz. Doch je näher er an den Kadaver des Schafes heransprang, desto kleiner war die Chance, dass sich dort eine Mine verbarg. Schließlich waren die Minen mit großer Wahrscheinlichkeit gut auf dem Feld verteilt worden, um sicherzustellen, dass eines der Schafe eine Detonation auslösen würde.
Es hatte keinen Sinn, weitere Zeit zu verschwenden. Adam musste es einfach versuchen. Er stellte sich ans Ende seines Pfades, atmete dreimal tief durch und rannte los. Mit einem riesigen Satz sprang er auf den Schafskadaver zu. Es reichte nicht ganz und er kam gut einen Meter vor dem toten Tier auf. Doch er hatte Glück. Er landete an einer Stelle, an der scheinbar keine der Minen vergraben worden war. Mit einem weiteren Hüpfer beförderte er sich zu den Überresten des Schafs. Trotz der Kälte stieg ihm ein beißender Verwesungsgeruch in die Nase. Das Blut des Schafs hatte den Schnee rot gefärbt. Der Kopf lag einige Meter neben dem Rest des Tieres. Adam schloss die Augen und versuchte, das Bild aus seinen Gedanken zu verdrängen. Er konzentrierte sich auf das Stromkabel, das knapp außerhalb seiner Reichweite lag. Es führte zu dem Gerüst auf der gegenüberliegenden Seite, an dessen oberen Ende einer der Scheinwerfer hing. Die Basis des Gerüsts war mit Sandsäcken beschwert. Adam griff nach dem Kabel und zog daran. Es war etwa so dick wie ein Gartenschlauch und für den Einsatz im Freien gefertigt. Adam wickelte das Kabel auf, sodass es bei seinen Füßen einen Haufen bildete. Bald hatte er so viel des Kabels aufgewickelt, dass es sich zwischen ihm und dem Gerüst spannte. Adam zog mit aller Kraft, doch das Gerüst war so schwer, dass es sich keinen Zentimeter bewegte. Adam legte das Kabel ab, um Kräfte zu sparen. Dann hob er es erneut an und zog daran, so fest er konnte. Dieses Mal spürte er ein leichtes Nachgeben. Rhythmisch zog Adam wieder und wieder an dem Kabel. Es funktionierte. Das Gerüst begann, langsam vor- und zurückzuwippen. Es quietschte laut, als würde es protestieren. Adam riss im Takt an dem Kabel, seine Muskeln brannten. Das Gerüst lehnte sich vorwärts und wippte dann zurück. Noch ein Zug musste genügen. Mit aller Kraft zog er ein letztes Mal an dem Kabel. Unaufhaltsam kippte das schwere Metallgerüst nach vorn. Adam nahm Anlauf und sprang in letzter Sekunde auf die Stelle zurück, wo er aufgewacht war. Einen Augenblick später krachte es hinter ihm. Das Gerüst war dort aufgekommen, wo er eben noch gestanden hatte. Wenn Adam nicht gesprungen wäre, hätte es ihn unter sich begraben. Adam stand auf … und wurde einen Augenblick später wieder von den Beinen gefegt.
Zwei donnernde Explosionen erschütterten das Tal. Das umgestürzte Gerüst hatte zwei der Minen ausgelöst, die unter dem Schnee begraben waren. Unsanft landete Adam im Schnee. Stahltrümmer regneten auf ihn und das Feld herab. Eine Metallstange flog auf ihn zu. Adam versuchte, sich zu ducken, doch er schaffte es nicht rechtzeitig, dem fliegenden Trümmerteil auszuweichen. Die Stange traf ihn mit voller Wucht am Kopf. Seine Haut platzte auf, und Blut rann über seine Stirn. Adam biss die Zähne zusammen und setzte sich auf.
Eine Rauchschwade hing im Talkessel. Das Gerüst war der Länge nach hingefallen und hatte so eine Art Brücke gebildet, über die er das andere Ende des Talkessels erreichen konnte. Adam verlor keine Zeit. Auf dem Landsitz hatte sicher jemand die Explosionen gehört. Selbst wenn De Laurent davon ausging, dass Adam sich selbst in die Luft gesprengt hatte, würde er früher oder später jemanden schicken, um nachzusehen. Adam musste dann schon – buchstäblich – über alle Berge sein, wenn er nicht erneut in die Fänge des Reeders geraten wollte. Er sprang zu dem Gerüst zurück und kletterte über die Stahlstreben zum anderen Rand des Tals. Er durchquerte das Gatter, durch das Bruno die Schafe getrieben hatte, und gelangte auf eine Schneefläche, die in einem Fußweg mündete. Der schmale Pfad führte dort den Berg hinauf. Adam hastete diesen Pfad entlang, bis der Talkessel in seinem Rücken hinter einer Biegung verschwunden war.