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Hamburg, Deutschland

Die Reise nach Deutschland verlief ohne Zwischenfälle. Adam schlief die meiste Zeit. Vor dem Fenster wichen die schneebedeckten Berge und Täler der Alpen bald den flachen bayerischen Feldern, auf denen der Schnee wie Puderzucker lag.

»Nächster Halt: Wolfsbach«, rauschte die Stimme des Lokführers aus den Lautsprechern des Waggons. Adam stand auf und lief zum Ausgang. Als der Bahnsteig seines Heimatdorfes vor den Fenstern erschien, bremste der Zug ab. Adam stieg aus. Vorsichtig blickte er sich auf dem Bahnhof um, doch es war niemand zu sehen, der irgendwie verdächtig aussah. Wie beim letzten Mal, als er nach seinem Abenteuer in Südfrankreich hier angekommen war, ging er über Umwege nach Hause. Aus sicherer Entfernung beobachtete er einige Zeit das Haus seiner Eltern. Nichts regte sich. Auf der Straße parkten keine verdächtigen Fahrzeuge und auch sonst war niemand zu sehen.

Adam kletterte über den Gartenzaun und lief geduckt zum Haus. Durch die Kellertür gelangte er ins Innere. Auch wenn er davon ausging, dass ihn niemand beobachtet hatte, wollte er so wenig Zeit wie möglich in seinem Elternhaus verbringen. Er lief die Treppe hinauf ins Schlafzimmer seiner Eltern. Seine Mutter war eine passionierte Leserin gewesen, und neben dem Bett stand ein Bücherregal, in dem sich die Bücher angesammelt hatten, die sie reihenweise verschlungen hatte. Adam wusste, dass sie in einem bestimmten Buch immer ein wenig Geld für Notfälle aufbewahrt hatte. Mit dem Finger suchte er die Buchrücken ab, bis er den richtigen Titel gefunden hatte. Er zog die etwas zerfledderte Ausgabe des Romans Bonjour Tristesse aus dem Regal und schlug sie auf. In der Mitte fand er einige Euroscheine. Diese steckte er ein und stellte das Buch zurück an seinen Platz. Dann verließ er das Schlafzimmer. Als Nächstes betrat er sein eigenes Zimmer. Er öffnete seinen Kleiderschrank und füllte eine Sporttasche mit den nötigsten Klamotten. Bevor er den Reißverschluss zuzog, warf er noch ein Ladekabel für sein Handy in die Tasche. Er wollte gerade wieder in den Keller zurückgehen, als er am Arbeitszimmer seines Vaters vorbeikam. Irgendetwas bewog ihn dazu, es noch einmal zu betreten. Alles war so, wie er es bei seinem letzten Besuch hinterlassen hatte. Gerade wollte er wieder gehen, als sein Blick auf das Regal fiel, das neben dem Schreibtisch stand. Zwischen einigen gerahmten Bildern, die auf der Oberseite des Regals standen, befand sich auch ein schwarzes Etui. Er nahm es von dem Regal herunter und öffnete es. Das Fernglas seines Vaters kam zum Vorschein. Dieses würde in Hamburg sicher von Nutzen sein. Adam steckte es in die Sporttasche und ging in den Keller zurück. Er verließ das Haus, lief geduckt durch den Garten und ging durch die Stadt zum Bahnhof zurück, wo er ein Ticket nach Hamburg kaufte. Wenig später stieg er in die Bahn und aß die Brötchen, die er in Sankt Stephan gekauft hatte. In München wechselte er in den ICE nach Hamburg.

Sechs Stunden später fuhr der Schnellzug im Hauptbahnhof der Hansestadt ein. Adam stieg aus, lief den Bahnsteig entlang und nahm die Rolltreppe hinauf zur Wandelhalle. Nach einem kurzen Blick auf den Fahrplan fuhr er eine Rolltreppe am Ende der Halle wieder hinunter. Sie führte zum Bahnsteig der S-Bahnen. Adam wartete einige Minuten und stieg dann in die S1. Eine kurze Fahrt später erreichte diese den Bahnhof Landungsbrücken. Adam stieg aus und lief über eine Straßenbrücke zu der Flaniermeile, die sich am Ufer der Elbe erstreckte. Hier lagen Fischrestaurants und Cafés dicht gedrängt am Ufer der Nordelbe. Mehrere kleinere Schiffe boten Hafenrundfahrten an. Adam kaufte sich ein Ticket, lief über die Gangway an Bord des kleinen Dampfers und setzte sich auf einen freien Platz des Aussichtsdecks. Gegenüber der Flaniermeile, auf der anderen Seite des Flusses, befanden sich die Ladedocks des Hamburger Hafens. Bunte Container waren hier wie riesige Legosteine aufeinandergetürmt. Lastkräne, die die meisten Gebäude der Stadt weit überragten, stapelten die Container in einem perfekt choreografierten Tanz aufeinander oder luden sie auf die Decks der Frachtschiffe, die an den Kaimauern mit Stahlseilen festgezurrt waren. Zwischen den riesenhaften Containern wuselten kleine Hafenarbeiter herum, die man durch ihre gelben Helme und orangeroten Uniformen sehr gut erkennen konnte. Die Agamemnon war nicht unter den Schiffen, die an den ihm zugewandten Docks lagen. Adam hoffte, dass er das Schiff der Reederei De Laurent bei der Hafenrundfahrt irgendwo auf dem Gebiet entdecken würde. Der Touristendampfer tutete laut und setzte sich dann behäbig in Bewegung. Außer Adam hatte sich nur ein einziges Pärchen auf dem Aussichtsdeck niedergelassen. Das war kein Wunder, denn hier oben wehte eine eiskalte Brise.

Mit einem lauten Knistern meldete sich der Lautsprecher des Schiffes. Die Stimme des Kapitäns erklang und begann Daten und Fakten über das Hafengelände herunterzurattern. Adam hörte nicht hin. Er zog das Fernglas seines Vaters aus seiner Sporttasche und blickte hindurch. Ein Lastkran auf der anderen Seite des Hafens war gerade dabei, einen Container in die Luft zu heben. Adam konnte beobachten, wie ein Hafenarbeiter die Halteseite überprüfte und dann per Walkie-Talkie das Okay gab, die Last anzuheben. Adam setzte den Feldstecher ab. Das Schiff tuckerte auf einen Kanal zu, der sich zwischen zwei Docks hindurchschlängelte. Es beschrieb eine Kurve um ein kleineres Frachtschiff und bog dann in das hintere Hafenbecken ein. Das Gebirge aus Containern teilte sich und gab den Blick auf einen riesigen Koloss frei, der dahinter angelegt hatte. Die untergehende Sonne ließ das goldene Band an seinem Rumpf hell erstrahlen. Der schwarze Schriftzug am Heck ließ keinen Zweifel zu: Agamemnon.

Er hatte Roccos Frachter gefunden.

Der kleine Dampfer näherte sich dem mächtigen Schiff. Adam nahm den Feldstecher wieder zur Hand und blickte hindurch. Akribisch suchte er das Schiff und den Vorplatz ab, um sich einen Überblick über die Sicherheitsvorkehrungen zu machen. Er wunderte sich nicht, dass sowohl auf dem Deck des Frachters als auch auf dem Dock mehrere Gestalten postiert waren, die von Kopf bis Fuß in schwarzer Kampfausrüstung steckten. Jeder von ihnen trug ein Sturmgewehr an einem Riemen über der Schulter. Auf den seitlich abstehenden Teilen des Brückendecks standen weitere Wachposten, die mit Ferngläsern die Umgebung absuchten. Sofort ließ Adam seinen Feldstecher sinken. Er wollte auf keinen Fall dabei erwischt werden, wie er den Frachter ausspionierte. Er beschloss, unter Deck zu verschwinden. Schließlich hatte er das erreicht, was er mit dieser Hafenrundfahrt bezwecken wollte: den Lageplatz der Agamemnon ausfindig zu machen. Er lief die Treppe hinab und öffnete die Tür in den Salon. Hier war es deutlich wärmer als auf den windigen Plätzen auf dem Dach. Adam dachte nach. Wenn er sich an Bord schleichen und die versteckten Waffen finden wollte, dann musste er mehr über die Sicherheitsvorkehrungen am Hafengelände erfahren, doch er durfte selbst dabei auf keinen Fall entdeckt werden. Wie sollte er das anstellen?

Nach einer halben Stunde legte der Touristendampfer wieder an der Flaniermeile der Landungsbrücken an. Adam ging von Bord und kehrte zur S-Bahn-Station zurück. Dort studierte er die Umgebungskarte und den Netzplan. Er musste auf die andere Seite des Hafens gelangen, wenn er das Gelände auskundschaften wollte. Er fand eine Buslinie, die ihn dort absetzen würde, und plante seine Route. Dann stieg er in die S-Bahn ein. Beim S-Bahnhof Wilhelmsburg stieg er in den Bus um, der ihn einige Minuten später im Zentrum des Hafengeländes absetzte. Die Sonne war bereits untergegangen, und die Containerberge wurden von großen Flutlichtern erleuchtet, die an hohen Türmen installiert waren. Adam schlug die Richtung ein, in der er die Agamemnon vermutete. Er lief zwischen riesenhaften Hallen, Fabriken und Bürokomplexen umher, die in grauen Betonblocks untergebracht waren. Ab und zu fuhr ein Lastwagen mit einem Container an ihm vorbei. Durch eine Lücke zwischen einem Kran und einem Containerstapel konnte er die Agamemnon erspähen, die nun von Tausenden kleinen Lampen erleuchtet wurde. Bei Nacht wirkte sie noch eindrucksvoller – wie ein Raumschiff, das im Wasser gelandet war.

Adam wollte sich dem Frachter nähern, doch er kam nicht weit. Das Dock, an dem er lag, war ringsherum mit einem großen Zaun gesichert, der aus dunkelgrünen Stahlstreben bestand, die meterhoch in den Himmel ragten. Die Oberseite war mit Klingendraht versehen. Dort hinüberzuklettern war aussichtslos. Der Zugang des Docks war mit einem Schlagbaum versperrt, an dem ein Sicherheitsmann in einem Wachhäuschen stand. Adam duckte sich hinter eine Tonne und zog den Feldstecher aus seiner Tasche. Er blickte hindurch. Ein Sattelschlepper fuhr auf die Schranke zu. Der Wachmann kam mit einem Clipboard bewaffnet aus dem Häuschen und ging zur Fahrerseite des Lasters hinüber. Der Fahrer zeigte ihm eine Sicherheitskarte, die der Wachposten mit einem Lesegerät scannte. Er wartete einen Moment, ging in das Häuschen zurück und öffnete dann die Schranke. Kurze Zeit später kam ein weiterer Hafenarbeiter zu Fuß an den Durchgang. Dieser trug eine ähnliche Sicherheitskarte an einem Riemen um den Hals. Als er an das Fußgängertor kam, hielt er die Karte an ein Lesegerät, das am Zaun angebracht war, und das Tor öffnete sich automatisch. Adam setzte sein Fernglas ab. Wenn er das Gelände betreten wollte, musste er sich so eine Karte besorgen. Doch selbst das half ihm nichts, wenn er sich auf dem Dock nicht auskannte. Er wollte auf keinen Fall einem Wachposten in die Arme laufen. Irgendwie musste er das Gebiet hinter dem Zaun ausspionieren, bevor er es selbst betrat.

Adam gähnte. Er fühlte, wie die Müdigkeit ihn übermannte. Kein Wunder, schließlich war er den ganzen Tag unterwegs gewesen. Vor sechzehn Stunden hatte er noch mit Yasemin in der Schweiz gefrühstückt. Er beschloss, sich eine Bleibe für die Nacht zu suchen.

Eine Stunde später lag er auf dem Bett eines Mittelklassehotels in St. Pauli. Von der Straße drang laute Musik und Stimmengewirr zu ihm hoch. Die Neonreklame des Hotels warf bunte Lichtreflexe an die Wand über seinem Bett. Eine Luxusunterkunft war dies wirklich nicht, doch das Zimmer war sauber und preiswert. Adam zog sein Handy aus der Tasche, das er während der Fahrt nach Hamburg hatte aufladen können, und rief Yasemin an.

Sie meldete sich nach dem ersten Klingeln. »Bist du gut angekommen?«, fragte sie.

»Es war ein langer Tag«, antwortete Adam und unterdrückte ein Gähnen. Er schilderte ihr, was er am Hafen beobachtet hatte.

»Ich muss an so eine Sicherheitskarte kommen«, sagte er. »Kannst du mir damit helfen?«

»Hm … da muss ich mich mal schlaumachen«, sagte Yasemin nach einer Pause. »Ich melde mich morgen früh, okay?«

Adam verabschiedete sich und stopfte sein Handy unter das Kopfkissen. Sekunden später war er eingeschlafen.