Am nächsten Morgen erwachte Adam mit knurrendem Magen. Er verließ das Hotel und setzte sich in eine Bäckerei. Während er an einem Croissant knabberte, rief er Yasemin an.
»Ich glaube, ich habe eine Lösung«, sagte sie. »Diese Sicherheitskarten funktionieren mit RFID-Chips. Das ist eine Art Mini-Radiotransmitter. Das Signal kann man klonen. Es ist jedoch nicht ganz einfach. Diese Kloner sind verboten, deshalb musst du dir selbst einen bauen. Ich maile dir die Anleitung. Die Bauteile bekommst du in jedem Elektronikmarkt.«
»Super!«, sagte Adam. »Vielen Dank!«
Sie verabschiedeten sich, und Adam legte auf. Sekunden später brummte sein Handy. Die Bauanleitung war in seinem E-Mail-Postfach angekommen. Adam verzehrte den Rest seines Croissants und lief dann zur U-Bahn-Station. In der Innenstadt betrat er einen Elektronikfachhandel, in dem er die Bauteile zusammensuchte. Außerdem kaufte er noch einen Lötkolben mit Lötzinn und ein schwarzes Plastikgehäuse mit zwei Druckknöpfen. Als er gerade an der Kasse bezahlen wollte, fiel sein Blick auf ein Regal an der gegenüberliegenden Wand. Jetzt wusste er auch, wie er das Hafengelände unauffällig auskundschaften konnte.
Adam war an den Hafen zurückgekehrt. Er hatte sich einen versteckten Platz hinter einer Lagerhalle gesucht, wo er sich ungestört hinsetzen konnte. Er öffnete den Karton des Geräts, das er in dem Elektronikmarkt gekauft hatte. Er grinste. Das Ding war ziemlich cool. Es handelte sich um eine Drohne, die etwa die Größe eines Tellers hatte und aus weißem Plastik bestand. Vier Rotoren sorgten für genügend Auftrieb, und eine Kamera an der Unterseite lieferte ein Videosignal direkt an ein Display in der Fernsteuerung. Er setzte die Drohne auf den Boden und schaltete sie ein. Dann drückte er den Power-Knopf auf der Fernsteuerung. Das Display, das in sie eingelassen war, erwachte zum Leben und zeigte eine Nahaufnahme des Asphaltbodens, auf dem die Drohne stand. Das Gerät war flugbereit. Etwas störte Adam jedoch. Kleine Positions-LEDs, die in das Plastikgehäuse eingelassen waren, leuchteten grellrot auf. Nicht gerade ideal für eine Spionageaktion. Adam nahm einen handgroßen Stein, der auf dem Asphalt lag, und hämmerte vorsichtig auf die Lämpchen ein, bis diese den Geist aufgaben. Jetzt war er bereit, die Drohne zu starten. Adam drückte den Steuerknüppel nach oben und das Fluggerät hob leise sirrend ab. Er verbrachte ein paar Minuten damit, sich an die Steuerung zu gewöhnen, dann schickte er die Drohne in Richtung des Docks los, an dem die Agamemnon beladen wurde.
Der Minihubschrauber gewann schnell an Höhe und schwebte hoch über dem Hafengelände. Das leise Sirren der Rotorblätter wurde von den lauten Geräuschen der Ladedocks überdröhnt. Adam sah auf das Display. Unter der Drohne erschienen der Stahlzaun und die Absperrung, die Adam bei seinem gestrigen Besuch entdeckt hatte. Er überflog sie und hielt auf das Frachtschiff zu, das an der Hafenmauer angedockt hatte. Der Ozeanriese wirkte aus der Vogelperspektive wie ein Spielzeugschiff, doch dann entdeckte er die Seemänner, die an Deck zwischen den Containern hin und her liefen. Sie waren klein wie Ameisen. Auf der Agamemnon hätte ein ganzes Dorf Platz gefunden. Adam senkte die Drohne etwas ab, um sich die Besatzung näher anzusehen. Er wollte genau wissen, mit wie vielen der bewaffneten Wachen er es zu tun hatte. Allein am Bug zählte er fünf der schwarz gekleideten Männer. Zwischen den Containern patrouillierte ein weiteres Dutzend, und auf dem Dach der Brücke hatte sich ein Scharfschütze mit einem Präzisionsgewehr postiert. Am Heck waren sechs weitere Wachposten abgestellt. Eine überdachte Gangway führte vom Deck des Schiffes aufs Festland hinab. Am Eingang dieser Landungsbrücke standen zwei Bodyguards. Rocco schien bei der Sicherung seiner Ladung kein Risiko eingehen zu wollen. Selbst wenn Adam durch das Eingangstor kam, hatte er keinen Schimmer, wie er sich bei diesem Aufgebot von Wachen an Bord des Schiffes schmuggeln sollte.
Adam ließ die Drohne wieder in die Höhe steigen und kreiste über dem Gebiet. Sechs der Kräne, die nah am Ufer des Docks standen, ragten mit ihren Ladearmen über das Deck des Frachtschiffs hinaus. Wenn er es schaffte, einen dieser Kräne zu erklimmen, konnte er sich vielleicht zu dem Schiff abseilen. Es war die einzige Möglichkeit. Die Gangway war viel zu gut bewacht.
Adam wollte mit der Drohne schon zurückfliegen, als er einen Lichtschein auf dem Vorplatz bemerkte. Er näherte sich mit dem Fluggerät und blickte auf das Display. Zwei schwarze Geländewagen waren vorgefahren und hatten vor dem Schiff geparkt. Außerdem hatte ein Kleinbus dort gehalten, auf dessen Schiebetür das Logo eines Lokalsenders zu sehen war. Ein Kamerateam und eine Reporterin standen auf dem Dock. Der Lichtschein, den Adam entdeckt hatte, ging von einer Leuchte aus, die auf der Kamera angebracht war. Und im Schein dieser Leuchte stand Rocco De Laurent.
Der Kragen seines Trenchcoats war hochgeschlagen, und er grinste in die Kamera. Neben ihm stand eine Dame in einer Daunenjacke. Rocco hielt einen übergroßen Scheck in der Hand, der mit dem Logo seiner Reederei versehen war. Er schüttelte die Hand der Dame, und sie schienen Nettigkeiten auszutauschen. Dann deutete er mit dem Finger nach oben. Die Kamera schwenkte hinauf. Adam justierte die Position seiner Drohne, sodass die Kamera den Himmel über dem Frachter einfing. Dort schwebte, an Stahlseilen hängend, ein blauer Container, auf dessen Seite das weiße Logo der UNICEF prangte. Der Container senkte sich langsam in den Bauch des Frachters.
Adam hatte genug gesehen. Er ließ die Drohne zurückfliegen und setzte sie sanft vor sich auf den Boden ab. Er packte den Minihubschrauber wieder in seine Box und ging zur Bushaltestelle zurück. Bevor er ins Hotel zurückkehrte, machte er noch in einem Sportfachgeschäft halt. Er kaufte ein Kletterseil mit Haken, einen neongelben Helm und eine grellorange Schutzweste. Er hoffte, dass er mit dieser Verkleidung unbemerkt ins Hafengelände eindringen konnte. Als er wieder in seinem Zimmer angekommen war, schaltete er den kleinen Fernseher ein, der in der Ecke stand. Er stellte den Lokalsender ein, der das Interview mit Rocco gemacht hatte. Mit etwas Glück würde es in den Abendnachrichten laufen. Dann setzte er sich an den etwas wackeligen Schreibtisch, der neben dem Bett stand. Vorsichtig legte er sich die Bauteile zurecht, die er im Elektronikmarkt gekauft hatte. Er steckte das Stromkabel des Lötkolbens in die Steckdose und begann, mithilfe der Anleitung, die Yasemin ihm geschickt hatte, den RFID-Kloner zusammenzubauen. Adam war alles andere als ein Elektronikbastler, und es dauerte ein wenig, bis er den Umgang mit dem Lötkolben einigermaßen beherrschte. Entscheidend war es, genau die richtige Menge Lötzinn zu verwenden, um die Bauteile zusammenzulöten. Zu wenig, und die Verbindung hielt nicht, zu viel, und man lief Gefahr, durch einen großen Tropfen Zinn einen Kurzschluss auszulösen.
Als es draußen schon düster wurde, ertönte die Fanfare einer Nachrichtensendung aus dem kleinen Lautsprecher des Fernsehers. Adam blickte auf den Bildschirm. Zuerst verlas der Nachrichtensprecher internationale Meldungen aus Politik und Wirtschaft, doch dann begann der Beitrag, auf den Adam gewartet hatte. Das Hamburger Hafengelände wurde gezeigt, und auf einmal blickte Adams Erzfeind ihn aus dem Fernseher heraus an.
Rocco sprach in einem warmen Tonfall mit französischem Akzent. »Es ist für mich und meine Organisation eine Ehre, unsere Kapazitäten für diesen guten Zweck zur Verfügung zu stellen«, begann De Laurent. »Ich bin von diesem Programm so überzeugt, dass ich noch mal zehn Millionen Euro meines eigenen Vermögens dazugebe.«
Die Kamera schwenkte auf den Scheck, den Rocco nun der Dame neben ihm überreichte.
»Sehen Sie, dort oben. Da werden in diesem Moment die Lebensmittellieferungen verladen, die in diesem Teil der Welt so bitter notwendig sind.«
Jetzt sah man den Container, der im Laderaum der Agamemnon verschwand. Und in diesem Moment wusste Adam genau, welches Spiel Rocco da spielte. Die Waffen, die er an Sariyev lieferte, waren genau in diesem Container gelagert. Er war sich sicher, dass Rocco sie dort versteckt hatte. Wer würde schon eine Lieferung von Lebensmitteln für bedürftige Kinder überprüfen? Es war ein perfekter Plan. Herzlos und zynisch, aber perfekt. Genau wie Rocco De Laurent selbst.
Adam wendete sich wieder seinem Bastelprojekt zu und verbaute die letzten Teile. Dann setzte er die fertige Platine in das schwarze Plastikgehäuse und legte zwei Batterien ein. Das Prüflämpchen auf der Außenseite leuchtete grün auf. Darunter waren ein roter und ein grüner Knopf angebracht. Die Funktionsweise des Kloners war denkbar einfach. Man brachte das Gehäuse mit einem RFID-Chip in Kontakt und drückte dann den roten Knopf. Damit legte man das Signal im Speicher ab. Durch Drücken des grünen Knopfes konnte man dieses Signal wieder aussenden, um zum Beispiel eine Tür zu öffnen, die mit dem RFID-Code gesichert war. So weit so gut, doch Adam wollte sichergehen, dass das Gerät auch funktionierte. Er nahm die Schlüsselkarte seines Hotelzimmers, die auch mit einem RFID-Chip versehen war, aus seinem Geldbeutel und hielt sie an den Kloner. Dann drückte er den roten Knopf. Das Lämpchen leuchtete einmal auf. Adam nahm die Schlüsselkarte, ging aus dem Zimmer und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Dann blickte er nach links und rechts den Gang hinunter, um sicherzugehen, dass er nicht beobachtet wurde. Schließlich wollte er nicht als Hoteldieb verhaftet werden. Er nahm den Kloner und hielt ihn an das RFID-Schloss der Zimmertür. Dann drückte er den grünen Knopf. Das Schloss öffnete sich mit einem Klicken. Es funktionierte! Adam grinste und betrat sein Zimmer. Jetzt war alles dafür bereit, die Agamemnon zu infiltrieren.