Es war kurz nach sechs Uhr morgens, als Adam am nächsten Tag auf dem Hafengelände aus dem Bus stieg. Er trug die orange Weste und den gelben Helm, die er sich gestern gekauft hatte. Das Seil und der RFID-Kloner befanden sich in der Sporttasche, die er um die Schultern trug. Er lief zu dem Eingang des Docks. Jetzt musste er irgendwie an eine der Sicherheitskarten kommen, die die Hafenarbeiter bei sich trugen. Er blickte sich um. Nach einigen Minuten kam eine kleine Gruppe von ihnen aus dem Gelände gelaufen und spazierte auf dem Gehsteig zu einem kleinen Hafenrestaurant, das sich auf der anderen Straßenseite befand. La Paloma stand auf dem Schild über der Tür. An der Wand hing eine Tafel, auf der mit Kreide ein Frühstücksmenü angeschrieben worden war. Die Arbeiter gingen hinein. Adam folgte ihnen. Er öffnete die Tür und betrat die Gaststube. Stimmengewirr und der Duft von frischem Kaffee schlugen ihm entgegen. Die Hafenarbeiter ließen sich gerade an einem Tisch am Fenster nieder. Adam beobachtete, wie einer der Männer seine Jacke abnahm und über die Lehne seines Stuhls hängte. Seine Sicherheitskarte war mit einem Clip an der Brusttasche der Jacke befestigt. Das war Adams Chance.
Er näherte sich dem Tisch, an dem die Männer nun bei einer Kellnerin ihr Frühstück bestellten. Adam setzte sich so hin, dass er den Tisch der Arbeiter im Rücken hatte. Seine Lehne war nur Zentimeter von der Lehne des Mannes entfernt, der seine Jacke abgenommen hatte. Jetzt stand dieser auf und ging in Richtung der Toiletten, die durch einen Gang neben der Küche zu erreichen waren. Unauffällig griff Adam hinter sich und zog an der Jacke des Mannes. Sie rutschte von der Lehne und fiel zu Boden. Adam stand auf. Er bückte sich, hob die Jacke mit einer Hand auf und hielt mit der anderen den Kloner, den er aus seiner Sporttasche genommen hatte, an die Sicherheitskarte. Er drückte den roten Knopf und ließ ihn sofort wieder in der Tasche verschwinden. Dann hielt er die Jacke hoch.
»Entschuldigung«, sagte er. »Gehört die Jacke Ihnen? Die ist auf den Boden gefallen.«
Die Männer bedankten sich, und Adam verließ das Lokal. Er hoffte, dass sein Trick funktioniert hatte und dass das Signal der Sicherheitskarte in seinem Kloner gespeichert worden war. Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Er lief zum Eingang des Docks zurück. Das Fußgängertor befand sich genau neben dem Häuschen, wo der Wachmann die einfahrenden Laster kontrollierte. Adam wartete ab. Der Mann kannte sicher die Gesichter der Arbeiter, die hier Tag für Tag ein und aus gingen. Adam musste warten, bis der Wachmann abgelenkt war, um das Hafengelände zu betreten. Einige Minuten verstrichen. Ein großer Sattelzug bog in die Hafenstraße ein und hielt in der Durchfahrt. Das war Adams Chance! Er passte genau den Augenblick ab, als der Sicherheitsmann an die Fahrertür des Lasters trat, und lief dann hinter ihm vorbei. Er rief ihm ein knappes »Moin!« zu und ging so schnell er konnte zu dem Fußgängertor. Jetzt kam es drauf an. Wenn der Kloner nicht funktionierte, war alles umsonst gewesen. Er hielt die Plastikbox an den RFID-Leser, schickte ein Stoßgebet in den Himmel und drückte den grünen Knopf.
Nichts geschah.
Adams Herz begann zu klopfen. Er drückte den Knopf ein zweites Mal. Hinter ihm stieg der LKW-Fahrer zurück in sein Fahrzeug und der Laster fuhr an.
»Kann man helfen?«, fragte der Sicherheitsmann.
Adam spürte, wie er nervös wurde. Er stellte sich so hin, dass er dem Mann den Blick auf die Box versperrte, die er an den Leser hielt. Dann drückte er ein drittes Mal auf den grünen Knopf.
»Alles klar?«, hörte er die Stimme des Wachmanns, jetzt nur noch Zentimeter hinter sich.
Das erlösende Klicken des Schlosses ertönte. Adam drückte gegen das Tor und betrat das Gelände. Hinter ihm fiel die Tür wieder ins Schloss. Der Wachmann nickte und ging zurück in sein Häuschen. Adam lief weiter, ohne sich noch einmal umzusehen. Er wollte nicht, dass der Wachposten an der Durchfahrt auf die Idee kam, ihm zu folgen. Er ging an einer breiten Straße entlang, die quer durch das Containergebirge führte. In der Mitte der Straße befand sich ein Mittelstreifen, auf dem an dicken hohen Säulen Flutlichter angebracht waren, die das Gelände bei Nacht erleuchteten. Die Containerstapel zu seiner Rechten wurden von der Brücke der Agamemnon überragt. Jetzt setzte eine kühle Brise ein, und es begann zu regnen.
Adam blickte nach links und rechts und lief dann über die Straße. Er musste zu einem der Kräne gelangen und dann hoffen, dass er es irgendwie schaffte, sich zum oberen Teil hinaufzuschleichen. Auf der anderen Straßenseite angekommen, lief er durch eine enge Gasse, die von zwei Containerstapeln gebildet wurde. Die beiden Stapel standen so dicht beieinander, dass er etwas seitlich gedreht gehen musste, um sich hindurchzuzwängen. Als er auf der anderen Seite ankam, befand er sich direkt unter einem der riesigen Kräne. Zwischen den Beinen der Kräne führte eine weitere Straße hindurch, auf der Gabelstapler und Lastwägen unermüdlich hin- und herfuhren. Die Arme der Kräne ragten über die Ladefläche der Agamemnon hinaus, wo sie die riesigen Container in Position brachten. Die Kräne standen auf Schienen, die es ihnen erlaubten, seitlich am Ufer entlangzufahren.
Ein Kleinbus hielt unter dem Kran, der ihm am nächsten war. Drei Männer mit gelben Helmen stiegen aus und gingen die Straße entlang in Richtung eines Häuschens, das neben den Containern stand. Adam wartete, bis sie außer Sichtweite waren, und schlich sich dann zu dem Bein des Krans. An der Außenseite führte eine Leiter mit Rückenschutz in die Höhe. Eine Art Käfig an der Rückseite der Sprossen verhinderte, dass man abstürzte, wenn man den Halt verlor. Adam prüfte mit einem letzten Blick seine Umgebung, dann kletterte er daran empor. Die Sprossen waren vom Regen rutschig, und er musste aufpassen, dass er nicht abrutschte. Es dauerte einige Minuten, bis Adam oben angekommen war. Hier führte ein Gang zum Führerhäuschen des Krans. Da dieser Kran im Moment nicht in Betrieb war, war das Häuschen unbesetzt. Adam lief den Gang entlang. Er blickte aus einem der Fenster und war erstaunt, wie weit er sich über dem Boden befand. Von unten hatte es gar nicht so hoch ausgesehen. Er erreichte das Führerhäuschen. Anstatt hineinzugehen, kletterte er jedoch aufs Dach der kleinen Kabine. Von hier aus konnte er mühelos auf den großen Arm steigen, der über das Frachtschiff ragte. Adam zog sich auf den Stahlträger hinauf. Die Windböen, die durch das Hafengelände fegten, waren hier oben noch stärker. Außerdem kam noch der Regen hinzu, der nun langsam zunahm. Die Oberseite des Trägers war nicht dafür konzipiert worden, dass man daran entlanglief. Es gab weder ein Geländer noch einen Boden mit Profil, der einen davor bewahrte, auszurutschen. Adam versuchte aufzustehen, doch die nasse Oberfläche war so glitschig, dass er beinahe in die Tiefe stürzte. Er hielt inne und überlegte es sich anders. Auf dieser glatten Ebene zu laufen grenzte an Selbstmord. Außerdem war das Risiko groß, dass jemand ihn vom Boden aus entdeckte. Stattdessen legte er sich der Länge nach auf den Stahlbalken und robbte langsam vorwärts. Das sichere Dach der Führerkabine und die Straße, die am Ufer entlanglief, tauchten unter ihm auf. Wenn er jetzt herunterfiel, würde man seine Überreste mit einem Spachtel entfernen müssen. Eine Windböe zerrte an ihm. Reflexartig klammerte Adam sich an den kalten Stahl. Er atmete durch. Jetzt nur nicht in Panik geraten. Er wartete, bis der Wind nachließ, und robbte dann weiter. Jetzt befand er sich über dem Deck des Schiffes. Die Agamemnon war so hoch beladen, dass die Container beinahe bis zu ihm hinaufreichten. Adam warf einen Blick auf die Brücke, die am anderen Ende des Schiffes in die Höhe wuchs. Dort, an der Seite der Brücke, die über den Rand des Schiffes ragte, war der Scharfschütze postiert, den er mit der Drohne entdeckt hatte. Er drehte sich in Adams Richtung um. Adam hielt inne. Wenn der Mann jetzt durch sein Zielfernrohr sah, war er geliefert. Der Schütze hielt sich das Gewehr an die Schulter und legte an.
Adams Herz klopfte bis zum Hals. Er versuchte sich nicht zu bewegen. Der Gewehrlauf des Scharfschützen hob sich. Er deutete auf das Ende des Krans. Jetzt bewegte der Schütze den Lauf nach rechts, sodass er Adam bald entdecken würde. Adam musste handeln, wenn er nicht entdeckt werden wollte. Er blickte nach unten in den Zwischenraum der beiden Stahlträger, aus denen der Kran bestand. Genau unter ihm war eine Querstrebe angebracht, die die beiden Arme miteinander verband. Der andere Arm verdeckte den Blick des Scharfschützen. Die Strebe war jedoch nur etwa einen halben Meter breit und einen Meter unter ihm. Er musste versuchen, hinunterzuspringen.
Adam ließ sich mit den Beinen voraus auf die Strebe hinunter. Dabei unterschätzte er jedoch erneut, wie glatt die Stahloberfläche vom Regen war. Er rutschte mit dem Fuß ab und taumelte. Seine Beine glitten über den Rand der Strebe, und er fiel hinab. Im letzten Moment gelang es ihm, sich mit den Armen an die Querstrebe zu klammern. Langsam zog er sich hoch. Er legte sich auf die Strebe und atmete durch. War er entdeckt worden? Er konnte es nicht überprüfen, denn von hier aus war sein Blick auf den Scharfschützen verdeckt.
Adam wartete einige Minuten, dann stand er vorsichtig auf, indem er sich an dem stählernen Arm hochzog. Er kletterte hinauf und blickte zu dem Scharfschützen hinüber. Dieser hatte sein Gewehr wieder gesenkt. Adam atmete durch. Das war gerade noch mal gut gegangen.
Vorsichtig robbte er auf das Ende des Krans zu. Als er es fast erreicht hatte, blickte er hinunter. An dieser Stelle stapelten sich die Container auf dem Deck der Agamemnon so hoch, dass der Abstand zu dem Arm des Krans nur ungefähr fünf Meter betrug. Er konnte zwar nicht hinunterspringen, da er mindestens ein verstauchtes Fußgelenk riskieren würde, doch mithilfe des Seils, das er sich besorgt hatte, konnte er den obersten Container sicher erreichen. Er holte das Kletterseil aus seiner Sporttasche und warf ein Ende um den Arm des Krans. Auf der anderen Seite holte er es ein und verknotete es sicher. Er zog daran, um die Festigkeit des Knotens zu testen, und ließ sich dann daran hinab. Adam schlang beide Beine um das Seil und konnte so die Geschwindigkeit des Abstiegs kontrollieren. Sekunden später erreichte er das Dach des Containers und warf sich sofort flach auf den Boden. Er wollte es nicht riskieren, dass einer der Scharfschützen ihn hier entdeckte. Jetzt war er zwar an Bord der Agamemnon, doch das Deck des Schiffes befand sich immer noch meterweit unter ihm. Irgendwie musste er von diesem Containerturm hinabklettern. Er robbte an den Rand. Neben diesem befand sich ein weiterer Stapel, der jedoch eine Containerhöhe kleiner war. Da es sonst nirgendwo eine Leiter oder eine Treppe gab, blieb Adam keine andere Wahl. Er stand auf, lief an die gegenüberliegende Seite des Containers, auf dem er gelandet war, und nahm Anlauf.
Er sprang. Unsanft kam er auf dem Dach des anderen Containers auf und rollte sich ab. Der Aufprall presste ihm die Atemluft aus der Lunge. Er würde wohl ein paar blaue Flecken davontragen.
Sofort rappelte sich Adam auf und sah sich um. Jetzt befand er sich zwar auf einem niedrigeren Stapel, doch eine Leiter oder eine Treppe gab es auch hier nicht. Adam saß fest. Er drehte sich zu dem Stapel zurück, von dem er gerade heruntergesprungen war. Der Abstand zwischen den beiden Containertürmen betrug nur etwa einen halben Meter. Er blickte in den Zwischenraum hinab. Jetzt kam ihm eine Idee. Er setzte sich an den Rand seines Containers, sodass seine Beine über dem Abgrund baumelten. Dann streckte er ein Bein und einen Arm aus und stemmte sich gegen die Wand des anderen Containerstapels. Vorsichtig ließ er sich in den Zwischenraum hinab. Jetzt stemmte er sich mit Armen und Beinen zwischen die Container. Langsam und vorsichtig wie eine Spinne kletterte er so in dem Zwischenraum hinab. Es war äußerst mühsam, und seine Muskeln begannen zu schmerzen. Als er die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, entdeckte er einige Meter unter sich eine Leiter, die an dem Stapel hinab bis auf den Boden führte. Adam kletterte zu ihr und stellte sich auf die oberste Sprosse. Für einen Moment musste er innehalten. Langsam ließ der Schmerz in seinen Armen und Beinen nach. Er blickte nach unten – und erstarrte. Ein Mann lief in der Gasse zwischen den Containerstapeln hindurch. Er war maskiert und trug ein schwarzes Sturmgewehr über der Schulter. Glücklicherweise hatte er Adam nicht bemerkt. Von jetzt an musste er noch vorsichtiger sein. Wenn diese Wachen ihn entdeckten, würden sie nicht zögern, ihn mit Blei vollzupumpen.
Jeder Schritt konnte sein letzter sein.