Adam wartete, bis die Wache um die nächste Ecke verschwunden war. Dann kletterte er die Sprossen bis zum Boden hinunter. Er nahm seinen Helm und seine orange Weste ab. Die grellen Farben hatten ihm auf dem Hafengelände eine gewisse Tarnung verliehen, doch für eine Geheimaktion waren sie viel zu auffällig. Darunter hatte sich Adam einen schwarzen Pullover und eine schwarze Hose angezogen, die es ihm erlaubten, mit den Schatten zu verschmelzen. Er schlich sich zu der Ecke, hinter der der Wachmann verschwunden war. Dicht an die Containerwand gedrängt, wagte er einen Blick in die Gasse. Der Mann mit dem Sturmgewehr hatte ihm den Rücken zugekehrt und entfernte sich schlendernd von ihm. Adam konnte durchatmen. Er hatte es an Deck der Agamemnon geschafft. Jetzt musste er nur noch den UNICEF-Container ausfindig machen. Da er beobachtet hatte, wie dieser verladen worden war, hatte Adam zumindest einen Anhaltspunkt, wo er mit der Suche beginnen musste. Der Kran hatte den blauen Container in den Laderaum des Schiffes gehoben. Die Öffnung des Laderaums befand sich in der Nähe der Brücke. Auf diese hielt Adam nun zu.
Er lief die Gasse entlang, die in ihre Richtung führte. Nach kurzer Zeit gelangte er an eine T-Kreuzung, an der der Gang an einem Geländer endete. Er sah über den Rand des Geländers nach unten. Jetzt erst bemerkte er, dass er sich gar nicht am Boden des Schiffes befand, sondern auf einer Zwischenplattform, auf der die Container aufgestapelt waren. Unter der Plattform war ein Zwischenraum, der es einem erlaubte, alle Bereiche des Schiffes zu Fuß zu erreichen. Adam war sich sicher, dass dort unten die meisten Wachen ihre Runden drehten. Er musste herausfinden, wo genau sie sich aufhielten, wenn er ihnen ausweichen wollte. Am Fuß des Geländers war eine Lücke, durch die sein Oberkörper gerade so hindurchpasste. Adam legte sich bäuchlings hin, robbte vorwärts und zwängte seinen Kopf und seine Schultern durch den Zwischenraum. Dann beugte er sich vor, hielt sich mit den Händen am Geländer fest und schob seinen Kopf so weit über den Rand der Plattform, dass er einen Blick auf das eigentliche Deck des Frachters werfen konnte. Sein Kopf hing im Geschoss unter ihm wie eine merkwürdige Fledermaus von der Decke herab. Zwei Wachen standen rechts von ihm an einer der Stahlsäulen, die die Plattform trugen. Sie hatten ihm den Rücken zugewandt und unterhielten sich. Adam zog seinen Kopf wieder nach oben, bevor diese ihn bemerken konnten. Er stand auf. Der Gang der T-Kreuzung verlief quer über die gesamte Breite des Schiffes, und Adam entschied sich nun für die Richtung, die von den beiden Wachen unter ihm wegführte. Er ging bis ans Ende des Ganges. Dort befand sich eine Treppe, die zu der Gasse hinunterführte, die auf der unteren Etage an der Längsseite des Schiffes verlief. So leise wie möglich ging Adam die Treppenstufen hinunter. Ihre Oberfläche bestand aus einem Metallgitter, das ziemlich schepperte, wenn man mit voller Wucht darauf trat. Er kam unten an und drehte sich in Richtung der Brücke. Adam erstarrte. Keine drei Meter vor ihm stand einer der Wachposten. Glücklicherweise war er gerade damit beschäftigt, genüsslich an seiner Zigarette zu ziehen und dabei aufs Wasser zu schauen, sonst hätte er Adam sofort entdeckt. Adam glitt zu Boden und versteckte sich unter der Treppe, die er gerade hinabgelaufen war. Durch seine schwarze Kleidung war er zwar einigermaßen getarnt, doch wenn der Wachposten die Treppe hinaufgehen und dabei nach unten sehen würde, war Adam geliefert. Er hielt die Luft an. Die Schritte des Wachmanns näherten sich. Zuerst dachte Adam, dass der Mann an der Treppe vorbeigehen würde, doch dann überlegte dieser es sich anders. Adam lag auf dem Rücken und blickte durch die Gitter, aus denen die Treppenstufen bestanden. Der Mann trat auf die erste Stufe. Ein Blick nach unten, und alles war aus. Adams Puls pochte in seinem Gehörgang. Der Mann blieb stehen. Hatte er Adam entdeckt? Eine Schrecksekunde lang war Adam überzeugt, dass er aufgeflogen war. Doch dann ließ der Mann seine noch glimmende Zigarettenkippe fallen. Er stieg mit dem Fuß darauf, um sie auszudrücken, was zur Folge hatte, dass diese durch ein Loch in der Treppenstufe auf Adams Gesicht fiel. Die Glut der Zigarette brannte auf seiner Wange. Er biss die Zähne zusammen, um keinen Schmerzenslaut von sich zu geben, und wischte sich die Kippe vom Gesicht. Der Mann setzte seinen Aufstieg fort und betrat die obere Plattform. Wenn Adam diese nur eine Minute später verlassen hätte, wäre er dem Mann direkt in die Arme gelaufen.
Er wartete einige Sekunden, bis die Schritte des Mannes verhallt waren, dann kroch er aus seinem Versteck hervor und stand auf. Leise huschte er am Rand des Schiffes entlang. Jedes Mal, wenn er an eine der Gassen kam, die seitlich über das Schiff führten, lugte er um die Ecke, um sicherzugehen, dass ihm niemand über den Weg laufen würde.
Die Brücke des Schiffs, die wie ein weißes Gebäude aus Stahl vor ihm in den Himmel ragte, kam immer näher. Als er ihren Fuß schon fast erreicht hatte, tat sich zu seiner Linken eine Lücke in den Containern auf. Hier befand sich eine offene Luke, durch die man in das Unterdeck des Schiffes blicken konnte. Der Laderaum war in mehrere Sektionen unterteilt, die wie übergroße Regalreihen wirkten. Die Container waren dort übereinander mithilfe vertikaler Schienen aufgestapelt. Das Ganze wirkte auf Adam wie eine riesenhafte Version des Spiels Vier gewinnt, bei dem die Chips durch Container ersetzt worden waren. Zwischen den einzelnen Containerreihen befanden sich offene Treppenaufgänge, über die man selbst die untersten Container erreichen konnte. Irgendwo da unten war der UNICEF-Container verstaut worden, in dem Adam die Waffen vermutete. Eine Luke neben der Öffnung des Laderaums führte zu einer der Treppen. Adam öffnete diese und fand eine Leiter, die er hinunterstieg. Sie führte zum ersten Untergeschoss des Laderaums. Die Fronten der obersten Großraumbehälter waren gut sichtbar, und Adam ging die Reihe von links nach rechts ab, um den markanten blauen Container zu finden. Im ersten Untergeschoss hatte er kein Glück, doch ein Stockwerk tiefer hatte seine Suche endlich Erfolg. Ein blauer Behälter stand dort etwa in der Mitte der Reihe. Das UNICEF-Logo prangte auf seiner Tür. Jetzt musste Adam nur noch einen Weg finden, ihn zu öffnen. Das stellte sich als schwierig heraus, denn die Tür war mit einem dicken Vorhängeschloss gesichert. Adam hob es an und rüttelte daran. Nichts zu machen, der Bügel saß fest. Er blickte sich um. Gab es hier irgendetwas, das er als Brecheisen benutzen konnte? In seiner Umgebung war nichts zu sehen. Adam nahm die Treppe, die ein Stockwerk tiefer führte. Dort, an einer der Säulen, die das Treppenhaus trugen, war ein Feuerlöscher angebracht. Darüber befand sich eine Feueraxt aus rotem Stahl, die in einem Glaskasten hing. Nur im Notfall einschlagen stand darunter auf einem Schild. Das ist ein Notfall, dachte Adam und benutzte seinen Ellbogen, um die Glasscheibe einzudrücken. Vorsichtig darauf achtend, dass er sich nicht an den Glasscherben schnitt, hob er die Axt heraus. Sie lag erstaunlich schwer in seiner Hand. Adam trug sie in das Stockwerk hinauf, wo er den UNICEF-Container gefunden hatte. Er stellte sich breitbeinig vor der Tür auf, hob die Axt über seinen Kopf und benutzte ihr Gewicht, um sie mit Schwung auf das Schloss hinabsausen zu lassen. Mit einem ohrenbetäubenden Scheppern schlug sie auf dem Stahlbügel des Vorhängeschlosses ein. Adam hielt inne. Hatte er mit dem Lärm das ganze Schiff alarmiert? Er hörte nichts und atmete durch. Dann warf er einen näheren Blick auf das Schloss. Er hatte eine Kerbe in den Stahl gehauen, doch er würde noch einige Schläge brauchen, um ihn zu durchtrennen. Beim ersten Schlag hatte er Glück gehabt, doch wenn er wieder und wieder zuschlug, würde ihn früher oder später sicher jemand hören. Was sollte er tun?
Einen Moment später löste sich das Problem von ganz allein. Eine Erschütterung ging durch den Rumpf des Schiffes. Adam musste sich festhalten, um nicht zu Boden zu fallen. So musste sich wohl ein Erdbeben anfühlen. Doch es war keines. Ein Wummern drang zu ihm hinauf, tief aus den Eingeweiden des Frachtschiffes. Es steigerte sich zu einem Grollen, das durch den Laderaum dröhnte. Es gab keinen Zweifel. Die Motoren des Schiffes waren angesprungen.
Die Agamemnon stach in See.