Nordsee, Nordöstlich der Niederlande
Adam kam zu sich. Er setzte sich auf. Sein Schädel dröhnte. Er fasste sich an die Schläfe und spürte Blut. Die Zähne zusammenbeißend stand er auf. Er befand sich in einem engen Raum, der nicht größer war als eine Besenkammer. In der einen Wand befand sich ein Bullauge, gegenüber davon, auf der anderen Seite, eine Stahltür. Er ging zu der Tür und drückte die Klinke herunter, doch diese war von außen versperrt. Adam drehte sich um und ging zu dem Bullauge. Er musste auf die Zehenspitzen steigen, um hinaussehen zu können. Draußen war es mittlerweile Nacht geworden. Regentropfen fielen aus dem schwarzen Himmel herab und prasselten an die Scheibe. Er musste sich im Gebäude der Brücke befinden, denn tief unter ihm sah er das Lastendeck, auf dem die Container verstaut waren. Adam griff in seine Hosentasche. Es überraschte ihn nicht, dass sein Handy verschwunden war.
Hatte seine E-Mail Yasemin erreicht? Wie lange war er bewusstlos gewesen? Er hatte sich in den frühen Morgenstunden an Bord geschlichen. Da es jetzt schon Nacht war, waren sie sicher schon viele Seemeilen vom Hamburger Hafen entfernt. Adam ließ sich zu Boden sinken und setzte sich mit dem Rücken an die Wand. Er konnte nichts tun, außer zu warten. Früher oder später würde schon jemand nach ihm sehen. Er behielt recht, und es dauerte keine Viertelstunde, bis die Tür zu seinem Gefängnis von außen geöffnet wurde. Ein schwarz gekleideter Mann betrat den Raum. Er trug ein Sturmgewehr, und sein Gesicht war mit einer Skimaske verdeckt, die Löcher für Augen, Nase und Mund besaß. Der Mann grinste ihn an. Adam erwiderte das Grinsen nicht. Mit einer Hand griff der Mann nach der Skimaske und zog sie sich vom Kopf. Eine blank polierte Glatze kam zum Vorschein. Es handelte sich um niemand anderen als Bruno, den Mann, der seine Eltern erschossen hatte.
»Würde es dir etwas ausmachen, mir zu folgen?«, fragte er in übertrieben höflichem Französisch. Adam blickte ihn böse an. Eine unbändige Wut flammte in seinem Herzen auf. Bruno winkte mit dem Lauf seines Gewehrs. Adam stand auf. Bruno trat rückwärts aus dem Raum heraus, um Adam Platz zu machen und ihn dabei nicht aus den Augen zu lassen. Als dieser an ihm vorbeigegangen war, folgte Bruno ihm. Mit dem Gewehrlauf drückte er ihn unsanft in Richtung einer Tür, die ins Freie führte. Adam öffnete sie. Sofort schlug ihm eine Eiseskälte entgegen. Sie befanden sich nun auf der hinteren Seite der Brücke, wo Treppen vom unteren Deck bis ganz hinauf zum Kommandostand führten. Bruno bedeutete ihm, die Treppe hinaufzusteigen. Adam musste sich immer wieder am Geländer festhalten, da die hohen Wellen das Schiff auf- und niedersinken ließen. Sie erklommen zwei Treppenabsätze, bis sie eine Tür erreichten, die wieder ins Innere führte. Bruno öffnete sie, und Adam ging hinein.
Er fand sich auf der Kommandobrücke wieder. Durch die großen Fenster, die von Scheibenwischern vom Wasser befreit wurden, konnte er das gesamte Deck der Agamemnon überblicken. Konsolen mit Schaltern, Anzeigetafeln und Radardisplays nahmen die Front des Raumes ein. In der Mitte stand eine Säule mit einem Steuerrad, das etwa so groß war wie das Lenkrad eines Autos. Die Brückenbesatzung bestand aus drei Männern. Einer von ihnen stand am Steuerrad, die anderen beiden hatten sich an der Seite postiert und blickten auf den Bildschirm des Radars. In der Mitte der Konsole stand ein weiterer Mann, der den Fenstern den Rücken zugedreht hatte und Adam jetzt zulächelte. Es war niemand anderer als Rocco De Laurent.
»Adam«, begann er. »Wie schön, dass du uns besuchst. Wenn du mir gesagt hättest, dass du dich für Schiffe interessierst, hätte ich dir eine Führung organisieren können.«
»Ich interessiere mich nicht für Schiffe«, gab Adam zurück. »Ich interessiere mich für illegale Waffen.«
Roccos Grinsen wurde breiter. »Du bist nicht auf den Mund gefallen«, sagte er. »Jedes Mal, wenn sich unsere Wege kreuzen, wirst du mir sympathischer. Leider bist du in deiner Neugier diesmal zu weit gegangen. Was soll ich mit dir bloß anfangen, Junge?« Rocco schnalzte mehrmals mit der Zunge und schüttelte den Kopf.
Adam blieb stumm. Er funkelte ihn böse an.
»Ich könnte dich einfach über Bord werfen lassen, aber das wäre … unsportlich. Außerdem würde Claire mir niemals verzeihen. Sie hat immer noch Gefühle für dich, Adam.«
Adam senkte den Blick.
»Sie war sehr betrübt, als du einfach von unserem Landsitz verschwunden bist. Das war nicht die feine Art. Als Gentleman hätte ich mehr von dir erwartet.«
»Dass Sie mich in einem Minenfeld zurückgelassen haben, haben Sie ihr nicht zufällig erzählt?«, sagte Adam.
»Du machst es mir schwierig, Junge. Ich mag dich. Ich mag dich wirklich! Eine letzte Chance will ich dir geben.«
Rocco öffnete die Arme. Sein Tonfall klang sanft wie das Schnurren einer Katze. »Komm zu uns, hm? Claire würde sich so freuen. Und ich mich auch. Ich habe keinen Sohn, weißt du, und einer wie du, der schlagfertig ist, der sich nichts gefallen lässt, der das Leben in vollen Zügen genießt, der würde genau dem entsprechen, was ich mir unter einem Sohn vorstelle.«
»Ich bin aber schon der Sohn von jemand anderem«, sagte Adam kalt.
Roccos Grinsen gefror. »Hm, schade. Du lässt mir leider keine Wahl.«
Er nickte Bruno zu. Dieser zog eine Handfeuerwaffe aus seinem Gürtel und hielt sie Adam an die Stirn.
»Nicht hier drinnen«, sagte De Laurent. »Mach es draußen. Da hallt es nicht so laut, und wir haben weniger Ärger mit dem Saubermachen.«
Adam blickte Bruno an. Der Mörder seiner Eltern grinste ihn selbstgefällig an. Jetzt würde er sein Werk vollenden und das letzte Mitglied der Familie Cassel hinrichten. Jeder Muskel in Adams Körper war zum Zerreißen gespannt. Er biss die Zähne so fest zusammen, dass sein Unterkiefer zitterte. Doch es war keine Todesangst, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Es war Wut.
Bruno nahm die Pistole von seiner Stirn und drückte sie ihm in den Rücken. Er dirigierte ihn zur Tür. Adam rührte sich nicht.
»Dann muss ich mir eben die Ohren zuhalten«, sagte Rocco trocken.
Bruno nahm die Pistole von Adams Rücken und setzte sie an seinen Hinterkopf. Adam fühlte den kalten Stahl auf seiner Haut.
Er schloss die Augen.
Er hatte versagt.