Wolfsbach, Deutschland
Eine Woche war seit dem Untergang des Frachtschiffes vergangen. Adam war nach Wolfsbach zurückgekehrt. Zuerst war er sich unsicher, ob er überhaupt wieder in das Haus seiner Eltern einziehen wollte, aber dann entschied er sich doch dafür. Es war der Ort, an dem er ihnen am nächsten war. Jetzt stand er auf dem Bahnsteig des Wolfsbacher Bahnhofs und wartete auf einen Zug aus der Schweiz. Er fasste sich an seine Schulter, dort, wo De Laurents Kugel ihn getroffen hatte. Die Stelle war mit mehreren Stichen genäht worden und schmerzte immer noch. Die Bahn fuhr ein, und nur ein einziger Fahrgast stieg in dem verschlafenen Nest aus. Adam lächelte. Yasemin erwiderte sein Lächeln. Adam hatte zwar seit seiner Rückkehr stundenlang am Telefon mit ihr gesprochen, doch das war das erste Mal seit seiner Abreise aus der Schweiz, dass er ihr persönlich gegenüberstand. Adam wusste, dass Yasemin nicht viel von übermäßigen Gefühlsausbrüchen hielt, doch er konnte nicht anders, als sie fest zu umarmen.
Yasemin lachte. »Du drückst mir die Luft ab!«, keuchte sie.
Adam ließ sie los. »Willkommen zurück«, sagte er.
Adam nahm ihren Koffer, und sie liefen gemeinsam durch das Dorf zum Haus ihrer Eltern. Yasemin wollte an der Tür klingeln, doch sie kam nicht dazu. Die Tür wurde aufgezogen, und Yasemins Mutter kam aus dem Haus gestürzt. Sie trug ein Kopftuch, eine weiße Bluse und eine Jeans. Zum zweiten Mal wurde Yasemin fast erdrückt.
»Mein Kind! Ich weiß schon gar nicht mehr, wie du aussiehst!«
Frau Yıldırım hatte Tränen in den Augen. Sie strich ihrer Tochter liebevoll über die Wange. Dann erblickte sie Adam. »Komm her, mein Junge!«
Auch Adam entging einer Umarmung nicht.
»Ich habe keine Worte für das, was mit deinen Eltern passiert ist. Keine Worte! Es ist so schlimm!«
Adam nickte.
»Kommt rein, kommt rein! Ihr müsst ja schon fast verhungert sein!«
Sie folgten Yasemins Mutter in die Küche. Dort warteten genug türkische Köstlichkeiten auf sie, um eine ganze Kleinstadt zu bewirten. Sie setzten sich an den Tisch und aßen. Kurze Zeit später hörte Adam, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Ein groß gewachsener Mann betrat die Küche. Er trug einen Aktenkoffer und einen perfekt sitzenden blauen Anzug.
»Ist sie schon hier?«, fragte er auf Türkisch. Sein Gesicht leuchtete förmlich auf, als er seine Tochter am Tisch sitzen sah. Er ging zu ihr und kniff ihr spielerisch in die Wange. »Meine Kleine!«, rief er, als wäre sie noch ein Baby.
»Papa, ich freue mich auch, dich zu sehen«, sagte Yasemin trocken.
Ihr Vater entdeckte Adam. Er ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Schlimm, was mit deinen Eltern passiert ist. Sie waren echte Freunde. Können wir dir irgendwie helfen?«, fragte er.
»Danke, aber im Moment ist alles in Ordnung«, antwortete Adam.
Yasemins Vater setzte sich zu ihnen an den Tisch und begann, seine Tochter über die Schule und ihre Noten auszufragen. Plötzlich hatte Adam einen Kloß im Hals. Seit dem Tod seiner Eltern war er – bis auf Yasemin – völlig auf sich allein gestellt gewesen. Er hatte halsbrecherische Abenteuer erlebt und war mehrmals nur knapp mit dem Leben davongekommen. Und jetzt saß er hier mit dieser Familie am Tisch und aß ganz normal zu Abend. Er kannte Yasemin seit dem Kindergarten, und immer, wenn er bei ihr zu Hause zu Besuch gewesen war, hatten ihre Eltern ihn wie ihren eigenen Sohn behandelt. Als er seine Eltern in dem Hotelzimmer gefunden hatte, war er überzeugt gewesen, dass seine komplette Familie ausgelöscht worden war, doch jetzt fühlte er, dass er in den Yıldırıms immer noch so etwas wie eine Familie hatte.
Nach dem Mittagessen fuhren die Yıldırıms zum Einkaufen. Adam und Yasemin gingen auf ihr Zimmer. Yasemin packte ihre Koffer aus, und Adam setzte sich auf den Stuhl an ihrem Schreibtisch.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Yasemin.
»Ich weiß es nicht«, sagte Adam. »Es ist merkwürdig. Wochenlang habe ich nur daran gedacht, meine Eltern zu rächen, doch jetzt, wo De Laurent tot ist, verspüre ich überhaupt keine Genugtuung.«
Yasemin sah ihn an. »Adam, du hast viele Fehler, aber du bist keiner, der am Leid anderer Spaß hat. Das Beste, was du tun kannst, ist, deine Eltern immer in deinem Herzen zu tragen.«
Am Abend kehrte Adam nach Hause zurück. Als er am nächsten Tag erwachte, fand er eine Textnachricht auf seinem Handy:
Ich komme heute Nachmittag vorbei. Würde mich gern mit dir und Yasemin unterhalten. – D.
Adam rief Yasemin an, und sie traf eine halbe Stunde später am Haus seiner Eltern ein. Sie mussten nicht lange warten, bis es an der Tür klingelte. Adam öffnete, und Dietrich betrat das Haus.
Er blickte sich um. »Schön hast du’s hier«, sagte er.
»Sie haben meinen Vater nie hier besucht?«, fragte Adam.
»Nein«, antwortete Dietrich. »Wir mussten unsere Zusammenarbeit völlig geheim halten.«
Sie gingen ins Wohnzimmer, und Dietrich setzte sich in einen Sessel. Yasemin und Adam ließen sich gegenüber von ihm auf der Couch nieder. Dietrich betrachtete sie wie zwei Schüler, die wegen schlechten Betragens zum Direktor zitiert worden waren.
»Kinder, was mache ich nur mit euch?«, sagte er kopfschüttelnd. »Erst schießt ihr alle meine Warnungen in den Wind, und dann legt ihr euch auch noch mit internationalen Waffenhändlern an.«
»Ich wollte Sie etwas fragen«, sagte Adam. »Als ich mit De Laurent auf der Brücke der Agamemnon war und der Hubschrauber erschien, drängte ich ihn darauf, sich zu stellen. Er gab mir eine rätselhafte Antwort: Das Auge sieht alles. Und das Auge kennt keine Gnade. Wissen Sie, was er damit meinte?«
Dietrich lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen. »Das Auge sieht alles …«, murmelte er.
»Moment!«, rief Yasemin. »Wir haben doch im Zusammenhang mit De Laurent schon mal ein Auge gesehen.«
Sie stand auf, nahm einen Kugelschreiber und ein Blatt Papier von einem Seitentisch und kehrte zum Sofa zurück. Sie begann, mit dem Kugelschreiber ein Symbol auf das Papier zu malen. Als sie fertig war, hielt sie es hoch. Es war ein Auge, aus dem ein Blutstropfen rann.
»Stimmt«, sagte Adam. »Dieses Symbol war auf den Kisten, die mein Vater in seiner Hütte gelagert hatte. Zusammen mit den Buchstaben A und P.«
»A und P«, wiederholte Dietrich nachdenklich. »Ich glaube, es ist Zeit, dass ich euch ein wenig über meine Zusammenarbeit mit Friedrich erzähle. Ich bin der Leiter der Sektion Lambda, einer Untergruppe des Bundesnachrichtendiensts. Ich habe mehrere Mitarbeiter im Feld, die an verschiedenen Fällen arbeiten. Friedrich war damit beauftragt, einen portugiesischen Waffenhändler namens Fernando Gavião zu überwachen.«
»Buteo«, warf Adam ein.
»Genau. Das war sein Tarnname. Über Gavião kam Friedrich an De Laurent. De Laurent war eine schillernde Figur in der französischen High Society, und Friedrich gab sich als Industrieller aus, der mit ihm ins Geschäft kommen wollte. Bei der Gala in Monte Carlo wollten sie ihren Deal unter Dach und Fach bringen. In Wirklichkeit war Friedrich nur daran interessiert, mehr über De Laurents Hintermänner herauszufinden. Noch bevor Friedrich nach Monte Carlo reiste, nahm ein Informant mit ihm Kontakt auf.«
»Blue Fox«, sagte Yasemin.
Dietrich nickte. »Dieser Informant spielte Friedrich Informationen zu. Ich weiß nicht, um was für Dokumente es sich handelte, doch Friedrich war begeistert. Er schrieb mir eine Nachricht, dass er große Neuigkeiten hätte. Doch dann fuhr er nach Monte Carlo und … na ja, ihr wisst, was passiert ist.«
»Er hat also diese Informationen in der Berghütte aufbewahrt. Und jetzt ist alles in Flammen aufgegangen. Seine ganze Arbeit war umsonst.« Neue Trauer erfasste Adam. Durch das Feuer in der Berghütte war die gesamte Arbeit seines Vaters ausgelöscht worden. »Was ist mit diesem Informanten?«, fragte Adam. »Wir müssen ihn finden.«
»Das wäre natürlich gut, aber ich habe leider keinen Hinweis auf seine Identität. Ich habe zwar Kontakt zu den Agenten von Sektion Lambda, doch sie teilen ihre Informationen erst mit mir, wenn Handlungsbedarf besteht. Zum Beispiel wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen. So stellen wir sicher, dass die Organisation nicht zusammenbricht, wenn ein Agent auffliegt.«
Dietrich blickte Adam und Yasemin an. »Eigentlich bin ich ja hergekommen, um euch beiden persönlich zu danken. Ihr habt ganze Arbeit geleistet. Ihr habt einen der größten Waffendeals der letzten Jahre vereitelt.«
Dietrichs Worte schafften es nicht, Adams Stimmung zu verbessern. Er fühlte sich leer. Der Gedanke daran, dass sein Vater umsonst gestorben war, ließ ihn nicht los.
»Kopf hoch«, sagte Dietrich. »Dein alter Mann wäre stolz auf dich gewesen. Darf ich dir einen Rat geben?«
Adam blickte auf.
»Trauere nicht allein um deine Eltern. Lass andere teilhaben. Das macht es einfacher.«
Dietrich verabschiedete sich, und Adam brachte ihn zur Tür.
»Mach’s gut, mein Junge«, sagte er. »Übrigens, hier liegt ein Paket für dich.«
Er drehte sich um und ging zur Gartentür. Adam blickte auf den Boden. Vor der Haustür lag ein Päckchen, das in braunes Papier gewickelt war. Er hob es auf und las den Namen des Absenders. Es handelte sich um den Anwalt seiner Eltern, der das Erbe verwaltete. Adam nahm das Paket mit ins Wohnzimmer.
»Was ist das?«, fragte Yasemin.
»Keine Ahnung«, antwortete Adam.
Er setzte sich auf die Couch und riss das Papier auf. Das Erste, was er fand, war ein Brief, der an ihn adressiert war. Er trug den Briefkopf des Anwalts.
Adam las.
Sehr geehrter Herr Cassel,
bei dem beiliegenden Buch handelt es sich um einen Teil des Nachlasses Ihrer Mutter. Sie hat es bei mir hinterlegt und verfügt, dass es, im Falle ihres Ablebens, an Sie übermittelt werden solle.
Ich muss mich für die Verzögerung entschuldigen. Sie mögen es mir verzeihen, dass ich erst jetzt dazu gekommen bin, es Ihnen zu schicken.
Hochachtungsvoll
Jens Kübler, Anwalt
Adam legte den Brief zur Seite. Als Nächstes kam ein Buch zum Vorschein. Es bestand aus handgeschriebenen Seiten, die von einem Faden an der Rückseite zusammengehalten wurden.
Adam erkannte es sofort. »Das hat meine Mutter für mich gemacht, damit ich Französisch lerne«, sagte er mit belegter Stimme. »Es sind Geschichten, die sie sich ausgedacht hat, als ich noch ein Kind war. Sie hat sie niedergeschrieben und illustriert.«
Er blätterte durch die Seiten. Auf jeder Doppelseite befand sich eine einfache Geschichte und eine Zeichnung, die Sandrine Cassel mit Buntstiften gemalt hatte. Es waren Tiergeschichten. Sie handelten von einer Ente, die ihre Mama verloren hatte, oder einem Elefanten, der sich mit einer Maus anfreundete. Adam las die Titel, während er sich die Tränen aus den Augen wischte.
»Le Courageux Petit Canard, L’Éléphant et la Souris, Le Renard Bleu.«
Yasemin schluchzte. »Ich glaube, Dietrich hat recht«, sagte sie. »Du solltest richtig von deinen Eltern Abschied nehmen.«