Am folgenden Samstag lud Adam Freunde und Bekannte seiner Eltern in den Festsaal des Lieblingsrestaurants seiner Eltern ein. Man erzählte sich Geschichten über ihr Leben, hielt Ansprachen und stieß auf sie an. Die Yıldırıms hatten sich in Schale geworfen, und auch Dietrich war gekommen, um seinem alten Freund die letzte Ehre zu erweisen. Adam fühlte sich besser. Mit jeder Geschichte, die einer der geladenen Gäste zum Besten gab, war es, als wären seine Eltern wieder bei ihm.
Adam ging nach draußen, um sich mit Yasemin die Beine zu vertreten. Der Biergarten der Gaststätte war zwar jetzt im Winter geschlossen, doch Yasemin und Adam setzten sich trotzdem an einen der länglichen Tische.
»Es ist wirklich schön, dass so viele Menschen gekommen sind«, sagte Yasemin.
»Ja. Ich habe mit meinen Eltern echt Glück gehabt.«
»Sieh mal, ich glaube, diese Dame will zu dir.«
Adam drehte sich um. Eine Frau kam auf ihn zu. Sie hatte blondes Haar und war so schlank, dass sie fast zerbrechlich wirkte. Adam war sich sicher, dass er sie schon einmal irgendwo gesehen hatte. War sie eine Freundin seiner Mutter gewesen?
»Sind Sie Adam Cassel?«, fragte sie. Sie hatte einen starken französischen Akzent. Plötzlich wusste Adam genau, wo er diese Frau schon einmal gesehen hatte. Sie war in De Laurents Landsitz beim Frühstück zu ihm und Claire an den Tisch getreten. Es war Roccos Ehefrau. Sofort war er auf der Hut. Was wollte sie hier? War sie gekommen, um ihn für den Tod ihres Mannes verantwortlich zu machen?
»Wollen Sie sich nicht setzen?«, fragte Adam und deutete auf die Bank des Biergartentisches. Die Dame nahm die Einladung an und setzte sich neben Yasemin. Sie blickte Adam an. Er erwartete einen Wutausbruch oder zumindest eine Anschuldigung, doch was er nicht erwartete, waren Tränen. Die Dame nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte sich vorsichtig die Augen.
»Sie sehen ihr so ähnlich«, begann sie. »Sie haben die Augen Ihrer Mutter. Sandrine war eine gute Freundin – vielleicht meine einzige Freundin – in der kurzen Zeit, in der ich sie kannte. Es tut mir so leid … was mit ihr geschehen ist. Ich muss Ihnen etwas beichten, was schwer auf meinem Herz wiegt. Es war … es war meine Schuld, dass sie sterben musste.« Erneut flossen ihr Tränen über das Gesicht.
Adam stutzte. Warum sollte Roccos Frau am Tod seiner Eltern Schuld tragen?
»Verzeihen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Monique De Laurent. Mein Mann ist … war ein Geschäftspartner Ihres Vaters. Ich habe Sandrine durch ihn kennengelernt. Sie war so eine warme und herzliche Person. Und ich … ich war sehr unglücklich. Sie hat mir zugehört. Hat mir Trost gespendet. Mein Mann war nicht immer gut zu mir. Er hat mich betrogen, hat mich wie eine Trophäe behandelt. Ich habe schnell gelernt, dass er kein guter Mensch war. Er hat mit dunklen Mächten Geschäfte gemacht. Ich weiß, dass er viel Leid in die Welt gebracht hat. Waffenschmuggel und noch andere schreckliche Dinge. Sandrine hat mir einen Weg gezeigt, wie ich das Unrecht, das er in die Welt setzte, aufhalten konnte. Sie hat mir erzählt, dass ihr Mann daran arbeitete, Rocco zu stoppen. Ich habe sie mit Informationen versorgt, die ich heimlich von seinem Computer kopierte. Ich habe Sandrine jedoch gewarnt. Ihr Mann durfte nicht erfahren, woher diese Informationen stammten. Sie hat sie ihm heimlich zugespielt.«
Adams Kinnlade fiel herunter.
»Meine Mutter war Blue Fox?«, sagte er.
Monique nickte. »Sie wählte diesen Namen nach einer Geschichte, die sie sich für Sie ausgedacht hat. Le Renard Bleu. Der blaue Fuchs.«
Adam fasste sich an den Kopf. Natürlich! Das war die Bedeutung des Buches mit den Kindergeschichten, das der Anwalt ihm geschickt hatte. Sie hatte ihm mitteilen wollen, dass sie die Informantin gewesen war.
»Am Tag, bevor wir nach Monte Carlo abreisten, telefonierte ich mit Sandrine«, fuhr Monique fort. »Rocco war mit einem Waffenhändler in Kontakt getreten, mit dem er ein großes Geschäft abwickeln wollte. Ich versprach ihr, ihr die Informationen in Monte Carlo zukommen zu lassen, wo Rocco mit Ihrem Vater eine Benefizgala besuchen wollte. Doch ich ahnte nicht, dass mein Mann Verdacht geschöpft hatte. Er hat mein Telefon abgehört. Als ich auflegte, kam er wütend zu mir. Er zwang mich dazu, preiszugeben, wem ich die Informationen gegeben hatte. Ich … ich … konnte nicht anders. Er hat mir wehgetan. Mich geschlagen. Ich habe Ihre Mutter verraten. Und dann …« Monique begann ungehemmt zu weinen.
Adam fühlte sich leer. Er wusste nicht, was er denken sollte. Das Ziel des Mordanschlags war seine Mutter gewesen. Und hier saß die Frau, die sie verraten hatte. Doch konnte er sie hassen? Er wusste, dass De Laurent gnadenlos gewesen war, wenn es um sein Geschäft ging. Es war ein Wunder, dass er sie nicht auch noch ermordet hatte.
Schließlich war es Yasemin, die sich an Monique richtete. »Es trifft Sie keine Schuld«, sagte sie. »Sie haben versucht, das Richtige zu tun.«
Monique blickte sie dankbar an.
Adam konnte sich nicht dazu durchringen, etwas zu sagen. Er starrte in die Ferne, während die Gedanken in seinem Hirn rasten. Dann fasste er einen Entschluss. »Sie sind nicht für den Mord verantwortlich«, sagte Adam zu Monique. »Aber wenn Sie etwas tun wollen, damit der Tod meiner Eltern nicht umsonst war, dann sagen Sie mir, in welche Geschäfte Ihr Mann verstrickt war.«
»Ich habe die Informationen leider nicht mehr«, gab Monique zu. »Ich habe wahllos Daten vom Computer meines Mannes kopiert, in der Hoffnung, dass Ihr Vater damit etwas anfangen kann. Nachdem Rocco herausgefunden hatte, dass ich ihn ausspionierte, hat er seine Daten verschlüsselt.«
Adams Mut sank.
»Den einzigen Hinweis, den ich Ihnen geben kann, ist der Name der Organisation, für die er arbeitete. Er hat ihn oft erwähnt, wenn er sich heimlich mit zwielichtigen Geschäftspartnern traf. Die Organisation heißt Argus Panoptes.«
»Argus Panoptes«, wiederholte Adam. »AP.«
»Wie auf den Kisten, die in der Hütte deines Vaters gelagert waren«, sagte Yasemin.
»Das Auge sieht alles«, sagte Adam.
»Und das Auge kennt keine Gnade«, beendete Monique den Satz. »Das ist ihr Motto.«
Eine Weile lang sagte keiner der Anwesenden ein Wort.
Dann blickte Adam Monique an. »Danke«, sagte er. »Danke, dass Sie gekommen sind. Das kann nicht einfach für Sie gewesen sein.«
»Ich war es Sandrine schuldig, zu kommen. Sie erinnern mich an sie. Sie müssen wissen, dass Ihre Mutter sehr stolz auf Sie war.«
Monique stand auf. »Leben Sie wohl, Adam Cassel.« Damit drehte sie sich um und ging zur Straße.
Adam blickte ihr nach. Plötzlich dachte er an Claire. In einem anderen Leben wäre er vielleicht mit Claire zusammengeblieben. Seine Mutter und Monique wären Freundinnen gewesen. Doch Rocco hatte alles zerstört.
»Wir müssen Dietrich erzählen, was wir herausgefunden haben«, sagte Yasemin. »Ich hole ihn. Es ist wahrscheinlich besser, wenn wir das hier draußen besprechen.«
Yasemin verschwand im Inneren des Restaurants und kam zwei Minuten später mit Dietrich wieder heraus. Er setzte sich neben Adam. Adam berichtete knapp, was Monique De Laurent ihnen erzählt hatte.
»Deine Mutter war Blue Fox?« fragte er.
Adam nickte.
»Sie war wohl ein Naturtalent für diesen Job. Friedrich hatte keinen Schimmer, dass der Informant seine eigene Frau war, da bin ich sicher.«
»Was steckt wohl hinter dieser geheimnisvollen Organisation Argus Panoptes?«, fragte Adam.
»Das möchte ich auch gern wissen. Dein Vater war kurz davor, mir alles zu erzählen, was er über sie in Erfahrung gebracht hatte. Und jetzt stehe ich wieder ganz am Anfang da.«
»Wie können wir Ihnen helfen?«, fragte Adam.
Dietrich sah Adam und Yasemin an. »Ich habe seit dem Untergang der Agamemnon lange über die ganze Sache nachgedacht«, sagte er. »Ich möchte euch ein Angebot machen. Was haltet ihr davon, für mich zu arbeiten?«
Adam und Yasemin wussten nicht, was sie sagen sollten, und blickten sich unschlüssig an.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Adam schließlich.
»Ihr seid nicht auf den Kopf gefallen. Was ihr da im Fall De Laurent zustande gebracht habt, ist wirklich außergewöhnlich. Ich kann ein paar kluge Köpfe wie euch gebrauchen. Vor allem, weil ich euch voll und ganz vertrauen kann.Das ist eine Menge wert in diesem Job, glaubt mir.«
»Meine Eltern bringen mich um, wenn ich ihnen mitteile, dass ich die Schule an den Nagel hänge«, sagte Yasemin.
»Das verlange ich gar nicht von dir«, sagte Dietrich. »Du kannst die Schule ruhig weitermachen. Umso besser, wenn deine Eltern nichts davon mitbekommen. Ich sage dir was – und das völlig ohne Übertreibung –, ich habe mit hochkarätigen Analysten des BND zusammengearbeitet, die nicht halb so viel draufhaben wie du. Wäre das was für dich? Tagsüber für die Schule büffeln, und abends Bösewichte schnappen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Yasemin.
Dietrich wandte sich Adam zu. »Ich werde nie den Ausdruck auf deinem Gesicht vergessen, als ich dich aus der Nordsee gefischt habe.«
»Und was soll das für ein Ausdruck gewesen sein?«, fragte Adam. »Ich bin schließlich nur knapp mit dem Leben davongekommen.«
»Ja, aber du hast es genossen. Den Kick, das Adrenalin. Ich habe es dir angesehen.«
Adam wollte es nicht zugeben, doch Dietrich hatte recht. Er hatte sich nie so lebendig gefühlt wie in dem Moment, als er von dem Frachter geflohen war.
»Ich kann so einen wie dich gebrauchen. Du bist jung, charmant und nicht auf den Mund gefallen. Du behältst die Nerven, wenn es brenzlig wird, und scheust vor keiner Gefahr zurück. Willst du in die Fußstapfen deiner Eltern treten?«
Adam blickte Dietrich an. »Ich mache das nur, wenn Yasemin auch dabei ist«, sagte er.
»Aufregend war es ja schon«, antwortete sie.
Dietrich klatschte in die Hände. »Perfekt«, sagte er. »Dann machen wir es so. Willkommen in der Sektion Lambda.«
Dietrich stand auf und ging in Richtung der Straße. Er drehte sich noch einmal um und winkte Adam und Yasemin zu. »Ich melde mich bald bei euch!«, rief er. Dann bog er um die Straßenecke und war verschwunden.
Yasemin blickte Adam an. »So schnell wird man also ein Geheimagent«, sagte sie spöttisch. »Vor ein paar Monaten hätte ich mir das nicht träumen lassen.«
Adam blickte abwesend in die Ferne.
»Was ist mit dir?«, fragte Yasemin.
»Ich muss gerade daran denken, wer ich vor ein paar Monaten noch war. Ein arroganter Draufgänger mit Instagram-Freunden und mehr Klamotten als Verstand.«
»Und jetzt bist du ein arroganter Draufgänger ohne Instagram-Freunde«, witzelte Yasemin.
»Nur nicht frech werden, Agentin Yıldırım, sonst mache ich von meiner Lizenz zum Töten Gebrauch«, gab Adam zurück.
Yasemin lachte.
Sie standen auf und gingen ins Restaurant zurück.