Adam stockte der Atem. Es musste sich um einen Albtraum handeln. Wie war es möglich, dass seine Eltern erschossen worden waren? Das passierte doch nur im Film.
»Mama? Papa?«
Er näherte sich dem Bett. Jetzt erst bemerkte er, dass sich der Körper seines Vaters langsam hob und senkte. Er atmete noch.
»Papa, hörst du mich?« Sein Vater lebte. Adam griff nach seinem Handy und begann den Notruf zu wählen. Er kniete sich neben das Bett. Sein Vater drehte den Kopf, sodass er seinen Sohn ansah. Er schluckte. Sein Atem ging langsamer und langsamer wie ein Motor, dem der Sprit ausging. Aus seinem Mundwinkel tropfte Blut auf die Bettdecke.
»Adam«, hauchte er.
Adam hielt inne, beugte sich zu ihm, sodass sich sein Ohr direkt neben dem Mund seines Vaters befand. Er sagte nur zwei Wörter, bevor er zum letzten Mal ausatmete.
»Nein. Lauf!«
Adam geriet in Panik. Was meinte er mit nein? Er musste doch Hilfe holen! Er drehte seinen Vater auf den Rücken, um ihn wiederzubeleben. Wie er es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte, massierte er sein Herz, doch es begann nicht wieder zu schlagen. Adam sank auf den Boden. Er wusste nicht, was er tun sollte.
In diesem Moment klopfte es an der Tür der Suite.
»Zimmerservice«, sagte eine Stimme.
Adam war zu verstört, um zu antworten. Es klopfte erneut. Adam stand auf. »Ich … ich kann jetzt nicht«, stammelte er. »Kommen Sie später wieder.«
Das Klopfen verstummte. Doch Adam hörte keine Schritte, die sich entfernten. Irgendetwas war da faul.
Ein Schuss ließ das Türschloss zersplittern. Jemand warf sich so heftig gegen die massive Holztür, als würde ein wild gewordener Elefant versuchen, sich Eintritt zu verschaffen. Schließlich gab sie nach und flog auf. Adam fand sich Angesicht zu Angesicht mit dem Glatzkopf aus dem Lift. Er hatte eine Waffe gezogen, an deren Lauf ein Schalldämpfer angeschraubt war. Der Schwung, mit dem er die Tür eingetreten hatte, beförderte ihn auf den Boden des Wohnzimmers. Er rappelte sich auf und zielte auf Adam. Dieser wachte endlich aus seiner Schockstarre auf. Es gab zwei Möglichkeiten. Er konnte sich entweder ins Badezimmer flüchten, wo er jedoch festsitzen würde, oder …
Adam fasste den Entschluss und sprang mit einem Satz aus dem offenen Fenster. Mit kleinen Staubwölkchen bohrten sich die Kugeln des Angreifers links und rechts neben dem Fensterrahmen in die Tapete.
Adam wusste, dass an der Außenseite rings um das Hotelgebäude ein schmaler Sims herumlief, auf dem er sich jetzt wiederfand. Er rutschte mit einem Fuß ab und verlor fast das Gleichgewicht. Ein Abflussrohr, an dem er sich mit seiner rechten Hand festhielt, bewahrte ihn vor einem tödlichen Sturz. Mit vorsichtigen Schritten näherte sich Adam der Ecke des Gebäudes. Wenn er diese erreichte, bevor der Mann ihn erwischte, hatte er vielleicht eine Chance zu entkommen. Der Kopf des Killers erschien im Fensterrahmen. Adam würde das kalte Grinsen nie vergessen. Der Mann legte seine Waffe an. Die Hausecke war in unerreichbarer Ferne. Er war geliefert. In schierer Panik blickte Adam nach unten. Acht Stockwerke unter ihm wartete der sichere Tod. Einen Sprung auf die Terrasse des Hotels würde er nie überleben.
In diesem Moment ging die Poolbeleuchtung an. Adam dachte nicht nach. Er hatte keine Zeit dazu. Er wusste instinktiv, dass ihn das gleiche Schicksal wie seine Eltern erwarten würde, wenn er jetzt nicht handelte. Er stieß sich mit aller Kraft von der Hotelwand ab und sprang mit rudernden Armen in die Tiefe. Die nächsten Sekunden fühlten sich wie Jahre an.
Der Swimmingpool des Hotels befand sich einige Meter vom Rand des Gebäudes entfernt. Wenn er nicht genug Schwung hatte, würde er auf den harten Fliesen der Terrasse aufklatschen. Adam sah, wie das Grinsen des Glatzkopfs erlosch. Er zog seinen Kopf zurück ins Zimmer und verschwand.
Der Fallwind erinnerte Adam an einen Höllenritt auf dem Motorrad, doch es kam Adam vor, als hätte das Wettrennen in einem anderen Leben stattgefunden. Der Boden kam mit der Geschwindigkeit eines Schnellzugs auf ihn zu. Selbst wenn er das Wasser des Pools traf, war er sich nicht sicher, ob er an dieser Stelle tief genug war, um seinen Fall rechtzeitig zu bremsen. Adam schloss die Augen. Mit einem harten Aufprall tauchte er ins Chlorwasser des Pools ein. Er sank bis auf den Grund hinab, doch das Wasser hatte seinen Sturz so sehr abgefedert, dass der Kontakt mit dem Boden glimpflich ausging. Adam fuchtelte mit den Armen und schwamm zur Oberfläche. Er tauchte auf und schnappte japsend nach Luft. Sein Fenstersprung hatte einiges an Aufsehen erregt, und die Hotelgäste raunten aufgebracht und zeigten mit den Fingern auf ihn. Adam schwamm zum Beckenrand. Gerade als er sich aus dem Wasser stemmte, bog der Glatzkopf um die Ecke des Hotels. Adam kletterte über den Rand, schüttelte sich wie ein nasser Hund und raste in die entgegengesetzte Richtung um den Pool. Er sprang über die niedrige Mauer, die die Hotelterrasse von der Hafenstraße abgrenzte, und rannte, so schnell er konnte, die Böschung hinab. Er wagte einen Blick über die Schulter und sah, dass der Killer ihm über die Mauer gefolgt war. Adam mobilisierte seine letzten Kraftreserven und sprintete die Hafenpromenade entlang. Zum zweiten Mal an diesem Tag fand er sich in einer Sackgasse wieder, die am Mittelmeer endete. Wenn ihm jetzt keine heiße Idee kam, war er dem Glatzkopf ausgeliefert. Da! Neben einer Straßenlaterne war ein Motorrad geparkt! Mit etwas Glück hatte der Fahrer den Schlüssel stecken lassen. Er erreichte das Bike und wollte gerade nach dem Schlüssel suchen, als er die dicke Stahlkette entdeckte, mit der es an den Laternenpfahl gekettet war. Mist!
Der Glatzkopf war nur wenige Schritte entfernt.
»Finger weg von meiner Maschine!«
Adam blickte sich um. Am Wasser, neben einer riesigen Motorjacht, stand ein korpulenter Mann auf einem kleinen Bootssteg. Sein dünnes Haar war weiß und seine Haut braun gebrannt.
Er war gerade dabei, einen knallgelben Jetski anzubinden. »Verschwinde!«, rief er auf Französisch.
Adam tat das Gegenteil. Er sprang von der Hafenmauer auf den Jetski, entriss dem Mann das Halteseil und startete den Motor. Er drehte am Lenker und gab Gas, sodass sich ein Schwall Wasser auf den Mann ergoss. Der Jetski hatte ganz schön Kraft unter der Motorhaube und das Gefährt raste über die kleinen Wellen des Hafenbeckens. Adam sah sich um. Er hatte den Glatzkopf hinter sich gelassen. Erleichtert atmete er aus. Er lenkte aufs offene Meer zu.
Als er gerade das Hafenbecken verließ, hörte er ein lautes Knattern hinter sich. Er drehte sich um. Ein schwarzes Motorboot fuhr zwischen zwei vertäuten Jachten hindurch und nahm die Verfolgung auf. Hinter dem Steuerrad konnte er die Glatze des Mörders erkennen, auf der sich das Licht des Mondes, der mittlerweile hoch am Himmel stand, spiegelte. Adam bog nach rechts und fuhr gen Westen an der Küste entlang. Das Motorboot war deutlich schneller als sein Jetski, und es holte mit jeder Sekunde auf. Hier auf dem offenen Meer waren die Wellen höher und ließen den Jetski immer wieder abheben und zurück ins Wasser klatschen. Er klammerte sich an den Lenker, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und in die Fluten zu fallen. Es sirrte, und links und rechts neben ihm spritzte das Wasser in kleinen Fontänen auf. Der Killer schoss auf ihn! Es war nur eine Frage der Zeit, bis er ihn treffen würde.
Adam hatte den nächsten Hafen erreicht. Dieser war deutlich größer als der vor seinem Hotel. Die Lady of the Wind, ein riesengroßes Kreuzfahrtschiff, lag dort an einem Pier vor Anker, und ihr Bug ragte vor ihm aus dem Wasser. Das Horn des Schiffes stieß ein lautes Hupen aus, das Adam durch Mark und Bein ging. Es war gerade dabei abzulegen. Die Hafenarbeiter machten die Seile von den Pollern los und warfen sie ins Wasser. Die Winden an Bord des Schiffes wickelten die dicken Kabel auf, und die seitlich ausgerichteten Propeller im Bug des Schiffes schoben es von der Kaimauer weg. Zwischen Schiff und Mauer entstand eine enge Passage. Adams Jetski war schmal genug, um durch die Lücke zu fahren, doch das Motorboot seines Verfolgers würde stecken bleiben. Adam dachte nicht lange nach, ihm blieb nur ein kurzes Zeitfenster. Er riss den Lenker herum und fuhr mit Höchstgeschwindigkeit in die Wassergasse. Wenige Zentimeter trennten ihn auf seiner Linken vom rauen Gestein des Piers und auf seiner Rechten vom glatten Stahl des Schiffs. Er warf einen Blick hinter sich. Das schwarze Motorboot hatte haltgemacht und lenkte nach rechts, an der Seeseite des Schiffs entlang. Adam hatte einen Vorsprung, doch das Motorboot war schneller. Außerdem blieb Adam am Heck des Schiffes keine andere Wahl, als nach rechts zu drehen, direkt in die Arme seines Verfolgers. Aus der Vogelperspektive betrachtet, lieferten sich die beiden Wasserfahrzeuge ein Wettrennen an den Seiten des Schiffes entlang. Ein gelber Blitz links, in der Lücke zur Hafenmauer, und ein schwarzes Boot auf der rechten Seite. Adam erreichte das Heck zuerst. Er drehte den Lenker scharf herum, um hinter dem Schiff in das Hafenbecken einzubiegen, bevor das Motorboot ihm den Weg abschneiden konnte. Im selben Moment schaltete das Kreuzfahrtschiff auf volle Fahrt voraus. Die riesigen Schiffsschrauben, die dicht unter der Wasseroberfläche lagen, begannen, das Meer mit 60 Megawatt aufzuwühlen. Die Strömung bildete einen Wellenkamm, der Adams Jetski wie eine Rampe in die Luft beförderte. Das war sein Glück, denn anstatt mit dem Motorboot zu kollidieren, das nun hinter dem Schiff zum Vorschein kam, sprang der Jetski über das Boot hinweg und landete unsanft im Hafenbecken dahinter. Die Wucht des Aufpralls schleuderte Adam ins Wasser, doch er schaffte es, irgendwie eine Hand am Gefährt zu behalten. Er zog sich hoch, setzte sich auf den Sitz und gab wieder Gas, das Knattern des Motorboots im Nacken. Er saß in einer Sackgasse fest. Um ihn herum lagen Motorjachten an Landungsstegen, doch die einzige Ausfahrt wurde ihm durch das Motorboot abgeschnitten. Adam fuhr trotzdem los. Er ließ seinen Blick nach links und rechts schweifen, als er einen Schuss hörte und eine Kugel knapp an seinem Ohr vorbeisauste. Er duckte sich. Rechts von ihm führte eine Rampe zur Straße hinauf, über die man Boote zu Wasser lassen konnte. Adam fuhr nach rechts, holte alles aus dem Motor heraus und hielt direkt auf die Rampe zu. Der Jetski schlitterte mit einem Höllentempo die Rampe empor, flog einen hohen Bogen und landete direkt in einem Straßencafé. Es krachte und klirrte, und Adam fand sich auf dem Asphalt liegend wieder. Glücklicherweise waren die meisten Tische unbesetzt gewesen, und der fliegende Jetski hatte nur Sachschaden angerichtet. Adam rappelte sich auf, gerade rechtzeitig, um den Glatzkopf zu entdecken, der das Motorboot längsseits an der Hafenmauer parkte. Er kletterte eine Sprossenleiter empor, die in das Gestein eingelassen war. Adam rannte los.
Ein Tourist in einer kurzen Hose und T-Shirt war gerade dabei, seine Vespa am Straßenrand abzustellen. Er nahm seinen Helm ab und wollte ihn an den Lenker hängen, als Adam auf den Sitz des Mofas sprang und Vollgas gab. Er ignorierte die empörten Rufe des Besitzers und bog auf die Hauptstraße ein. Im Rückspiegel der Vespa beobachtete er, wie sein Verfolger ein Handy aus der Tasche zog und eine Nummer wählte. Er wechselte ein paar Worte mit der Person am anderen Ende, dabei ließ er Adam nicht aus den Augen.
Dieser fuhr, so schnell es ging, die Straße zur Ortsausfahrt entlang. So schnell es ging war dabei eher ein Witz. Der mickrige Motor der Vespa war im Vergleich zu der Maschine, auf der er sich mit Jeremy das Rennen geliefert hatte, ein Kinderspielzeug. Außerdem klang sie wie ein Rasenmäher. Trotzdem war Adam dankbar, dass er überhaupt einen fahrbaren Untersatz hatte. Er ließ das Städtchen hinter sich und fuhr die Landstraße entlang, dabei sah er sich fortwährend nach einem Versteck um. Die Straße schlängelte sich hier jedoch an einem Berghang entlang. Links ging es steil bergab und rechts bergauf und so blieb ihm nichts anderes übrig, als weiter geradeaus zu fahren. Er fuhr in den Eingang eines Tunnels hinein. Die Neonröhren, die in regelmäßigen Abständen an der Decke hingen, flackerten rhythmisch auf, als er unter ihnen hindurchfuhr. Von hinten näherte sich ein Wagen. Adam machte an der linken Seite Platz, um ihn vorbeizulassen. Erst als die silbergraue Limousine neben ihn fuhr, sah er, wer auf dem Beifahrersitz saß. Es war der Glatzkopf, der ihn eiskalt angrinste. Adam saß in der Falle. Seelenruhig ließ der Mann die Fensterscheibe herunter, während die Vespa und die Limousine nebeneinander herfuhren. Adam konnte nicht an ihr vorbeiziehen, und wenn er abbremste, war er seinem Verfolger erst recht ausgeliefert. Der Glatzkopf zückte seine Pistole und legte an. In diesem Moment verließen beide Fahrzeuge den Tunnel. Kurz hinter dem Ausgang bog eine kleine Straße nach rechts ab. Adam bremste die Vespa abrupt ab, lenkte in die kleine Straße und gab wieder Vollgas. Der Fahrer des silbergrauen Wagens hatte nicht mit seinem plötzlichen Manöver gerechnet und hielt mit quietschenden Reifen an. Ein zweites Mal würde Adam nicht so leicht davonkommen. Er fand sich auf einer Brücke wieder. Unter ihm kamen Bahngleise aus einem Paralleltunnel, der neben dem Autotunnel entlangführte. Auf der anderen Seite der Brücke ging die Straße steil bergauf. Auf seiner Vespa würde er dort nur mit Schrittgeschwindigkeit vorankommen. Der Wagen seiner Verfolger hatte schon fast die Abzweigung zur Brücke erreicht, als in der Ferne ein Zug um die Ecke bog und direkt auf den Tunneleingang zufuhr. Der Wagen blieb stehen und die Beifahrertür öffnete sich. Adam dachte nicht nach. Er wusste, dass er nur eine einzige Chance hatte. Er stieg auf die Brüstung. Der Zug kam näher. Die Räder des Zuges erzeugten ein hohes, metallisches Rauschen auf den Gleisen, das mit jeder Sekunde an Intensität zunahm. Der Mörder seiner Eltern hob die Waffe. Im selben Moment ließ Adam sich fallen.
Ein dumpfer Schmerz in seiner Schulter. Fahrtwind, der ihm in den Ohren pfiff. Das Flackern der Tunnelbeleuchtung. Adam war hart auf dem Dach des Zuges aufgeknallt und hatte es irgendwie geschafft, nicht abzurutschen. Er klammerte sich an einem Kabel fest, das aus dem Stromabnehmer kam und im Dach des Zuges verschwand. Vorsichtig robbte er auf dem Dach entlang, bis er das Ende des Waggons erreichte, auf den er gefallen war. Er ließ sich in den Zwischenraum herab und betrat den Waggon durch eine Schiebetür. Er erntete einige gelangweilte Blicke der anderen Fahrgäste, doch niemand schien sich darüber zu wundern, wo er so plötzlich hergekommen war. Adam ließ sich auf einem Fensterplatz nieder und schloss die Augen. In Gedanken sah er immer wieder das Bild, das sich ihm geboten hatte, als er ins Hotel zurückgekehrt war. Seine Eltern in einer Blutlache auf dem Bett. War das wirklich passiert? Es wirkte wie ein böser Traum.
Sein Handy klingelte. Adam zog es aus der Tasche. Glücklicherweise hatte er in ein wasserdichtes und bruchsicheres Gehäuse investiert. Es war nicht das erste Mal, dass es ihn davor bewahrt hatte, sein Smartphone zu ersetzen. Adam blickte auf das Display. Unbekannte Nummer. Er hob ab.
»Adam, hier spricht dein Vater.«
Für einen Moment atmete Adam erleichtert auf. War es doch nur Einbildung gewesen? Hatten seine Eltern ihm einen aufwendigen Streich gespielt? Wenn er ganz ehrlich war, hätte er es verdient. Doch schon der nächste Satz holte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück.
»Wenn du das hier hörst, ist etwas schiefgelaufen.«