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Adam stand auf und setzte sich in die hinterste Ecke des Waggons, um in Ruhe den Worten seines Vaters zu lauschen. Draußen war es inzwischen stockdunkel geworden und nur die Straßenbeleuchtung und die Lichter der kleinen Dörfer flitzten vorbei. Adam hielt sich das Handy dicht ans Ohr, um die Stimme seines Vaters über das Rattern der Räder auf den Gleisen zu hören.

»Ich wünschte, ich könnte dir all diese Dinge persönlich erzählen, doch anscheinend hat mir das Schicksal einen Strich durch die Rechnung gemacht«, begann sein Vater. »Ich muss mich außerdem kurzfassen, denn wenn mir etwas zugestoßen ist, dann schwebst auch du in Lebensgefahr.«

Das hatte Adam bereits am eigenen Leib erfahren.

»Ich bin kein gewöhnlicher Mitarbeiter des Auswärtigen Amts, wie ich es immer vorgegeben habe. Das war nur eine Tarnidentität. In Wirklichkeit gehöre ich einer Geheimorganisation an, die dem Bundesnachrichtendienst unterstellt ist. Sie nennt sich Sektion Lambda. Wir beschäftigen uns damit, außergewöhnliche Bedrohungslagen zu untersuchen, sei es durch Terror, Spionage, kriminelle Banden oder Schurkenstaaten. Du würdest wahrscheinlich sagen: Papa ist ein Geheimagent, und damit würdest du gar nicht so falschliegen.«

Sein Vater lachte. Es zerschnitt Adam das Herz. Er konnte nicht glauben, dass der Mann am anderen Ende der Leitung, zu dem er sein Leben lang aufgeblickt hatte, nicht mehr da war.

»Dieser Job ist manchmal ganz schön hart, und es kann auch gefährlich werden. Deshalb habe ich dir diese Botschaft im Falle meines …«

Er stockte und Adam wusste, dass er das Wort Ablebens nicht aussprechen wollte.

»… für den Fall, dass ich unpässlich bin, aufgenommen. Du schwebst in Lebensgefahr, Adam. Wenn du mit heiler Haut aus der ganzen Sache rauskommen willst, dann hör jetzt genau zu. Vertraue niemandem. Das kann ich nicht genug betonen. Wenn mir etwas passiert ist, dann ist möglicherweise unsere ganze Organisation aufgeflogen, und das bedeutet, dass mich jemand verraten hat. Ich möchte, dass du Folgendes tust: Sobald du diese Nachricht vollständig angehört hast, will ich, dass du dein Handy wegwirfst. Nimm vorher die SIM-Karte heraus und zerstöre sie. Tue das Gleiche mit deiner Kreditkarte. Benutze sie auf keinen Fall. Ich habe in einem Schließfach am Wolfsbacher Bahnhof eine neue Identität für dich hinterlegt. Nummer 307. Geburtsurkunde, Reisepass, Personalausweis, Bargeld. Die Zahlenkombination kennst du. Nimm die neuen Ausweisdokumente an dich und präge dir die Namen und Daten gut ein. Adam Cassel gibt es ab jetzt nicht mehr. Falls du diese Nachricht im Ausland hörst, halte dich von großen Flughäfen und Bahnhöfen fern. Am besten trittst du die Rückreise mit Regionalzügen und Bussen an. Sobald du die Dokumente an dich genommen hast, verschwinde aus Wolfsbach. Versuch nicht, irgendetwas aus unserem Haus zu holen. Es wird mit großer Wahrscheinlichkeit überwacht. Baue dir ein neues Leben in einer anderen Ecke der Welt auf. Du bist intelligent, du hast Charme, du bist sprachbegabt. Nutze diese Eigenschaften, um neu anzufangen. Doch das Wichtigste ist Folgendes: Versuche auf keinen Fall herauszufinden, wer mich aus dem Verkehr gezogen hat, oder gar mich zu rächen. Die Leute, mit denen ich zu tun habe, sind gefährlich, skrupellos und gehen über Leichen. Wenn sie herausfinden, dass du am Leben bist, werden sie dich bis ans Ende der Welt jagen.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Adams Vater fortfuhr.

»Bleibt mir nur, dir viel Glück zu wünschen. Ich hoffe nichts mehr, als dass du diese Nachricht niemals hören musst. Falls doch, bitte glaube mir, dass ich immer stolz auf dich gewesen bin. Du bist mein Ein und Alles. Mach’s gut, mein Sohn.«

Sein Vater beendete die Nachricht. Sekundenlang saß Adam da und blickte fassungslos auf das Handy in seiner Hand. Seine Gedanken schwirrten wie aufgescheuchte Tauben in seinem Kopf herum. Spionage, neue Identität, falsche Ausweise, Geheimorganisationen. War das alles Wirklichkeit?

Der Zug hielt am Bahnhof einer kleinen Stadt. Ein Mann stieg ein. Er trug eine blaue Regenjacke. In der Hand hielt er einen Regenschirm und auf dem Rücken trug er einen großen Wanderrucksack. Er stellte sich in den Gang und blickte zu Adam hinüber. War es nur Zufall oder beobachtete der Mann ihn? Adam fiel wieder ein, was sein Vater gesagt hatte. Wirf dein Handy weg und traue niemandem. Er stand auf und öffnete die Schiebetür zum nächsten Waggon. Als er in dem Raum zwischen den Wagen stand, öffnete er sein Handy und nahm die SIM-Karte heraus. Er brach sie in zwei Teile und warf sie mitsamt dem Telefon aus der Tür des anfahrenden Zuges. Seine Kreditkarte flog in letzter Sekunde hinterher. Er blickte in seinen Geldbeutel und entdeckte, dass er genau fünf Euro und siebenundzwanzig Cent besaß. Es würde eine lange Reise nach Deutschland werden.