Adam schreckte hoch. Er musste eingenickt sein. Draußen herrschte immer noch pechschwarze Nacht. Der Zug, auf den er gesprungen war, fuhr in Richtung der italienischen Grenze. Hatten sie diese schon passiert? Noch nie in seinem Leben hatte Adam sich so verloren gefühlt. Er wusste nicht einmal mehr, in welchem Land er sich befand.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Kurz vor Mitternacht. Wenn dieser Tag wie geplant verlaufen wäre, dann wäre er jetzt mit Jeremy auf dem Sunscream-Konzert. Sie würden jetzt wahrscheinlich die Zugabe hören und dann mit Jeremys Vater backstage feiern. Doch all das gehörte zu dem Leben, das er hinter sich gelassen hatte. Du darfst niemandem vertrauen, hatte sein Vater ihm eingeschärft. Er hatte eh keine Familienmitglieder, zu denen er Kontakt aufnehmen konnte. Seine Eltern waren beide Einzelkinder gewesen. Er besaß nur einen Großonkel, der irgendwo in Frankreich in einem Seniorenheim wohnte, doch zu ihm hatte er nie richtig Kontakt gehabt. Und Freunde? Konnte er Jeremy vertrauen? War er vielleicht in die ganze Sache verwickelt? Was wusste er eigentlich über ihn? Sie hatten sich vor ein paar Jahren an einem Hotelpool kennengelernt. Erst jetzt fiel Adam auf, dass er eigentlich nie ein normales Gespräch mit Jeremy geführt hatte. Von Anfang an hatten die beiden Jungs immer nur versucht, sich gegenseitig mit Angebereien zu übertrumpfen. Jeremy hatte von Welttourneen und Flügen in Privatjets erzählt, und Adam hatte im Gegenzug mit einer Liste der Luxushotels geprahlt, die er mit seinen Eltern im Laufe seiner Jugend besucht hatte. Außerdem hatte er gerne mit den Eskapaden angegeben, die ihn schon öfter mit der Polizei in Kontakt gebracht hatten. Doch mit seinem Freifahrtschein war er immer ohne Konsequenzen davongekommen. Konnte er Jeremy überhaupt als Freund bezeichnen? Was genau machte eine Freundschaft eigentlich aus? Ging es wirklich nur darum, sich gegenseitig zu beeindrucken? Je länger er nachgrübelte, desto mehr wurde Adam bewusst, dass er eigentlich gar keine richtigen Freunde hatte. Klar, in der Schule blickten die meisten zu ihm auf. Er war ständig in den coolsten Weltmetropolen unterwegs und konnte sich in fünf Sprachen verständigen. Seine Youtube- und Instagramkanäle hatten Tausende Zuschauer, und ein Date für einen Kinobesuch zu bekommen, war für ihn ein Kinderspiel. Doch jetzt, wo er seine Identität verloren hatte und er nicht mehr der coole Adam Cassel war, bemerkte er erst, dass es in seinem Leben niemanden gab, dem er wirklich vertrauen konnte. Oder vielleicht doch? Es gab eine einzige Person, die ihn so mochte, wie er war, ohne dass er sie mit seinem ausschweifenden Lebensstil beeindrucken musste.
Das Quietschen der Bremsen riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte aus dem Fenster. Genova stand auf dem blauen Schild des Bahnhofs. Zu dieser Uhrzeit waren die Bahnsteige fast ausgestorben, nur ein Pärchen mit großen Rucksäcken auf dem Rücken betrat den Zug. Doch kurz bevor sich die Türen wieder schlossen, stiegen zwei Polizisten an der hinteren Eingangstür ein. Adam, der natürlich keinen Fahrschein besaß, reagierte in letzter Sekunde, sprang auf und zwängte sich gerade noch durch die sich schließende Tür. Der Zug setzte sich in Bewegung und war kurz darauf um die nächste Biegung verschwunden. Adam blickte nach links und rechts. Er war allein auf dem leeren Bahnsteig. Für einen Moment überkam ihn völlige Mutlosigkeit. Er fühlte sich verloren. Ohne Familie, ohne Freunde, ohne ein Lebensziel. Er schloss die Augen.
»Du wirst damit fertig«, sagte er zu sich selbst. »Einen Schritt nach dem anderen.«
Sein Magen knurrte. Auch das noch.
»Erster Schritt, etwas zu essen auftreiben.«
Adam kramte seinen Geldbeutel hervor. Ein zerfledderter Fünfeuroschein und ein paar Münzen. Das war wenigstens ein Anfang. Er lief zu einem Automaten, der Schokoriegel, Chips und Coladosen anbot. Adam schob den Geldschein in das Lesegerät, doch er war so zerknittert, dass der Automat ihn wieder und wieder ausspuckte. Adam verlor die Fassung. Er trat, so fest er konnte, gegen den Automaten. »Friss den Schein endlich!«, schrie er.
Zu seiner Verwunderung zeigte sein Ausbruch Wirkung. Mit einem Sirren zog der Automat den Geldschein ein. Adam drückte die Zahlenkombination für einen Schokoriegel, der vor einer Metallspirale steckte. Die Spirale begann sich zu drehen und der Schokoriegel bewegte sich vorwärts. Doch anstatt in das Ausgabefach zu fallen, kippte der Schokoriegel nach vorn und blieb an der Glasscheibe hängen. Adam wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er entschied sich für Lachen.
»Haha! Das gibt’s nicht! Du Mistding!«
Mit einem letzten Schubser ließ er den Automaten hinter sich. Wo sollte er jetzt etwas zu essen herbekommen? Ein Wassertropfen landete auf seiner Nase. Er blickte nach oben, und wie auf Kommando begann es, in Strömen zu regnen. Adam lief die Treppenstufen zu dem Tunnel hinab, der vom Bahnsteig zum Vorplatz des Bahnhofs führte. Bei dem Bahnhofsgebäude handelte es sich um einen palastartigen Bau mit einer riesigen Uhr in der großen Halle. Adam trat nach draußen, überquerte den Busparkplatz und die Hauptstraße, die am Bahnhof vorbeiführte, und durchquerte einen Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das Schild eines Fast-Food-Restaurants leuchtete an einem Gebäude in einer Seitenstraße. Adam hielt darauf zu. Er hatte zwar kein Geld mehr, aber er musste wenigstens versuchen, an etwas Essbares zu kommen.
Adam betrat das grell erleuchtete Restaurant. An der Theke stand eine junge Frau in einer Uniform. Sollte er sie um ein paar Pommes anbetteln? Nein, das war nicht seine Art. Er würde es mit Charme und Selbstvertrauen versuchen.
Er ging auf die junge Frau zu und blickte auf das Menü, das über der Theke angebracht war. In passablem Italienisch sagte er: »Ich hätte gerne das Menü mit dem doppelten Cheeseburger und einer großen Pommes. Und eine große Cola light nehme ich auch noch. Ist schließlich Samstagabend.« Er zwinkerte der Frau flirtend zu, und sie quittierte es mit einem Lächeln. Sie tippte seine Bestellung in den Computer und stellte einen Becher unter den Getränkeautomaten. »Das macht sieben Euro siebensechzig«, sagte sie.
Wie selbstverständlich zog Adam seinen Geldbeutel aus der Hosentasche und öffnete ihn. Mit perfekt gespielter Verwirrung kramte er darin herum.
»Das kann doch nicht … ich hatte doch eben noch einen Hunderter … Mist, der Typ am Bahnhof hat mir falsch rausgegeben.«
Er sah die junge Frau an. An ihrer Brusttasche steckte ein Namensschild: Bianca.
»Das tut mir jetzt echt leid, Bianca. Als ich mein Ticket gekauft habe, hat mir der Kassierer falsch rausgegeben. Können wir das irgendwie anders regeln?«
Biancas Lächeln gefror. »Anders regeln?«, fragte sie skeptisch.
»Wie wäre es, wenn ich dir das Geld schicke, wenn ich wieder in Deutschland bin. Du kannst mir echt vertrauen. Können diese Augen lügen?« Er setzte sein charmantestes Lächeln auf, doch Bianca zeigte ihm die kalte Schulter.
»Sehe ich aus wie eine Bank?«, sagte sie. »Um die Ecke ist ein Geldautomat.«
Adam warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich muss meinen Zug erwischen. Wenn ich jetzt zur Bank gehe, schaffe ich das nicht mehr.«
Bianca sah ihn unbeeindruckt an. Dann deutete sie auf seine Armbanduhr. »Ist das eine Taucheruhr?«
»Wasserdicht bis dreihundert Meter.«
»Okay. Die Uhr für das Essen.«
Adam war fassungslos. »Die Uhr hat vierhundert Euro gekostet.«
Ohne eine Miene zu verziehen, holte Bianca eine Gutscheinkarte unter der Theke hervor und legte sie auf das Tablett mit Adams Bestellung.
»Der Gutschein ist 50 Euro wert«, sagte sie in ihrem besten Verkäufertonfall. »Einlösbar in fünfhundert Filialen in ganz Europa.«
Sie grinste ihn an. Sollte er warten, bis irgendwo ein Pfandleihhaus öffnete? Nein, er musste so schnell wie möglich nach Wolfsbach gelangen. Da er den Zug auf keinen Fall verpassen wollte, hatte Adam keine Wahl. Mürrisch nahm er seine Taucheruhr vom Handgelenk und legte sie auf den Tresen. Bianca nahm sie dankend an. Er lief mit seinem Tablett zu einem Ecktisch, setzte sich und schlang den Burger und die Pommes herunter. Dann nahm er den Colabecher und verließ das Restaurant. Auf dem Weg zum Ausgang blickte er zu Bianca hinüber. Sie winkte ihm freundlich zu. An ihrem Handgelenk prangte Adams Uhr.
Wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. Zurück auf dem Bahnsteig ging er zu dem beleuchteten Kasten, in dem die Fahrpläne der Züge aushingen. Er hatte Glück, in zehn Minuten fuhr ein Zug in Richtung Deutschland ab. Am anderen Ende des Bahnsteigs stand ein hagerer Mann, der in einen langen Mantel gekleidet war. Irgendetwas an ihm gefiel Adam nicht. Er schien fast zu unauffällig dazustehen. Adam beschloss, im Hauptgebäude des Bahnhofs auf den Zug zu warten. Dort war er besser vor den Blicken anderer geschützt. Er öffnete die Tür und betrat das Gebäude. Die Wände und der Boden bestanden aus Marmor, und seine Schritte hallten von den Wänden wider, als er durch die Schalterhalle lief. Über dem Haupteingang war eine Tafel angebracht, auf der die ankommenden und abfahrenden Züge aufgelistet waren. Daneben befand sich ein Wartesaal. Adam öffnete die Holztür und ging hinein. Die Holzbänke, die in drei Reihen standen, waren leer. Adam setzte sich auf den Platz, der am weitesten von den Fenstern und der Tür entfernt war, und versuchte die Augen aufzuhalten. Wellen von Müdigkeit drohten ihn zu übermannen, und er wollte auf keinen Fall einschlafen. Sein Blick wanderte zu dem Fernseher, der an der gegenüberliegenden Wand angebracht war. Er war auf einen italienischen Kanal geschaltet, der rund um die Uhr Nachrichten sendete.
Mit einem Mal war er hellwach.
Zwei Fotos erschienen auf dem Bildschirm. Sie zeigten seinen Vater und seine Mutter. Darunter die Schlagzeile auf einem knalligen roten Hintergrund: Eilmeldung: Feuertod in Monte Carlo.
Unglücklicherweise war der Fernseher auf stumm geschaltet, und so konnte er sich nur anhand der Kamerabilder zusammenreimen, was angeblich geschehen war. Das Hotelzimmer seiner Eltern war vollständig ausgebrannt und drei Leichen waren geborgen worden. Die seiner Eltern und … seine eigene? Wie war das möglich? Er war doch noch am Leben. Außerdem wurden die Schusswunden seiner Eltern und Adams Verfolgungsjagd mit keinem Wort erwähnt. Was wurde hier gespielt?
Das Rattern eines einfahrenden Zuges riss ihn aus seinen Gedanken. Mist, das war die Bahn nach Deutschland! Er rannte zur Holztür, riss sie auf und lief durch die Bahnhofshalle. Als er durch die Tür ins Freie gelangte, gellte der Pfiff des Schaffners schon durch die Nacht. Adam nahm seine gesamte Kraft zusammen und sprintete die letzten Meter. Der Zug hatte schon an Fahrt aufgenommen, als Adam auf die Treppenstufe eines Großraumwaggons sprang und die Tür aufzog. Er hatte Glück, dass es ein alter Zug war und die Türen sich noch manuell öffnen ließen. Sein Puls raste. Er betrat den Wagen und setzte sich auf den erstbesten freien Sitz. Adam blickte aus dem Fenster. Sein Herzschlag beruhigte sich. Diesmal versuchte er vergeblich, die Augen offen zu halten: Das sanfte Beben des Zuges und die Lichter, die draußen vorbeihuschten, hatten eine einschläfernde Wirkung auf ihn. Bald darauf war er eingenickt.