»Un biglietto, per favore.«
Adam schreckte hoch und blickte in das Gesicht des Schaffners, der ihn unsanft an der Schulter gerüttelt hatte.
»Ihren Fahrschein, bitte«, wiederholte er auf Deutsch. Adam benötigte einen Augenblick, um sich ins Gedächtnis zu rufen, wo er war. Er saß in der Falle. Natürlich hatte er keinen Fahrschein, und der Zug fuhr mit 150 km/h durch die norditalienische Landschaft, sodass eine Flucht undenkbar war. Er versuchte es wieder mal mit Charme und gespielter Unschuld. »Natürlich! Wo habe ich ihn denn?«
Er kramte seinen Geldbeutel hervor und öffnete ihn. Mit dem Zeigefinger suchte er zwischen den Kassenzetteln, Kinotickets und Mitgliedskarten, die sich über die Jahre in seiner Brieftasche angehäuft hatten.
»Das ist aber merkwürdig. Ich könnte schwören, dass ich ihn vorhin noch hier drin gesehen habe.«
Der Blick des Schaffners verdüsterte sich. Auch hier stieß Adams aufgesetzt heitere Art auf Granit. Er steckte die Hand in seine Hosentaschen und durchsuchte sie. Das Einzige, was er zu Tage führte, waren einige Fusseln.
»Also, das ist doch wie verhext.«
Langsam hob der Schaffner den Zeigefinger einer Hand und krümmte ihn, was unmissverständlich mitkommen bedeutete. Adam war geliefert. Er konnte weder flüchten noch sich herausreden. Wenn der Schaffner ihn der Polizei übergab und die seine Personalien aufnahmen, dann drohten ihm sicher unangenehme Fragen. Zum Beispiel warum er immer noch am Leben war, wenn seine verkohlte Leiche in einem Hotelzimmer in Monte Carlo lag. Die Leute, die seine Eltern auf dem Gewissen hatten, würden sicher Wind davon kriegen und den Glatzkopf schicken, um den Job zu beenden. Oder die Polizei würde ihn für den Tod an seinen Eltern verantwortlich machen. All diese Gedanken rasten durch Adams Kopf, als er aufstand, um dem Schaffner zu folgen. Doch weit kam er nicht.
»Entschuldigung!«
Adam und der Schaffner drehten sich um. Adam zuckte unwillkürlich zusammen, als er den hageren Mann entdeckte, der ihm schon auf dem Bahnsteig von Genua verdächtig vorgekommen war.
»Ich habe das Ticket hier auf dem Boden gefunden. Kann es sein, dass es dir gehört?« Der Mann grinste ihn freundlich an. In der Hand hielt er ein Zugticket. Sollte Adam das Ticket annehmen? Die Worte seines Vaters schossen ihm durch den Kopf: Vertraue niemandem. Doch was konnte er sonst tun? In diesem Moment ging ein Ruck durch den Zug, und die Geschwindigkeit verringerte sich.
»Nächster Halt, Mailand Hauptbahnhof«, klang es auf Italienisch aus den Lautsprechern.
Kurz entschlossen griff Adam nach dem Ticket und grinste den Mann an.
»Vielen Dank!«, sagte er. »Das muss mir aus der Tasche gefallen sein, als ich mich hingesetzt habe.«
Er hielt dem Schaffner den Fahrschein hin und hob eine Augenbraue. Der Schaffner blickte von Adam zu dem hageren Mann. Irgendetwas war hier faul. Mürrisch griff er nach dem Ticket und entwertete es mit seiner Lochzange. Er warf den beiden einen letzten, herablassenden Blick zu und ging dann zur nächsten Sitzreihe, wo er der wartenden Dame ein äußerst missgelauntes »Un biglietto, per favore« entgegenbellte.
Adam wandte sich dem Mann zu. »Danke«, sagte er und musterte ihn. Er hatte graues, schütteres Haar und dunkle Ringe unter den Augen. Irgendetwas an seinem Blick erweckte bei Adam den Eindruck, dass diesem Mann nichts entging. Seine Augen schienen ständig hin und her zu zucken, als würden sie die Umgebung genau absuchen. Er war Adam ein bisschen unheimlich.
»Können wir uns kurz unterhalten?«, fragte der Mann. Er deutete auf den Sitz, von dem Adam aufgestanden war.
»Natürlich«, sagte Adam. »Ich muss nur kurz zur Toilette.«
Der Mann nickte. Adam ging an ihm vorbei und spürte förmlich die suchenden Augen des Mannes in seinem Nacken. Er ging durch die Schiebetür und betrat den engen Korridor, der zum nächsten Waggon führte. Der Zug wurde immer langsamer, und durch das Fenster konnte Adam den Bahnsteig des Mailänder Bahnhofs sehen. Er betrat die Toilette. Dort wartete er, bis der Zug völlig zum Stehen gekommen war. Dann verließ er sie, genau in dem Moment, als sich die Außentür des Zuges öffnete. Er lief darauf zu. Ein älterer Herr war gerade dabei, seinen riesigen Koffer in den Waggon zu hieven. Adam taumelte unsanft an ihm vorbei und fiel der Länge nach auf den Bahnsteig. Unter einer wüsten Schimpftirade des Mannes rappelte er sich auf.
»Hey, warte!« Der hagere Mann war ans Fenster gerannt. »Ich will doch nur mit dir reden!«
Adam hörte nicht auf ihn. Er rannte, so schnell er konnte, den Bahnsteig entlang und hörte noch, wie der Mann mit dem Koffer erneut schimpfte, als der hagere Mann sich wohl auch unsanft an ihm vorbeizwängte.
Die Wartehalle war ziemlich leer. Adam lief an einem Blumenladen vorbei, schlug einen Haken nach links und hastete eine Treppe hinab, die ins Untergeschoss führte. Er durchquerte dieses, nahm die nächste Treppe wieder nach oben und fand sich auf dem Vorplatz des Bahnhofs wieder. In der Mitte der Hauptstraße, die am Bahnhof vorbeiführte, hielt gerade eine Trambahn und ließ Passagiere ein- und aussteigen. Die Fußgängerampel war rot, doch Adam lief trotzdem über die Straße, was ihm ein Hupkonzert der heranfahrenden Autos einbrachte. Die Tür der Bahn schloss sich gerade, doch Adam zwängte sich trotzdem hindurch, sodass er fast eingeklemmt wurde. Mit einem Kopfschütteln öffnete der Trambahnfahrer die Tür erneut, und Adam lief geduckt den Gang hinunter. Er setzte sich an einen freien Platz und lugte durchs Fenster. Als die Trambahn gerade an Fahrt aufnahm, kam der hagere Mann japsend die Treppe hinaufgestürmt. Er drehte sich nach links und rechts und suchte den Vorplatz ab, doch Adam war nirgends zu sehen. Kopfschüttelnd zog er sein Handy aus der Tasche. Adam atmete auf. Er war entkommen.
Er fuhr mit der Tram bis zur Endhaltestelle. Er hatte Glück, denn diesmal wollte niemand seinen Fahrschein sehen. Im Norden der Stadt stieg er aus und überlegte sich, was er als Nächstes tun sollte. Die Frage wurde von seinem Magen beantwortet, der wie ein Wolfsrudel knurrte. Zum Glück besaß Adam noch die Gutscheinkarte, die ihm die Verkäuferin in dem Fast-Food-Laden in Genua so freundlich überlassen hatte. Zwei Straßen weiter entdeckte er eine Filiale der Restaurantkette, deren Leuchtreklame nicht zu übersehen war, und betrat diese. Er bestellte einen Cheeseburger mit Pommes. Sein Blick fiel auf ein Kindermenü, das als Geschenk einen Satz Wachsmalstifte enthielt. Adam lächelte die Dame an, die ihn bediente. Sie war Mitte vierzig und hatte ein freundliches Gesicht.
»Ihr habt nicht zufällig noch einen Satz Wachsmalkreiden übrig?«, fragte Adam sie. »Mein kleiner Neffe würde sich so sehr darüber freuen.«
Diesmal klappte es mit seinem Charme. Die Dame griff unter die Theke und legte ihm eine bunte Pappschachtel aufs Tablett, die mit kindischen Cartoonfiguren verziert war. Adam bedankte sich und setzte sich an einen der freien Tische. Er begann, den Cheeseburger zu essen, und öffnete die Pappschachtel. Darin befanden sich, in Plastik eingeschweißt, die Wachsmalstifte.
Zehn Minuten später verließ er das Restaurant. Nebenan gab es eine Tankstelle, auf die er jetzt zusteuerte. Die Tankstelle befand sich an einer großen Kreuzung, kurz vor der Autobahnauffahrt in Richtung Deutschland. Da er vom Zugfahren erst mal genug hatte und der Flughafen viel zu riskant war, hatte Adam beschlossen, den Rest der Reise per Anhalter hinter sich zu bringen. Er war davon überzeugt, dass die Tankstelle hierfür der ideale Ort war, denn die Autos, die nach Deutschland unterwegs waren, mussten vor der langen Fahrt sicher auftanken. Er näherte sich dem Tankstellenshop. In einem Mülleimer an der Rückseite fand er, was er suchte: einen alten Karton, in dem Ölflaschen transportiert worden waren. Er riss ein großes Stück des Kartons ab und nahm die Wachsmalstifte aus seiner Hosentasche. Mit diesen malte er eine große Deutschlandflagge auf die Pappe. Darunter schrieb er in schwarzer Farbe Germany. Mit seinem neuen Pappschild bewaffnet stellte er sich an die Ausfahrt der Tankstelle und hielt seinen Daumen in die Luft.
Zwei Stunden später stand er immer noch da. Es hatte erneut zu regnen begonnen, und Adam fröstelte. In den ersten Minuten hatte er noch Hoffnung gehabt, dass ihn bald jemand mitnehmen würde. Mehrere Autos mit deutschen Kennzeichen hatten getankt und waren dann losgefahren, doch obwohl Adam sein freundlichstes Lächeln aufgesetzt hatte, waren sie einfach an ihm vorbeigefahren. Während er dastand und den Autos dabei zusah, wie sie auf die Autobahn fuhren, waren seine Gedanken immer wieder zu seinen Eltern gedriftet. Die letzten zwölf Stunden hatte er so sehr unter Adrenalin gestanden, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Doch jetzt, wo er an dieser Tankstelle festsaß und der Wind ihm den Regen in die Augen blies, kam wieder das Bild seiner Eltern in ihm hoch, wie sie in einer Blutlache auf dem Hotelbett lagen. Erst jetzt wurde ihm richtig klar, dass er keine Familie mehr hatte. Er war Waise. Die Erkenntnis kam so plötzlich, dass er kaum merkte, wie sich seine Tränen mit dem Regen mischten, der an seinem Gesicht hinablief. Er setzte sich auf die niedrige Mauer, die an der Ausfahrt der Tankstelle entlangführte, und überließ sich ganz der Trauer, die sich wie Beton in seinem Körper anfühlte. Er wollte aufgeben, zur Polizei gehen und sich stellen, alles, nur nicht hier im Regen sitzen und sich so elend fühlen wie noch nie in seinem Leben. Doch etwas glomm in seinem Herzen auf, ein Funke Wärme, eine Flamme aus Zorn. Nein, er würde nicht aufgeben. Er stand auf, kletterte auf die Mauer, blickte in den wolkenverhangenen Himmel und stieß einen lauten Schrei aus. Er hatte das Gesicht des Glatzkopfs vor Augen, den kalten Blick, das hämische Grinsen des Mannes, der seine Eltern auf dem Gewissen hatte.
Er ballte beide Hände zur Faust und schrie erneut, so laut er konnte: »ICH KRIEGE DICH!«
»Germania?«, fragte eine Stimme.
Adam blickte verdutzt nach vorn. Ein Kleinbus war neben ihm zum Stehen gekommen, und der Fahrer hatte das Fenster heruntergekurbelt. Er war um die zwanzig, hatte einen Bart und einen Pferdeschwanz und trug eine Brille mit kreisrunden Gläsern auf der Nase. Auf den hinteren Bänken des Busses saßen zwei Frauen und ein weiterer Mann, alle etwa im selben Alter. Plötzlich war Adam sein Ausbruch ein bisschen peinlich. Er senkte die Hände, kletterte von der Mauer hinab und ging zum Fenster des Busses.
»Habt ihr noch Platz?«, fragte er auf Italienisch.
»Wo willst du hin?«, fragte der Fahrer in ziemlich gutem Deutsch.
»Wolfsbach«, sagte Adam.
»Wir können dich bis München mitnehmen.«
»Super!«
Adam stieg ein, und der Bus fuhr los.