Was für eine alte Dame das Kino, das ist für ein Schauspielerpaar die Bühne. Für Marie und Jörg ist das Theater ihr Leben. Nicht irgendeine der großen Bühnen. Die kennen sie – und haben sie hinter sich gelassen. Sie spielen in ihrem eigenen Theater, auf ihrer eigenen Bühne, und sie spielen ihre eigenen Stücke. Die Klettenheimers, so nennen sie sich, begrüßen ihre Gäste höchstpersönlich. Sie stehen hinter der Bar, schmieren Brote mit Liptauer und Eiaufstrich. »Zwei G’spritzte, bittesehr, ein Bier und ein Cola. Oh, schön, dass ihr auch da seid, grüß euch!«, heißt es zwischendurch. Dann schnell ins Kostüm und ab auf die Bühne. Viele der Besucher kennen sie beim Namen, dabei ist die Schar der Stammgäste beileibe nicht mehr klein. Wenn sie spielen, sind ihre Vorstellungen in den letzten Jahren meist ausverkauft. Wenn sie spielen. Denn dazwischen machen sie wieder lange Pausen, zum Kraftholen und zum Schreiben der neuen Stücke. Anspruchsvolle Weltliteratur, mit Witz modernisiert.
Sie leben von Mundpropaganda. Ein kleines Theater, das charmanter nicht sein könnte. So mancher Zuschauer findet sich plötzlich als Teil der Vorstellung wieder. Jörg, der Klettenheimer, hat vorher an der Bar etwas aufgeschnappt, aus einer Unterhaltung der Gäste merkt er sich deren Beruf, oder er spricht den an, der »so viel Durst hatte, dass er sich gleich zwei G’spritzte auf einmal bestellt hat!«. Und schon ist er wieder der Petruchio, der sich um seine unbezähmbar widerspenstige Katharina bemüht. Oder der Mackie, der mit und ohne Messer gegen die Abschaffung der Glühbirne anrennt und mit Polly auf die Barrikaden steigt. Schließlich geht es im KleinKunstCafé um alles. Es geht um die Welt.
Und die ist bekanntlich weit. Für die Abenteuer des Perikles musste sich der gute, alte Shakespeare »wie auf der Pawlatschen« verbiegen lassen, für Wahnsinn, Mord, Kinderprostitution und Schiffsuntergänge. Ein anderes Mal wurde sich Ödipus seiner tragischen Verstrickung bewusst, blendete sich kurzerhand selbst und wurde im Exil ein moderner Mensch. Dann wiederum rang sich der Klettenheimer zu einer fulminanten Erkenntnis durch: »Es war immer schon klar, dass Straßenmusik nur in geschlossenen Räumen wirklich Sinn macht!« Daraus wurde ein straßenmusikalischer Indoor-Galaabend mit dem Titel Wien–Berlin und retour.
Das hatte absolut autobiografischen Hintergrund. Die Idee vom eigenen Theater für anspruchsvolle Blödelei musste erst langsam heranreifen. Mit Zwischenstation in Berlin. Lange waren die beiden Suchende (im Grunde sind sie es immer noch, aber das ist das Lebenselixier der Kunst). Marie, die Tochter eines Botschafters, ist zwar in Oslo geboren, aber eine waschechte Wienerin, Jörg stammt aus Karlsruhe. Beide wollten sie zum Theater. Sie in Wien, er in Karlsruhe. Da ist Wien allemal besser. Hier trafen sich ihre Wege, durch Zufall, oder doch nicht ganz. »Wir sind ja verkuppelt worden«, empört sich Marie Mandelbaum noch heute. Mit achtzehn, neunzehn Jahren betreute sie Kinder einer Jungschargruppe in Wien. Einer der Buben hatte einen Großcousin in Karlsruhe, besagten Jörg Klettenheimer. Sie träumte vom Theater in Wien, er in Karlsruhe. Bis jemand aus ihrer Umgebung auf die Idee kam, die beiden sollten doch zusammen träumen. So lernten sie einander kennen, redeten übers Theater, mochten einander aber nicht besonders. Noch nicht.
Sie ging ans Reinhardt-Seminar. Er versuchte sein Glück in München und Stuttgart, vergeblich, und kam wieder nach Wien, um Architektur zu studieren, machte aber doch die Schauspielausbildung. Claus Peymann war schon am Burgtheater, Jörg sprach einfach vor und wurde genommen. Fast vier Jahre war er Ensemblemitglied an der Burg. Auch Marie spielte am Burgtheater, 1987 an der Seite von Alexander Goebel und Regina Fritsch in Elvis und John. Statt weiter am Burgtheater zu bleiben, machte sie lieber das Reinhardt-Seminar fertig, spielte an der Josefstadt und anderen Theatern. Und suchte weiter. Bruno Max holte sie immer wieder in sein Team. Aber im Regietheater fühlte sie sich nicht wirklich wohl. »Dauernd muss man etwas machen, was wer anderer anschafft.« Aus der Fremdbestimmtheit auszubrechen wagte sie noch nicht, studierte Anglistik und Germanistik, wollte aufhören und doch nicht. Kein Theater hat sie wirklich angezogen, die beiden, die inzwischen längst ein Paar waren. Also beschlossen sie: »Wien, das war’s jetzt, wir wandern aus.« Sie verkauften alles (bis auf die Waschmaschine, die haben sie heute noch), und mit nur zwei Rucksäcken zogen sie nach Berlin.
Sie hielten sich mit Jobs über Wasser, in einem Lokal in einer Seitengasse des Kurfürstendamms stand Marie hinter dem Tresen, in Wittenberg machten sie Straßenmusik. »Wir verdienten Geld, aber es hat uns total genervt, dass die Leute nicht länger stehen bleiben und zuhören«, erinnern sie sich. Jahre später dann, im eigenen Café, konnten sie das ändern: »Der Straßenmusiker sollte um jeden Preis verhindern, dass seine Kundschaft die Möglichkeit hat, allzu leicht das Weite zu suchen. Dagegen helfen Türen und ein gemeinsames Dach überm Kopf!«, kann man den bestechenden Gedankengang noch heute auf der Homepage nachverfolgen.
Aber dahin war es noch ein langer Weg. Nämlich der von Berlin zurück nach Wien. Im Gepäck war die Idee: Wir kaufen uns ein Theater und machen uns selbständig. Die Wiener Kulturszene muss doch neben Burgtheater und Staatsoper noch Platz haben für zwei Einzelkämpfer. Sie hat. Marie macht einen Kurs im WIFI und bekommt die Kaffeehauskonzession. Aus einem kleinen Büchlein lernt sie, wie man Unternehmer wird, wie viel Eigenkapital man braucht und wie man einen Kredit bekommt. »Alle haben uns abgeraten«, erzählt sie, dennoch strickt der Mann an ihrer Seite einen Businessplan. Durch Zufall finden sie ein kleines Lokal im achten Bezirk, in dem eine Minibühne Platz hat. Früher war das ein Nachtlokal. Das winzige Separee wird zur Garderobe. Ein bisschen Startkapital kommt von einer Erbschaft, dann geht Marie auf die Bank. »Ich hatte blanke Angst vor dem Auftritt dort«, erzählt sie, »ich hab nicht einmal gewusst, was ich anziehen soll, ich war ja keine Businesswoman.« Sie bekommt den Kredit. Seither ist sie »die Chefin« und er ist »der Mitarbeiter«. Offiziell jedenfalls.
Sonst macht das Künstlerpaar alles gemeinsam. Schreiben, inszenieren, Karten verkaufen, vor der Vorstellung und in der Pause Brötchen servieren. Schmäh führen. Und spielen. Er baut die Bühnenbilder, sie kümmert sich um die Kostüme. »Für die Masken gehen wir dann gemeinsam einkaufen, das ist immer sehr lustig.«
Mit wirklicher Leidenschaft lässt sich vieles stemmen. Das erste Programm war eine One-Woman-Show mit Songs von William Blake. Da stand er am Lichtpult. Beim zweiten Programm spielte der Klettenheimer den Hamlet in allen Variationen, und sie bediente die Regler. Längst spielen immer beide zugleich. Mittlerweile merkt niemand mehr, wie Lichtwechsel erfolgen und woher Toneinspielungen kommen. Jörg baut überall Fernbedienungen ein, kleine, versteckte Schalter. Aus der Hosentasche wird das Blackout gemacht, hinter dem Häferl die Zuspielung abgerufen. Anfangs war es nur ein Café, in dem Lesungen erlaubt waren. Eines Abends platzte die Polizei mitten in die Vorstellung. »Es waren eh nur acht Leute da im Publikum«, erinnert sich Marie. Die strenge Behörde erkannte, dass das keine Lesung war, sondern eine szenische Darstellung. Also musste die Bewilligung für ein Theater her. Die beiden schafften auch das. Mittlerweile sind sie eine kleine Institution in Wien, ohne jede Promotion, nur durch Mundpropaganda.
Rund siebzigmal spielen sie ein Programm. Das KleinKunstCafé fasst gerade ein paar Dutzend Plätze, mehr wären schon sehr gut, mit Raum vielleicht für zwei, drei Musiker, einem Studenten hinter der Bar und mehr Spuckdistanz zur ersten Reihe. Aber das kleine eigene Theater ist schuldenfrei und lebt ohne Personalkosten. Und ohne Subventionen.
Das allein ist eine Sensation für die Theaterstadt Wien. Die großen Häuser brauchen immer öffentliche Zuschüsse, kleine, freie Bühnen, die ihr Glück immer wieder versuchen, noch mehr. Das Rezept der Klettenheimers dagegen ist Unabhängigkeit durch schräge Kreativität.
Da kommt es vor, dass Macbeth mit seinem Personal auf Betriebsausflug fährt – eine logistische Meisterleistung von ungezählten Rollen, in die die zwei da schlüpfen. Später bekam Jeanne d’Arc Visionen und er, der Klettenheimer, musste auf die Couch. Die Heilige Johanna in der Lederergasse war »nichts für Warmduscher, nichts für Weicheier, aber weitgehend jugendfrei«. Jörg mag Shakespeare und verdreht ihn gerne, Marie dreht an der Musik, textet und komponiert. »Das Schreiben ist das Mühsamste«, klagt sie, das dauert mittlerweile eineinhalb bis zwei Jahre, bis eine aufwendige Produktion steht. Dann das Textlernen, das Proben, das Bühnenbild, die Technik. »Aber so was wie uns gibt’s sonst nirgends«, wissen die beiden selbst. Und genießen es, »dass die Leute nur wegen uns kommen. Nicht wegen eines Regisseurs oder weil man halt ins Theater geht. Die kommen wirklich nur zu uns!«, fasst Marie es noch immer kaum. Inzwischen sind sie fest in Wien verankert. Jörg, der Sprachkünstler, hat auch das Wienerische Idiom längst gut drauf. Und Marie könnte bestenfalls noch »eine schöne Rolle in der Volksoper« zu einem Ausflug aus dem eigenen Theater motivieren.
Künstler und Unternehmer? Wie geht das zusammen? »Mein Großvater war Unternehmer, der war Spediteur und Braumeister. Irgendwie steckt davon auch was in mir«, sinniert Marie. »Aber ich wollte nie Gastronom werden«, wirft Jörg ein. »Das ist sein Lieblingssatz«, erklärt Marie. Da sind die beiden einfach – ein Ehepaar.