Mezzo Porno

Über Seitensprünge im Opernbetrieb und Pornografie als politische Botschaft

Fast könnte man meinen, die Hand zittert ein wenig, als sie beginnt, eine Schulter zu ertasten. Die Finger nesteln nicht ungeschickt herum und wirken doch etwas verwundert, dass da kein Band ist mit kleinen Haken, die man sonst erst lösen muss, um das Verborgene zu befreien. Aber das bedarf keiner Befreiung mehr. Finger verschränken sich ineinander, gleiten über glatte Haut, versuchen beim Gegenüber stumm zu erfragen, ob da Vertrauen entstehen kann für mehr, für viel mehr. Als die Finger eindringen in das, was sie begehren, spüren sie, dass dieses Begehren erwidert wird. Er kennt diese Frau nicht, er sieht sie nicht einmal.

Auch sie ist angewiesen auf das Hören, Tasten und Schmecken. Auch ihre Finger wandern unruhig umher, ermuntern die seinen, ertasten den Stand der Erregung, die sie beflügeln und zum Ende treiben. Die schwarzen Augenbinden verhindern, dass das stört, was normalerweise viel gedämpfter wäre. Aber das vergleichbar viele Licht hat einen Grund. Was die beiden nur spüren dürfen, wollen die Videokameras rundum ganz genau sehen. Der dunkelgraue alte Holzboden knarrt unter den Schritten derer, die sie bedienen, auch wenn die sich noch so bemühen, diskret zu bleiben. Auch sie stören offenbar nicht.

Erst lange nach dem Schrei der Befreiung werden die Augen von der Dunkelheit erlöst. Da wirken die ersten Blicke plötzlich verlegen, als wäre man ertappt worden. Distanz kommt auf, jetzt stört, was vorher unsichtbar war. Aber es ist ohnedies vorbei, das Experiment, auf das die beiden sich eingelassen haben.

Dass Nina, eigentlich Sabrina, eine Krankenschwester, ihren Partner auf der Matratze als Mensch damit schon kennen würde, hatte sie ohnehin nicht erwartet. Christoph, der polyamore Tai-Chi-Lehrer, hatte dagegen in dem langen Interview davor gemeint, er hoffe, dass Millionen Leute seinen exhibitionistischen Akt bewundern würden.

Darauf wird er noch warten müssen, wenngleich die Frau, die das alles eingefädelt hat, in Wien schon einigen Bekanntheitsgrad erreicht hat. Weniger freilich mit den Pornos, die sie hier produziert, vielmehr durch ihren Werdegang. Stand sie doch fünfzehn Jahre lang als Mezzosopranistin auf diversen Bühnen der Stadt. Sie gab in der Wiener Volksoper die Giulietta in Hoffmanns Erzählungen, die Flora in La traviata oder die Hermia in Brittens A Midsummer Night’s Dream. Von Mozart sang sie den Annio in La clemenza di Tito, die Donna Elvira im Don Giovanni oder den Cherubino in Le nozze di Figaro. Die zweite Dame in der Zauberflöte sei keine große Herausforderung gewesen, aber diese Rolle habe sie besonders geliebt, schwärmt sie noch Jahre danach.

Adrineh Simonian war eine fixe Größe im Wiener Opern- und Konzertbetrieb, mit einem gewaltigen Repertoire, vom Barock bis zur zeitgenössischen Musik. Nicht der große Star, aber überall dabei. Sie hat Belcanto gesungen und Operette. Sie war die Valencienne in der Lustigen Witwe und die Manja in der Gräfin Mariza. An der Wiener Kammeroper sang sie in der Fledermaus und am Stadttheater Baden die Aldonza im Mann von La Mancha. Sie sang in Kopenhagen und in Tokio und im Backgroundquartett mit Dave Brubeck in Salzburg. Mit Liederabenden war sie im Wiener Konzerthaus und im Musikverein auf der Bühne, mit dem Staatsopernchor war sie als Solistin in Taiwan und in Korea.

Mit all dem war mit einem Mal Schluss.

Eine Debatte in der Opernkantine war der Impuls. Irgendwie kam man auf Pornos. Die Männer fanden sie super, die Frauen waren entsetzt. »Saudumm« war das Gerede, sagt sie heute, voller Klischees. Da habe sie begonnen, über das Wesen der Pornografie nachzudenken, über die Hintergründe der Zurschaustellung von Sex. Ab da wollte sie Sexualität anders darstellen als in der Mainstreampornografie – »aus feministischer Perspektive, mit den Augen einer Frau, in der Gefühlswelt einer Frau«. Weltverbesserung mit nackter Haut. Die ganz große Karriere in der Opernwelt wollte sie ohnedies nicht mehr machen. Vielleicht war sie sowieso unerreichbar. Ab vierzig, so sagt sie jetzt, wird man als lyrischer Mezzo schön langsam abgeschoben. »Dann kommen die komischen Rollen, die alten Weiber. Ich hätte das schon auch gemacht.« Aber der Kopf war schon woanders.

Sie entwickelte Konzepte und begann, sich mit Filmtechnik zu beschäftigen. »Ich hatte ja keine Ahnung von Tuten und Blasen«, sagt sie ohne jede Zweideutigkeit, »ich wusste nicht einmal, wie man eine Spiegelreflexkamera einschaltet.« Sie hat sich alles selbst beigebracht, Probeaufnahmen gemacht und ihre Firma gegründet. Mit der Titelrolle in Vivaldis Juditha triumphans sang sie im Juni 2014 in der Kleinstadt Retz ihren letzten Opernton – und wurde Pornoproduzentin. Ausgerechnet im braven, biederen Wien.

Radikale Sprünge kannte sie aus ihrer Familie. Der Vater war ein schwerreicher Multimillionär im Iran. Dort wurde sie auch geboren. Die armenische Familie hatte dort keine Sorgen. Nur die Schulen waren in Europa doch besser. Also übersiedelte die Familie mit drei Kindern auf den Rat eines Freundes 1977 nach Wien. Der Vater pendelte, saß viel im Flugzeug. Die Firma war ja im Iran. Ein Bankberater erkannte das politische Brodeln in Teheran und riet dem Vater, sein Geld in die Schweiz zu transferieren. Der aber vertraute auf die Beständigkeit des Pfauenthrons. Wer sollte den Schah schon verjagen? Er wurde verjagt. Mit der Islamischen Revolution Anfang 1979 waren der majestätische Reza Pahlavi und seine luxusverwöhnte Farah Diba schlagartig Geschichte. Der Reichtum von Adrinehs Vater auch. Alles weg. Mit etwas Bargeld rettete er sich zu seiner Familie nach Wien. Er wollte neu beginnen, aber sein Obst- und Gemüsestand am Hannovermarkt im zwanzigsten Bezirk machte nur Verluste. Da kaufte er im zweiten Bezirk ein kleines Schustergeschäft und wurde Schuster. Er brachte sich das alles selbst bei, gelernt hatte er das Handwerk ja nie. Wie das mit der Wiener Gewerbeordnung funktionierte, darüber schweigt die Chronik. Goldgrube war die Schusterei jedenfalls keine, also wurde er Bäcker. Auch das hatte er nicht gelernt, aber er war der Erste in Wien, der das Lavash-Brot herstellte. Die noch unbekannten dünnen Fladen wurden am Naschmarkt beliebt, die persischen Restaurants waren bald treue Kunden. Doch dann wurde der Mann krank. Heute bezieht er etwas über hundert Euro an Rente. Aber Adrineh hat gesehen, dass man etwas beginnen kann, von dem man keine Ahnung hat.

Initiativ war sie schon früher. Etwa als sie mit sechzehn an der Wiener Musikhochschule einen Lehrer überrumpelte, sie in Klavier zu unterrichten. Obwohl sie nie zuvor Klavier gelernt hatte. Sie hatte ihren älteren Geschwistern zugeschaut und sich selbst zu Liszt und Chopin vorgewagt. Als Kind hat sie Geige gelernt, viel später dann studierte sie Gesangspädagogik, dann erst wandte sie sich dem Opernfach zu.

Derartige Sprünge prägen offenbar und machen mutig. Als Kind war sie Außenseiterin in der damals noch sehr grauen Stadt Wien, die einzige Ausländerin im Gymnasium, gehänselt und verspottet. Heute ist sie überzeugte Wienerin. Sie liebt die Stadt, sie möchte nirgendwoanders leben. Ob Wien denn ein guter Boden für die Pornoproduktion sei? »Nein, überhaupt nicht«, lacht sie, aber eben deshalb will sie hier bleiben. Sicher wäre es leichter in Berlin oder in Madrid, diese Städte seien offener. Das größte Zentrum der Pornoindustrie ist Los Angeles, aber dort würden die Frauen nur ausgebeutet, mit falschen Verträgen in ein Business gelockt, aus dem sie nicht mehr aussteigen könnten und müssten Dinge tun, die sie nie wollten. Die meisten Konsumenten kommen übrigens aus dem durch die Ein-Kind-Politik männerdominierten China.

Ihr Zugang sei ein ganz anderer. »Mir geht es um die Psychologie der Sexualität, nicht um das Aufgeilen.« Und um eine möglichst ästhetische Darstellung. Ihre Protagonisten müssten erst Vertrauen zu ihr aufbauen, bevor sie ihre Intimität öffnen. Lange dauere das, viele Gespräche und Mails, monatelang bisweilen. Vor dem Dreh wird kein Vertrag unterschrieben, und bevor das Video auf der Website zum Verkauf angeboten wird, sehen es die Darsteller, um es freizugeben. Dann gibt es Geld, einen einmaligen Betrag. Die Downloadgebühr der Kunden gehört ihr.

Leben kann sie von den wenigen Videos auf der Website noch lange nicht, sagt Adrineh Simonian. Kein Wunder, stöhnt doch selbst die etablierte »Adult Entertainment«-Industrie weltweit über kollabierende Gewinne. Denn täglich werden Tausende neue Orgasmen in das Internet gekippt, gratis abrufbar.

Aber um Markterfolg gehe es der Wienerin nicht, sagt sie in reinem Schönbrunnerdeutsch. Sie wolle etwas verändern, den Blick der Gesellschaft auf Sexualität enttabuisieren (so es da überhaupt noch ein Tabu gibt), der Darstellung von Sexualität einen feministischen Zug verleihen. Sie muss auch nicht davon leben. Schließlich ist ihr Mann ein vielgebuchter Opernstar. Wolfgang Koch, als Amfortas oder Klingsor mit Richard Wagner besonders eng vertraut, ist an allen großen Opernhäusern und Festivals der Welt zu sehen. Der in Bayern geborene Heldenbariton war auch an der Wiener Volksoper, inzwischen ist er als freischaffender Künstler in London genauso zu sehen wie in Tokio, Paris oder an der Wiener Staatsoper. Als Adrineh ihre Pornoproduktion begann, durfte sie sich an seinem Konto bedienen. Er startete gerade als Wotan bei den Bayreuther Festspielen, sie bot an, ihren Namen zu ändern, aber er lehnte ab. Er unterstütze sie, sagt sie, auch wenn das Wort Pornografie für die Leute nicht zur Oper passt.

»Oper verbindet man mit Bildung, hoher Kunst und Kultur, Pornografie dagegen mit Prostitution, Drogen und Menschenhandel. Die Leute denken, wie kann jemand, der da oben ist, so tief sinken?« Für Adrineh Simonian ist beides falsch, aber sie weiß, dass man sie sehr zwiespältig sieht. Die Heuchelei im ach so hehren Opernbetrieb sei ihr schon sehr auf die Nerven gegangen. Vor allem auf Tournee würde kreuz und quer fremdgegangen. »Da kann man am Hotelgang zuschauen, wer grad wo hineingeht. Und wenn die Frauen das bestreiten, mit wem gehen dann die Männer alle ins Bett?«

Mit ihrer früheren Kollegenschaft aus der glamourösen Welt der Bühnen hat sie fast keinen Kontakt mehr. Sie geht in kein Konzert mehr, kein Theater. In die Oper nur, wenn ihr Wolfgang singt. Dabei hat die Oper viel mit ihrem neuen Genre zu tun. Es gibt keine Oper, in der es nicht um Liebe geht, letztlich um Sex. Don Giovanni, Così fan tutte, La traviata, Rosenkavalier. Aber ihr Business jetzt sei ehrlicher, meint sie.

In der Oper müssen alle ihre großen Gesten machen. Die Sopranistin muss beim Pianissimo schmachten, der Tenor muss strahlend die Hände emporstrecken. Das habe doch nichts mit echten Menschen zu tun. Anna Netrebko sei großartig, wirklich, aber länger als eine Viertelstunde könne sie ihr nicht zuschauen. »Denn die ist immer nur schön. Aber eine Traviata ist nicht nur schön, jede Rolle hat auch Abgründe, aber den Mut, auch die zu zeigen, haben nur wenige.« Deshalb wolle sie mit ihrer Pornografie die echten Menschen zeigen.

Und muss zugeben, dass sie damit gescheitert ist. Sie wollte als Protagonisten nicht perfekte Körper, sondern Frauen zwischen vierzig und fünfzig, die drei Kinder auf die Welt gebracht haben. Aber die hat sie bisher nicht bekommen. Frauen dieser Generation seien sehr kompliziert. »Dafür habe ich Menschen zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig gefunden, die auch nie gedacht hätten, dass sie einmal vor die Kamera kommen«, erzählt sie.

Fast immer aber ziehen die sich nur in völliger Anonymität vor der Kamera aus. In ihrer Blackbox gibt es keine Requisiten, alles ist schwarz, die Person wird sich selbst überlassen, meist nur allein und gesichtslos, nichts wird inszeniert. Manchmal filmt sie auch professionelle Darsteller. Da versucht sie, Kunst zu machen, die verstört und erschreckt. Nur ein einziges Mal bisher ist ihr das Experiment Blind Date gelungen. Zwei Menschen, die einander nicht kennen, treffen mit verbundenen Augen aufeinander. Dann darf alles passieren. Zuvor hat man sie in langen Interviews kennengelernt und erfahren, dass er auch mit drei oder vier Frauen gleichzeitig schlafen möchte oder dass sie für Sex keine Beziehung braucht. Auch eine Form von Weltverbesserung.

Das zu filmen, hat Adrineh Simonian sich als Autodidaktin beigebracht. Kameratechnik, Licht, Schnitt, Vertonung. »Ich habe das auf der YouTube- Universität gelernt«, gesteht sie lachend. Man merkt es den Videos auch an. Schnitt- und Vertonungsfehler, wie jeder Amateur sie macht, auch wenn die Kameras noch so teuer waren. Ihre Firma heißt Arthouse. Nicht, weil das dezenter klingt als irgendwelche Pornonamen, sondern weil sie (fast) alles allein macht und der Arthausstil das Qualitätsprädikat liefern soll.

Unterm Strich bleibt es Porno, den sich überwiegend Männer anschauen. Die haben offenbar mehr Lust an der Lust der Frauen als die Frauen. Und die stört es nicht, dass nicht alles perfekt gedreht ist, dass es mit der Kunst manchmal hapert. Mezzo-Porno eben.

Die Frauen, die sie erreichen wollte, erreicht sie kaum, weder als Akteurinnen noch als Zuschauerinnen. Trotzdem ist es für Adrineh die Erfüllung, sie gibt sich überzeugt, dass man auch in einem schlüpfrigen Umfeld authentisch sein könne. Ihr Ziel sei die Ehrlichkeit im Umgang mit Menschen. Porno ohne Ausbeutung. Allem voran gehe es ihr um die Ethik. »Moral interessiert mich nicht, Moral ist von der Gesellschaft gemacht, ist eine künstliche Norm.« Dass auch ihr Begriff von Ethik, nämlich wie man mit der Würde des Menschen umgeht, ebenfalls von Kulturkreis und Tradition geprägt ist, ist ein Widerspruch, um den sich die Pornoproduzentin nicht weiter kümmert. Was ist gut und was ist böse? Die Grundfrage der Ethik hat auch keine absolute Antwort. Aber Pornografie ist nicht Philosophie. Zu anderen Zeiten oder in anderen Ländern wäre selbst ihr ethischer Zugang zu Nacktheit und Sex als höchst verwerflich eingestuft. Im Wien von heute lässt man sie gewähren, es stört niemanden, tut keinem weh. Aber sie gibt sich unbeirrt in ihrem Anspruch, sie könne »mit feministischer Pornografie die Geschlechterrollen und die Gefühle der Frauen neu beleuchten«.

Eine Rückkehr auf die Opernbühne schließt die Mezzosopranistin kategorisch aus. Sie ist von ihrer Mission der Pornografie überzeugt, gerade in einer zurückhaltenden, konservativen Stadt wie Wien. »Ich bleibe auch sicher in Wien«, außer Österreich würde ihr mit einem neuen Pornografiegesetz das Leben schwer machen. Dann würde sie ins liberalere Holland ausweichen. »Es geht um eine wichtige Sache, es muss gemacht werden«, sagt sie über ihre Berufung, so, als würde ein Politiker die nächste Sozialreform verteidigen. Pornografie als politische Botschaft.

Weltverbesserung ist ja wirklich wichtig.