II

Der ehemalige Grenzverlauf ist von meinem Balkon aus gut sichtbar. Der Mauerweg, mit einer Doppelreihe Kopfsteinpflaster, ist eine beliebte Tour, weshalb jede Menge Radfahrer täglich an meiner Wohnung vorbeifahren. Die Wohnhäuser der Ostseite bildeten vor dem Mauerbau noch die Grenze, der Gehweg war bereits Westen, sodass die Flucht eigentlich nur ein Sprung war. Da nicht wenige diesen Sprung gewagt haben, mauerte man die unteren Etagen schließlich zu, weshalb sich Leute aus höheren Etagen, manchmal sogar von den Dächern aus in die Tiefe stürzten.

Olga Segler war eine von ihnen. Eine Geschichte, die ich mal im Unterricht gehört hatte. Olga Segler war in der Bernauer Straße so dermaßen von den Sperrmaßnahmen betroffen, dass ihre Tochter, die auf der anderen Seite lebte, sie zur Flucht ermutigte. Ein paar Wochen harrte Olga Segler in ihrer Wohnung noch aus, bis eine große Räumungsaktion Tausende von Menschen aus ihren Wohnungen zerrte. Olga Segler machte sich also zum Sprung bereit. Das muss man sich erst mal vorstellen. Unten stehen die Leute mit den Sprungtüchern, daneben eine Tochter, die ruft: »Du kannst es schaffen«, und oben ziehen sie an dir, weil du nicht springen sollst. Olga Segler war 80 Jahre alt, als sie aus ihrem Fenster im zweiten Stock sprang. Sie verletzte sich beim Aufprall am Rücken und starb.

Zwei Frauen versuchten im September 1961 ebenfalls einen solchen Sprung, weil sie gehört hatten, dass es nur ein paar Stunden zuvor zwei Männern geglückt war. Die West-Feuerwehr war auf solche Jetzt-oder-nie-Momente vorbereitet, rückte sofort mit Sprungtüchern und Tränengas an, um den Fluchtversuch der Frauen womöglich noch zu verhindern. Aufgeblasene Luftpolster unter den Sprungtüchern sollten das Gewicht der Körper besser auffangen.

In meiner Straße wurde das Sprungpolster erfunden.

*

Ich mag meine neue Wohnung. Sie ist klein. Anderthalb Zimmer. Die anderthalb Zimmer sind aber nur ein Übergang, denke ich. Es ist die letzte Übergangswohnung, bevor ich in die Wohnung ziehen würde, in der ich dann den Rest meines Lebens verbringen wollte. Motivation in verzapften Zeiten ist wichtig. Schweren Herzens habe ich meine Bücher in Brunos Wohnung zurückgelassen. Noch nie habe ich nach einem Umzug nicht meine Bücher am ersten Abend wieder in die Regale eingeordnet. Die Bücher sind ein Teil meiner Persönlichkeit, sie verraten wahrscheinlich mehr über meinen Charakter als meine Texte. In den Keller habe ich damals Bücher gebracht, die oben keinen Platz mehr hatten. Und Bücher, die Bruno und ich doppelt besitzen. Ansonsten noch Dinge, die man eigentlich nicht braucht, aber bei denen es gut ist, wenn es sie noch irgendwo gibt. Die alten Tagebücher, die ich aus Brunos Keller holte, staple ich am ersten Abend neben meinem neuen Bett. Das kleine linierte Notizbuch mit chinesischer Malerei vorne drauf. Die Ecken sind blau, innen die Seiten sind rosarot. Die ersten Sätze: Heute kam ein Brief aus der Schule. Meine Versetzung ist wohl stark gefährdet.

Manchmal genieße ich den neuen Weg in die Kita, den neuen Supermarkt mit einer Tchibo-Ecke neben der Frischetheke. Ich plaudere mit den neuen Nachbarn im neuen Hinterhof. Die neue Bücherei für den Jungen hat eine große Leseinsel mit Kissen. Das Erkunden meines neuen Viertels setzt in mir Kräfte frei, als hätte ich gerade eine neue Liebe gefunden. Als könnte ich die Frau, die ich vorher war, einfach von mir abstreifen.

Wer ich jetzt sein will, weiß ich noch nicht genau. Kann ich eine Frau sein, die morgens joggen geht? Eine alleinerziehende Mutter mit Affären, wenn der Junge bei seinem Vater ist? Kann ich die Frau, die ich bin, so deutlich in der Mitte durchreißen? Muss ich nicht jetzt wieder alles von Neuem lernen? Neu atmen, neu gehen und neu schlafen. Neu Küssen lernen. Der erste Versuch gleich eine Bruchlandung.

Da stand ich in einem dunklen Raum nicht weit von der Jannowitzbrücke mit einer Discokugel über mir. Die Musik dröhnte, ein Mann kam in der Menge tanzend auf mich zu. Es sah aus, als hätte er Drogen genommen, was sich gut traf, denn ich sah aus wie eine Frau, die einen Mann im Rausch wollte. Ich war geschminkt und hatte etwas Nettes an. Ich sah ganz bestimmt nach Nur-eine-Nacht aus. Der Mann kam immer näher.

Ich sagte: »Ich bin geimpft.«

»Was?«

»Ach. Vergiss es.«

Wir fingen an zu tanzen, er legte seine Hand um meine Hüfte, was mir erst gut gefiel und mir dann zu aufdringlich wurde. Er küsste mich.

Die Bewegung im Raum, die laute Musik belasteten mich, ich fiel aus meiner Rolle als Frau, die nach Sex suchte. Ich sagte: »Ich würde echt gerne zu Hause YouTube schauen.«

»Was?«

Ich rief: »YouTube! Ich will YouTube schauen.«

Ich bekam Angst, er könnte denken, ich meinte einen Porno.

Mein Kopf drehte sich wild von links nach rechts, dann wedelte ich noch mit den Armen dazu. »Kein Porno. Eine Doku! Über die Royals!« Der Typ drehte sich um und tanzte, ohne dass ich es ihm verdenken konnte, woandershin. Dann sah ich meine Freundin Linda, wie sie kopfschüttelnd in meine Richtung blickte.

Zu dieser Zeit hörte ich wieder unglaublich viel Musik aus den Nullerjahren. Was ist eigentlich aus den Sängerinnen von Atomic Kitten geworden? Ich las Marion Braschs Familienroman Ab jetzt ist Ruhe, was mir half zu verstehen, dass vermutlich jede Familie ein Ding an der Glocke hat. Thomas Braschs Lyrik, die ich immer mehr für mich entdeckte, beeindruckte mich. Eigentlich wollte ich nur ein Bändchen haben, aber die Buchhändlerin bestellte dann versehentlich eine Gesamtausgabe, die ich, als sie sie mir über die Theke reichte, kaufte, weil ich mich nicht traute, ihr zu sagen, dass ich eigentlich nur ein Bändchen wollte. Ich bin im Besitz von 791 Seiten Gedichten und 302 Seiten Anmerkungen.

Auf arte hatte ich einen Film über Thomas Brasch gesehen. Das Wünschen und das Fürchten. Eine Szene habe ich mir etliche Male angeschaut: Thomas Brasch betritt eine Wohnung. Es ist eine große Wohnung mit großen Fenstern am Schiffbauerdamm 5, direkt neben dem Berliner Ensemble. Einziehen möchte er in diese große Wohnung, die Vermieterin ist bereits für die Übergabe dort. Brasch hat seinen Freund Christoph Rüther dabei. Seit Wochen filmt und interviewt er Brasch. Brasch ist zu diesem Zeitpunkt, Mitte der 90er-Jahre, mit seinem Leben fast fertig. Das wissen natürlich weder Brasch selbst noch sein Freund. Die Vermieterin auch nicht. Der Schriftsteller ist ihr suspekt, schließlich hüpft der aus dem niedrig gelegenen Fenster in eine Art Hinterhof und behauptet, dies sei der schönste Teil der Wohnung. Unter freiem Himmel. Und doch, obwohl niemand weiß, dass Thomas Braschs Herz nur ein paar Jahre später, am 3. November 2001, versagen wird, hat dieser Film etwas Abschließendes. Trägt das unmittelbar Bevorstehende mit sich herum. Der Mann ist abgekämpft. Vom Koks und von der Ungehorsamkeit. Einer, der die DDR für die BRD verließ, aber dort nie ankam. Brasch erzählt von seinem Leben, seinem Denken, seinem Schreiben. Immer wieder gibt es Sequenzen, in denen Brasch allein in seiner Wohnung am Schiffbauerdamm mit der Handkamera herumläuft, die Fenster weit geöffnet, es läuft Musik, man kann die Spree sehen. Brasch sagt: Es ist die Wunde, die ihn interessiert, der Riss, der durch den Menschen geht. Dreimal habe ich diesen Film schon gesehen.

Meine Lieblingsstelle: Die Vermieterin verlässt nach Vertragsunterzeichnung die leere Wohnung. Sie gehört jetzt Thomas Brasch. Was macht er? Er geht erst mal duschen.

Ich treffe mich am nächsten Morgen mit Bruno draußen, um den Jungen abzuholen. In seinem Kiez fühlt Bruno sich wohl. Der Kiez, der von meiner neuen Wohnung aus jetzt auf der anderen Seite des Kanals liegt. Es gibt hier keine Theke, an der Bruno noch nicht gesessen hat.

Zu dritt laufen wir ein Stück am Maybachufer entlang. Rechts der Kanal und links flanieren die Leute. Selbst im Vorbeigehen betrachtet Bruno alle sehr genau, der Junge ist ein bisschen vorgerannt. Bruno war immer schon ein Mann, der die Begegnung sucht. Und einer, dem auffällt, wenn ich Lippenstift trage. »Es ist hübsch, was du da anhast«, sagt er fast beiläufig, während seine Augen genauestens hinsehen. »Danke«, entgegne ich und streiche mir nervös durch die Haare. Bruno senkt jetzt den Kopf beim Laufen und beißt sich auf die Unterlippe. Im nächsten Moment rückt er sich mit dem Finger die Brille zurecht, darauf folgt ein schelmischer Blick rüber zu mir, ein kleines Lächeln. Es ist der typische Bruno-Charme, dem ich immer noch sofort erliege.

Nicht weit vom Kottbusser Tor liegt unser altes Büro. Wir laufen zu der Brücke dort, und Bruno erzählt von seiner Arbeit. Den Texten, die er in nächster Zeit schreiben würde. Ich erzähle, mein Buch sei nun schon im Druck, und es sei nicht mehr lange hin bis zum Erscheinen. Es fühlt sich recht normal zwischen uns an. Wir biegen auf die Brücke. Oft sammeln sich genau an dieser Stelle am Kanal viele Schwäne. Ein Mann steht mit seinem Sohn an der Reling, der Sohn zeigt auf die Schwäne. Ich blicke zu ihnen herüber.

»Und? Willst du den Mann schubsen?«

»Also, Bruno! Natürlich nicht.«

Wir müssen lachen. Unser Kind schaut ebenfalls auf das Wasser, dreht sich abwechselnd zu mir und zu Bruno.

Bruno sagt: »Er fehlt mir.«

»Mir fehlt er auch.«

»Vielleicht können wir die gemeinsamen Abendessen zu dritt weitermachen.«

»Das wäre doch sehr nett.«

Bruno nickt.

Die Verabschiedung ist eine Umarmung, die länger als gewöhnlich ist, ich weiß nicht, wer von uns beiden nun nicht loslässt. Ankerklause prangt auf einem Schild kurz hinter der Brücke zum Kotti. Bruno blickt auf die Uhr, und ich sehe jetzt erst, dass er ein neues Hemd trägt.

Ich stehe noch eine Weile mit dem Jungen auf der Brücke und beobachte die Schwäne. Dann laufen wir runter bis zum Kottbusser Tor, wo sich die Spätis und Dönerbuden um das riesige Blockgebäude reihen, wo die Satelliten-Schüsseln sich von Balkonen strecken wie Blumen, die sich zur Sonne drehen.

Wir gehen in ein italienisches Restaurant. Großen Hunger habe ich nicht, aber ich bestelle zu den Nudeln eine Vorspeise. So wird es jetzt immer sein. Der Kellner bringt die Vorspeise zusammen mit den Nudeln, ein Versehen, für das er sich entschuldigt. Ich winke ab, der Junge hat schon längst den Mund voll mit Nudeln.

Im Restaurant läuft auf einmal laut Felicità, ein Lied, das ich schon seit Jahren nicht mehr gehört habe. Ich genieße den Anblick des Jungen, der nicht aufhören kann, sich die Nudeln in den Mund zu stopfen. Es gibt keinen besseren Anblick als ein Kind, das ordentlich reinhaut. Ich könnte auf der Stelle losheulen. Das Lied erreicht seinen Höhepunkt, der Stimmwechsel zwischen Al Bano und Romina Power wird immer kürzer, immer leidenschaftlicher. Mich überfällt das Lied regelrecht, ich fühle Schmerz und Zuversicht in exakt demselben Moment.

»Wir gehen jetzt gleich nach Hause. Okay, Mausi?«

Der Junge möchte noch ein Eis, und ich sage, so viele Kugeln, wie er will. Ich denke an Bruno und unseren ersten Kuss. Damals. Zwei Menschen, die einander noch nicht enttäuscht haben.

*

Abends liege ich mit dem Sohn im Bett. Manchmal lasse ich einen Fuß aus dem Bett hängen. Es fühlt sich dann so an, als wäre mein Fuß, anders als der Rest meines Körpers, schwerelos. Ich habe keine Erklärung dafür, warum ich das als angenehm empfinde. Lange kann ich in diesem Zustand nicht verweilen, weil mein Fuß irgendwann kalt wird. Ich ziehe das Bein dann zurück ins Bett. Das ist auch angenehm. Wenn sich die Wärme wieder gleichmäßig in meinem Körper verteilt. Es ist schon höchst eigenartig, dazuliegen und darauf zu warten, dass jemand einschläft, der man nicht selbst ist.

Mein Handy vibriert.

Bruno, 19:23 Uhr.

Er ist so ein guter Junge. Ich werde dir ewig dafür dankbar sein, dass du ihn mir geschenkt hast.

*

Es gibt einen Anruf, den ich niemals vergessen werde. Er kam drei Monate, nachdem ich Mutter geworden war. Ich war eifrig damit beschäftigt, in meine Rolle hineinzuwachsen, traf mich mit anderen Müttern, kaufte viel zu teure Windeln und war vor allem mit mir und dem Baby beschäftigt.

Am Tag, als der Junge geboren wurde, kam die Familie ins Krankenhaus. Ein großer Blumenstrauß in der Hand meiner Mutter, Ballons in der meines Vaters. Mein Vater hatte sich nicht besonders in die Schwangerschaft eingebracht, anders als meine Mutter, die ständig Dinge gekauft hatte und mit jeder neuen Fuhre das Kinderzimmer zu einem bunten Kaufhausspielplatz hatte werden lassen. Sie schlug mir Namen vor, wenn sie gerade im Fernsehen einen gehört hatte, der ihr gefiel, und sie kam mit zu einer Ultraschalluntersuchung. »Kannst du glauben, dass das da in mir wächst?« Wir staunten über die schnellen Bewegungen in meinem Bauch; es war ein wundervoller Blickwechsel zwischen mir und meiner Mutter. Ich genoss ihre Vorfreude auf ihren Enkel, den sie mit einem Erstaunen bedachte, als wäre es ihr erstes und nicht ihr drittes Enkelkind. Eine herrliche Eigenschaft meiner Mutter, sich über Dinge mit dem ganzen Herzen zu freuen und es alle im Raum wissen zu lassen. Mein Bruder und seine Frau waren ebenfalls gespannt, man könnte also sagen, die Familie geriet in Schwung.

Angesteckt davon saugte ich alles in mir auf, was das Bekommen eines Babys betraf. Ich lag auf der Couch und studierte etliche Ratgeber zum Thema Stillen, zum Thema Wachsen, zum Thema Pubertät und kannte mich plötzlich mit Diabetes und Hormonen aus. Ich erstellte eine Liste mit Dingen, die für die Erstausstattung gekauft werden sollten. So richtig fleißig mit Preistabelle und kleinen Notizen, ob wir Dinge gebraucht oder neu anschaffen sollten. Die Liste gab ich für meinen Bruder frei, der eintragen sollte, was er noch von seinen Kindern an Zeug übrig hatte. Es war vor allem Zeit, die ich investiert hatte, damit sie schneller verging. Ich meldete Bruno und mich bei einem Geburtsvorbereitungskurs an. Der über sechs Wochen verteilt, nicht der im Schnelldurchlauf an einem Wochenende. Drei Wochen mit den Vätern und drei Wochen ohne. Ich hörte dort etwas von einer Saugglockengeburt, bei der ich mir nur schwer vorstellen konnte, wie sich das anfühlen sollte. Eine kleine Halbkugel aus Silikon würde mir dabei in die Vulva eingeführt und an den Kopf meines ungeborenen Kindes gelegt werden. Die Hebamme hatte mithilfe eines Beamers ein Foto von einer Saugglocke an die Wand projiziert, die mich unweigerlich an einen Abflussreiniger erinnerte. Kind andocken und dann ziehen. Es klang nicht sonderlich kompliziert, aber irgendwie brutal. Ich stellte mir vor, wie ich mit letzter Kraft nach vielleicht einem 18-stündigen Wehen-Marathon und diesem Saugdings in meiner Vulva zu pressen anfing und mir in exakt diesem Moment die Hebamme auf den Bauch sprang. Zumindest sagte die Hebamme, es könnte passieren. Die Geburt war schließlich ein Kaiserschnitt.

Drei Monate war der Junge jedenfalls alt, da rief mich morgens meine Mutter an, um mir zu sagen, dass nun alles zerbrechen würde. Dabei war ich gar nicht darauf vorbereitet, dass nun alles zerbrechen würde, es fing ja eigentlich gerade erst alles an. Der Junge lag vor mir im Schlafzimmer auf seinem Lammfell, ich machte Grimassen und streichelte ahnungslos seinen Bauch. Die Worte meiner Mutter sind so glasklar in meiner Erinnerung, weil es Worte waren, die ich niemals aus dem Mund meiner Mutter erwartet hätte: »Dein Vater hat mich verlassen.«

Genau da zerbrach es. Und man weiß ja nie, was einem alles noch bevorsteht, wenn so ein Telefon plötzlich klingelt oder ein Brief verschickt wird. Alles ändert sich in nur wenigen Sekunden, man kann die Dinge, die einem passieren, nicht aufhalten. Noch viel weniger weiß man, in welche Richtung sich das, was passiert, wenden wird, ob in eine gute oder in eine schlechte, ob man dadurch schlauer oder dümmer, stärker oder schwächer wird.

Im ersten Moment dachte ich, meine Mutter macht einen Scherz, so gefasst, so neutral war ihre Stimme. Ich glaubte ihr kein Wort.

»Was redest du da?«, fragte ich.

Meine Mutter wiederholte ihre Worte. Und sie sagte: »Dicke, ick meine es ernst. Er is weg.«

Er, der doch für die Familie 30 Jahre lang alles gut und richtig gemacht hatte, der meiner Mutter Dinge aus Holz gebaut, ihr schöne Blumen gekauft hatte, sie zum Lachen brachte und ihre Lieblingssendungen aufnahm, wenn sie Spätschicht hatte. All das Glück meiner Kindheit, der Geruch von frischer Farbe in der gesamten Wohnung, weil mein Vater einen unserer Urlaubsorte auf die Wand gemalt hatte und meine Mutter sich so sehr über den täglichen Anblick der Salzburger Landschaft freute. Das Pech meiner Kindheit. Die Zeit der Arbeitslosigkeit meines Vaters. Als er wochenlang auf Montage gewesen war, irgendwo in Deutschland, auf irgendeiner Baustelle. Die Tränen meiner Mutter, wie sie Tropfen für Tropfen in den Samt der Wohnzimmercouch fielen, weil sie meinen Vater hinterher nicht bezahlt hatten. Dieselbe Couch, auf der sie im Jahr darauf saß, während mein Vater sich am helllichten Tag eine Zigarre anzündete und mit einem Arbeitsvertrag wedelte, der alles Schwere von ihren Schulten wehte. Alles hatte ich von der Wohnzimmertür aus über die Jahre hinweg beobachtet. Meine Eltern, sie und er, beide zusammen, waren unschlagbar.

Die Stimme meiner Mutter wurde brüchiger.

»Aber wo ist er denn hin?«, fragte ich.

Meine Mutter atmete schwer.

Noch nie hatte ich meine Mutter schlecht über meinen Vater sprechen hören. Jedes Geheimnis, das ich ihr mal anvertraut hatte, wanderte schnurstracks zu ihm. Ein Misstrauen meiner Mutter gegenüber war gewachsen, ein wildes Tier mit Fell und sabbernder Schnauze stand zwischen uns und fing an zu kläffen, wann immer ich das Bedürfnis hatte, ihr etwas zu erzählen. So war es mein Vater, dem ich die meisten meiner Gedanken anvertraute.

Ich ließ mich aufs Bett fallen, schaute regungslos dem Jungen dabei zu, wie er sich gerade zum ersten Mal von allein auf den Bauch drehte; all die Liebe, die ich für ihn empfand, in genau diesem Moment, während meine Mutter weinte und schniefte. Es war schlicht unmöglich, was meine Mutter da gerade gesagt hatte. In meinem Kopf donnerte der Satz weiter. Dein Vater hat mich verlassen.

Ich hörte die Stimme meiner Mutter, all die Verzweiflung und Scham darüber, dass sie es, aus welchen Gründen auch immer, nicht geschafft hatte, den Mann bei sich zu behalten, dem sie selbst jahrzehntelang zur Seite gestanden hatte. Ich weiß nicht, warum, was den Zweifel sofort in mir aufkommen ließ, aber ich war mir sicher, mein Vater hatte einen guten Grund. Er war keins dieser gewissenlosen Arschlöcher, das die Familie einfach so verließ. Meine Mutter musste etwas getan haben, irgendwie eine Verantwortung dafür tragen, dass er gegangen war. Ich schlug mich auf die Seite meines Vaters, noch bevor ich ihn angehört hatte.

Wir legten auf. Ich nahm den Jungen auf meinen Arm, brachte ihn in seine Babywippe, die ich vor die Balkontür stellte. Ich setzte mich neben Bruno. Ich sagte: »Wenn du Schluss machen möchtest, wird es ab jetzt okay für mich sein.«

Die Tage nach dem Anruf meiner Mutter waren höchst eigenartig. Ich brach in Tränen aus, als ich aus dem Briefkasten den neuen Ikea-Katalog mit einer Familie vorne drauf zog. Es wollte einfach nicht in meinen Kopf sickern, dass meine Eltern fortan kein Paar mehr waren. Jeder Versuch, meinen Vater zu erreichen, versiegte ins Nichts. Noch nie hatte ich meinen Vater nicht erreicht, und allmählich bekam ich die Gewissheit, dass er nicht nur meine Mutter verlassen hatte, sondern auch mich. Immer wenn ich an diese Woche zurückdenke, ist es, als würde sich plötzlich eine Wolke vor die Sonne schieben und Schatten auf mich fallen.

Ich öffne die Balkontür und lasse frische Luft in die Wohnung. All die Hunderten Gedanken, die ich mir seit zwei Jahren über meinen Vater mache, die wenigen Antworten, die ich auf meine Fragen bekomme. Immer das Gefühl, alles im Leben hat zwei Seiten, es gibt unterschiedliche Perspektiven in jeder Situation, er muss einen guten Grund gehabt haben. Ich denke an das Gedicht von Erich Kästner. Die Sachliche Romanze. »Als sie einander acht Jahre kannten (und man darf sagen, sie kannten sich gut), kam ihre Liebe plötzlich abhanden, wie andern Leuten ein Stock oder Hut.« Am liebsten würde man den beiden lautstark zurufen: Jetzt redet halt miteinander! So ging es mir mit meinen Eltern. Es wird ja vermutet, dass das Gedicht eine Verarbeitung von Kästners Beziehung zu Ilse Julius ist. Eine selbstbewusste Chemiestudentin, mit der Kästner acht Jahre lang in Dresden zusammen war. Sie trennten sich 1926 nach einer sechsstündigen Aussprache, die »schnell vom Zaun gebrochen werden musste«, wie er später Mutter Kästner in einem Brief berichtete. Weinend soll Ilse Julius in den Zug gestiegen sein und zum Abschied gewinkt haben. Betrogen hat Erich die Ilse, aber Genaueres weiß man nicht. Ich wusste auch nichts Genaueres. Meine Mutter war nicht schuld. Das denke ich heute. Vielleicht passierte meinen Eltern, was den meisten Menschen passiert: Ihre Liebe kam ihnen plötzlich abhanden.

*

Am nächsten Morgen stehe ich erst spät auf. Die Freude über den Umzug in die Wohnung, der Schmerz über die Trennung von Bruno, beides hat meinen Kopf zu einem Geschwür aus Verwirrung anschwellen lassen. Es ist verrückt, dass diese Ereignisse mich zu einem inneren Rückzug zwingen. Anstatt nach draußen zu gehen, die Sorgen abzulegen, gammle ich allein vor mich hin. Zum Schreiben fehlt mir die Motivation, auf Spazieren habe ich keine Lust. Ich warte einfach nur darauf, dass alles besser werden wird. Das Warten auf ein richtiges Leben führt zu einer Endlosschleife von Enttäuschungen. Stillstand ist jetzt meine Feindin. Worauf warte ich? Dass ein Mann plötzlich zu meinem Fenster hereingeflogen kommt? Dass mein Vater wieder zurück nach Berlin zieht? Die Spülmaschine sich von selbst ausräumt? Ich verpulvere so viel Zeit mit Nichtstun, dass es keine Überraschung ist, dass absolut nichts passiert. Das Traurige an der Sache mit meinem Leben ist ja, dass ich alles auf Momente der zufälligen Begegnung setze und dabei vergesse, dass ich dafür die Wohnung verlassen muss. Ich muss mich aufraffen, meine gescheiterte Beziehung vergessen und einfach die Wohnung verlassen. Wozu auf den Zufall hoffen?

Eine grausame Stunde lang dauert es, bis ich mich aufraffen kann, meinen Gedanken Folge zu leisten. Meine Mutter schreibt, ich solle mich mal wieder melden. Und ob alles okay mit der neuen Wohnung sei. Der Sohn ist bei Bruno, ich starre an die Decke. Ich starre so reglos an die Decke, man könnte meinen, dort liefe ein langweiliger Spielfilm. Aber da läuft kein langweiliger Spielfilm, da sind nur schwarze Risse. Linda ruft an.

»Hey, Babe, kommst du heute zu mir in die Gegend?«

»Sind wir verabredet?«

»Nein. Aber kommst du her?«

»Ich kann nicht. Ich muss rumliegen.«

»Ey! Du weißt doch. Die Welt hat nichts übrig für diejenigen, die im Bett liegen. Also, aufrappeln!«

»Überzeugende Worte.«

»Schaffst du es zu mir?«

»Ja, ich komme.«

Eine Stunde später sitze ich frisch geduscht im Auto, auf dem Weg nach Prenzlauer Berg. Wie immer, wenn ich im Prenzlauer Berg bin, habe ich sofort das Gefühl, ich bin in einer anderen Welt. Die Leute sind anders, die Geschäfte sind anders. Selbst das Wetter ist hier anders, denke ich manchmal.

Linda und ich treffen uns am Kollwitzplatz. Wir wollen auf den Markt, um Crêpes zu essen. Der Crêpes-Stand ist nur ein paar Minuten von meinem alten Laden auf der Danziger Straße entfernt. Dort habe ich jahrelang als Buchhändlerin meine Kartenständer rausgerollt, etwa zur selben Uhrzeit, als der Markt geöffnet hat. Die Stände gehen rechts und links ab. Familien laufen dazwischen hindurch, ich sehe ältere Paare, die sich an den Händen halten, Touristen gibt es nur wenige.

Ich trotte an den Ständen vorbei, entdecke einen Tisch mit Muscheln, drücke mir eine Zigarette an, sehe auf meinem Handy nach, ob ich eine Mail von meiner Lektorin oder einem Mann bekommen habe, dann mache ich ein Foto.

Ganz am Ende des Markts rufe ich Linda an, weil ich sie nicht an unserem verabredeten Treffpunkt sehe. Linda navigiert mich auf den Gehweg, bis ich sie schließlich, gekleidet in ein blumiges Kleid, entdecke. Wie eine Schauspielerin steht meine Freundin da, anmutig und schön sieht sie aus, der Rücken gerade, die Augen funkelnd.

»Ach, hier bist du«, rufe ich. »Hallo, meine Liebe, da bin ich.«

Sofort stellen wir uns vor den Crêpes-Stand. Apfelmus mit Zimt und Zucker, die Zutaten meiner Wahl. Der Mann öffnet den Deckel einer Holzkiste, tunkt eine silberne Kelle in den Teig, wartet kurz, dann kippt er den Teig auf die schwarze, runde Herdplatte. Er nimmt einen Teigverteiler aus Holz in die Hand und streicht den Teig zu einem Vollmond. Linda bekommt einen Anruf und läuft ein paar Schritte weg. So genau wie heute habe ich noch nie beim Crêpes-Machen hingeschaut. Der Mann sagt, er habe die letzten Tage nicht gut geschlafen; ich nicke verständnisvoll und sage, die Hitze sei auch für mich kaum auszuhalten gewesen, woraufhin der Mann nickt und sagt, kein Ventilator könne einem bei so einer scheiß Hitze helfen. Er dreht die Crêpe um, faltet sie sorgfältig zu einem Halbkreis, schmiert Apfelmus und Zimt drauf, noch mal umschlagen. Fertig.

Der Eimer mit dem Crêpes-Teig steht in einem Holzkasten. Ich frage, ob der eigens dafür angefertigt wurde. Ja, sagt der Mann und erklärt, der Teig könne darin besser kühl gelagert werden. Er öffnet den Deckel und zeigt mir die Öffnung für den Stiel der Kelle, er zeigt auf einen metallenen Trichter für die Teigspur. Ich bin beeindruckt. Wer mit den Händen schuftet, lässt sich was einfallen, wie es sich leichter schuften lässt.

Die nächsten Kunden stehen schon Schlange. Eine Frau sagt, ihr sei aufgefallen, dass er die letzten Wochen gar nicht da gewesen sei. Der Mann sagt, alle vier Jahre mache er für ein paar Wochen Urlaub in der Heimat. Linda läuft beim Telefonieren hin und her, als würde sie gar nicht mehr mitkriegen, dass sich Menschen an ihr vorbeischlängeln. Sie sieht nervös aus. Lindas Anblick macht, dass ich an meinen Vater denken muss, an das letzte Telefonat, das wir führten, bevor er Berlin verließ.

Mein Vater ist ein sensibler Mann. Er kaschiert es gern mit Witzen, die er reißt. Manche von ihnen sind unangemessen, wie etwa der Witz, den er jedem Jungen erzählte, wenn ich mal einen mit nach Hause brachte, und sei es auch nur zur Vorbereitung eines Referats gewesen. Er ließ sie immer wissen, er hätte eine Knarre. Verziert war sein Gesicht dabei mit der herrlichsten Grimmigkeit. Jedes Mal sahen die Jungs mit Angst und Schrecken in den Augen zu mir rüber. »Papa!«, fauchte ich meinen Vater an. »Der heult bei jedem Film, wenn’s mal kurz traurig wird«, erklärte ich auf dem Weg in mein Zimmer. »Der labert nur Stuss, keine Angst.« Es half auch nicht, wenn er noch mal kurz seinen Kopf durch die Tür streckte und mit seinen zwei Fingern so mafiamäßig ein Ich-beobachte-dich in Richtung des Jungen zeigte. Manchmal musste ich dann doch über meinen bescheuerten Vater lachen.

Oft saßen wir abends zusammen in der Küche, und ich erzählte ihm alles, was mich am Tag beschäftigt hatte. Udo Jürgens war einmal im Fernsehen. Er saß in einer Musiksendung zusammen mit seiner Tochter an einem Klavier, legte seinen Arm um sie, und dann sangen sie zusammen. Liebe ohne Leiden. Mein Vater zeigte auf mich. So schrieb ich selbstverständlich in mein Tagebuch, er sei der beste Mann der Welt. Es sind jene Erinnerungen an meinen Vater, die mein Bild von ihm so dermaßen geprägt haben, dass ich nicht anders kann, als ihn zu bewundern, feierlich und ungebrochen. Ich weiß, er hat auch eine rechthaberische Seite. Eine, die sich nicht für Fehler entschuldigen kann. Da war etwas Launisches, vor dem ich mich manchmal gefürchtet habe. Unterm Strich. Als Kind war ich mir sicher, nichts in der Welt könnte mir passieren, solange mein Vater bei mir war. Dieser Schutz trug mich, auch wenn wir nicht jeden Abend zusammensaßen, wenn ich die Welt erkundete und auf blöde Ideen beim Erwachsenwerden kam. Wohin trägt es ein Kind, das von seinen Eltern in erster Linie geliebt und nicht erzogen wird? Ich begriff es erst viel später: Es trägt einen weit.

*

17. März 2001. Timo Marquardt wohnte nur zwei Busstationen von mir entfernt. Seit der einen Party am Teehaus im Tiergarten hatten wir angefangen, uns in der Schule zu grüßen. Irgendwann verabredeten wir uns für den Abend. Seine Eltern waren in den Urlaub gefahren. Ich sollte für einen Film vorbeikommen. Meinen Eltern hatte ich gesagt, ich würde bei Stella schlafen, was nicht weiter hinterfragt wurde. Mein neues Handy steckte ich als erstes ein, ein Nokia mit dieser grüngelblichen Bildschirmfarbe, Snake konnte man darauf spielen. Das Handy klaute ich, weil ich tatsächlich bei Stella übernachten wollte, nachdem ich bei Timo gewesen war. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich in den kleinen Weg zu seiner Haustür bog. Timo zeigte mir sein Zimmer. Er stellte einen Amaretto auf den Couchtisch, weil ich ihm ein paar Tage vorher gesagt hatte, es sei mein liebstes alkoholisches Getränk. Noch nie hatte ich Amaretto probiert, aber ich fand, es klang mehr nach einer Frau als nach einem Mädchen. Der Film, den wir schauten, war Verrückt nach Mary. Cameron Diaz und Ben Stiller. Sie brauchen ewig, um sich zu kriegen.

»Die haben ja ewig gebraucht, um sich zu kriegen!«, sagte ich.

»Muss man sich denn immer kriegen?«, sagte Timo.

»Manche Leute schon.«

»Welche Leute?«

»Na, irgendwelche Leute halt.«

Timo Marquardt sah aus, als hätte er da noch nie so genau drüber nachgedacht. Er stimmte mir zu, und ich fragte mich, ob ich jetzt vielleicht doch zu forsch gewesen war.

»Mir sind Menschen, die heiraten und Kinder bekommen, ein Rätsel«, sagte Timo.

»Also streng genommen ist die Liebe eine ziemliche Quatschsache«, sagte ich.

»Aber wenn es eine Quatschsache ist, warum verlieben sich dann alle?«, fragte er.

»Weil es eine gute Quatschsache ist. Die beste Quatschsache, die es auf der Welt gibt. Also glaube ich.«

Nach meinem zweiten Amaretto bekam ich Schwierigkeiten. Das Wohnzimmer drehte sich, der Fernseher drehte sich, immer wenn ich zu Timo rüberschaute, drehte er sich auch. Timo machte keine Anstalten, seinen Arm um mich zu legen. Ich war verunsichert. Vielleicht wollte er tatsächlich nur einen Film mit mir schauen. Vielleicht war ich nur ein nettes Mädchen aus der Schule. Der Film ging zu Ende, nichts, außer einem Gespräch, war passiert. Ich ging aufs Klo. Aber eigentlich nur, um mich vor dem Spiegel zu sammeln. Hinter dem Spiegel im Schrank Unmengen von Kosmetika. Parfüms und Pasten. Mein Blick fiel auf eine Postkarte. Ein Gemälde auf einer Postkarte von einem Typen, dessen Ding offensichtlich nackte Frauen gewesen sein mussten. In der Mitte war nämlich eine nackte Frau mit rapunzellangen Haaren zu sehen, die mit der einen Hand ihre Brust und mit der anderen Hand ihren Schoß bedeckte. Mit ihren schmächtigen Schultern, dem langen Hals und der üppigen Taille stand sie in einer übergroßen Muschelschale an einer Meeresküste; eigentlich sah sie eher so aus, als würde sie schweben, umringt von einem eng umschlungenen Paar, das der Nackten irgendwas zupustete, während auf der rechten Seite eine angezogene Frau ihr einen purpurroten Mantel zuwarf. Was genau auf dem Mantel zu sehen war, konnte ich nicht genau erkennen, aber mir gefiel, wie der Stoff im Wind flog, wie er fast die Haarspitzen der nackten Frau berührte. Ob sie etwas Bestimmtes verkörperte? Das Gesicht der nackten Frau strahlte jedenfalls eine ungeheure Ruhe aus, eine Unschuld, die sich mit zu viel Amaretto unmöglich ganz entschlüsseln ließ. Ein bisschen rätselhaft richtete sich ihr Blick nach unten, fast als wolle sie von dem Wirbel um sie herum gar nichts wissen. Im Hintergrund schwappte das Meer mit kleinen runden Wellenbögen, die eher simpel als detailliert gemalt waren, aber mir ein innerliches Nicken abgewinnen konnten. Gäbe es einen Geruch für dieses Bild, dachte ich, würde es nach etwas Süßlichem duften. Vanilleblüten und Mandelmilch vielleicht. Ich ballte meine Hand zu einer Faust, dabei stellte ich mir vor, ich würde ein Knäuel Watte darin kneten, so angenehm weich fühlte sich das Bild auf meinen Augen an. Ich verstand das Bild nicht, aber mir gefiel, was ich da sah.

»Dann gehe ich jetzt wohl mal besser«, sagte ich, als ich vom Klo wiederkam.

Timo sprang sofort vom Sofa auf. »Ich bringe dich noch ein Stück.«

Wir verließen die Wohnung, so zügig, als hätten wir beide gleich noch einen Termin. Ich hatte Probleme, geradeaus zu laufen. Ich fragte mich, bis wohin er mich wohl bringen wollte. Nach zehn Minuten standen wir an der Bushaltestelle, wo ich seit einem Jahr nur dann in den Bus einstieg, wenn er drinnen saß. Es war unglaublich, dass wir jetzt hier nachts zusammen standen. Moabiter Straße/Ecke Rathenower Straße, direkt am Moabiter Gefängnis. Timo sah niedlich aus im Laternenlicht, ich mochte sein Gesicht und die gegelten Haare. Es war nett gewesen, ein schöner Abend mit Amaretto und Film, ich war verliebt. Einseitig, aber das machte mir nichts. Gute Nacht, mein Busjunge. Ich wollte mich gerade umdrehen, da griff Timo nach meinem Arm. Er zog mich zu sich heran. »Ich wollte dich schon den ganzen Abend über küssen.«

Ich riss meine Augen auf.

»Hast du schon mal einen Jungen geküsst?«

»Klar. Schon richtig viele.«

»Okay.«

»Und hast du schon richtig viele Mädchen geküsst?«

»Geht so.«

Wir schauten uns an.

»Timo?«

»Ja.«

»Schon gut.«

»Darf ich dich küssen?«

Ich brachte kein Wort heraus, nur ein Nicken, mehr bekam ich nicht hin. Timo Marquardt nahm mein Gesicht zwischen seine Hände. Er küsste mich. Und ich küsste ihn. Zum ersten Mal fühlte ich die Lippen eines Jungen auf meinen. Der Kuss war schön, aber noch schöner war es, wie er sich langsam nach vorne gebeugt hatte, um mich zu küssen. Ich lächelte, drehte mich um und ging schließlich meinen Weg.

Zu Hause bei Stella ließ ich die gesamte Aufregung raus. »Stella, wir haben uns geküsst!«

Stella applaudierte und sprang mir in die Arme. »Hat er dich mit Zunge geküsst?«

Ich demonstrierte meine Haltung, legte meinen Kopf zur Seite. »Ja, mit Zunge, und es war gar nicht so feucht, wie ich immer dachte. Es hat sich weich angefühlt.«

Wenig später lagen wir im Bett, immer noch war ich betrunken. Stella flüsterte, ich hörte es kaum. »Judith?«

»Ja.«

»Ich bin schwanger.«

*

Als mir Stella am nächsten Morgen ein Ultraschallbild hinhielt, fiel ich noch mal aus allen Wolken. »Du bist echt schwanger?« Stella schaute gedankenverloren aus dem Fenster, ich starrte das Bild von einem Fötus an, der, wie es rechts unten stand, im Dezember auf die Welt kommen sollte, und dann wieder rüber zu Stella.

»Ich lass es wegmachen«, sagte sie, ohne mich dabei anzuschauen.

Ich wusste, Stella hatte schon viel mehr Erfahrung als ich in allem, also widersprach ich nicht. Im Grunde traute ich mich kaum, ihr irgendetwas zu sagen. Stella hatte keinen Vater in Berlin, sondern einen in Süddeutschland, zu dem sie einmal im Jahr in den Sommerferien fuhr. Ihre Mutter war seit ihrem achtzehnten Lebensjahr alleinerziehend. Ich erinnere Stellas Mutter genau, die immer die Fenster weit offen stehen ließ. Auch im Winter war die Wohnung auf Durchzug, was bedeutete, dass ich, wenn ich morgens Stellas Zimmer verließ, um ins Bad zu gehen, das Bedürfnis hatte, mir Jacke und Schuhe anzuziehen. Die Kälte war Grund genug für mich, nicht so oft bei Stella zu übernachten wie sie bei mir.

Das Ultraschallbild war ein Geheimnis zwischen uns beiden, wir trugen es behutsam mit zu mir und sprachen erst wieder darüber, nachdem wir die Bar meiner Eltern geplündert hatten. Es war eine kleine Holztheke mit einer runden Glasscheibe, die mein Vater in den Rahmen eingearbeitet hatte. Ich ließ eine Bacardi-Flasche in mein Zimmer mitgehen. Wir mischten sie mit River Cola von Aldi. Hälfte Bacardi, Hälfte Cola. Ich kotzte schon nach dem ersten Glas in meinen Papierkorb. Stella lachte.

»Hat er sich eigentlich schon bei dir gemeldet?«, fragte sie.

Der Geschmack in meinem Mund war seltsam und unangenehm. »Nein, er antwortet nicht auf meine SMS

»Nimm das nicht so ernst. Kerle sind nun mal so. Du kommst jetzt in eine Phase, wo viele Kerle dich attraktiv finden, mit dir rummachen möchten, aber halt nichts Ernstes von dir wollen.«

»Ich verstehe das alles nicht.«

»Ich steige durch die Sache auch noch nicht komplett durch. Ich habe gelernt, an die Kerle nicht mehr mit zu viel Hoffnung ranzugehen.«

»Aber der eine wird kommen. Oder?«

»Süße, Liebe macht unglücklich.«

»Stella?«

»Ja?«

»Wenn du ein Kind bekommen möchtest, dann helfe ich dir.«

»Sag doch so was nicht.« Stella schaute mich böse an.

»Du bist doch aber meine allerbeste Freundin, natürlich stehen wir das gemeinsam durch.«

Mit 16 schwanger werden stellte in meiner Welt kein Problem dar. Ich hatte Eltern, die zwar nicht vor Freude an die Decke gesprungen wären, aber die sich vermutlich bereit erklärt hätten, mir ebenso zu helfen, wie ich bereit war, Stella zu helfen. »Nur keine Drogen«, sagte meine Mutter immer. »Werdet schwul oder lesbisch, bekommt Kinder oder bringt Sechsen nach Hause. Aber wehe, einer nimmt Drogen.« Was meine Mutter wohl sagen würde, wenn ich ihr von Stellas Schwangerschaft erzählte, fragte ich mich und pustete Zigarettenrauch aus meinem Fenster. »Stella, ehrlich jetzt. Ich bin für dich da. Du bist nicht alleine«, lallte ich.

»Danke.«

»Ich könnte mir einen Job suchen, damit du Babykram kaufen kannst«, lallte ich.

»Würdest du mitkommen in die Klinik?«, lallte Stella.

»Natürlich komme ich mit zu deiner Abtreibung«, lallte ich zurück.

»Robin kommt auch mit, hat er gesagt.«

»Scheiße, du hast ne Abtreibung vor dir«, lallte ich.

»Ja, ’ne scheiß Abtreibung«, lallte Stella.

»Abababab…«

»…treitreitreibung.«

»Du bist besoffen.«

»Du bist besoffen.«

Obwohl das nun schon sehr lange zurückliegt, kommen immer mehr Erinnerungsfetzen in mein Bewusstsein zurück. Der Eingriff damals dauerte nicht lang, die Entscheidung, es zu tun, im Grunde auch nicht, nur die Gedanken an Stella hallten eine ganze Weile nach. Ich weiß noch, wie ich während des Eingriffs mit Robin am Kurfürstendamm spazieren ging. Wir tranken in einem Café eine Limo, erzählten von unserem stressigen Schulalltag und was wir nach dem Abi gerne machen würden. Ich mochte ihn; von allen Jungs, die mir Stella vorgestellt hatte, war er eigentlich am besten, deswegen fand ich es fast schon schade, dass sie keine Eltern werden würden, was ich aber nicht aussprach, weil es bescheuert war, so etwas zu denken.

An diesem Tag schwänzten wir alle drei den Unterricht. Es war nicht Robin, den Stella im Aufwachraum sehen wollte, sondern mich. Die Arzthelferin hatte mich schon auf dem Weg zu Stellas Bett darauf vorbereitet, dass Stella ganz schrecklich weine. Ich huschte durch zu ihrem Zimmer, hielt mich an den Schnallen meines Rucksacks fest, der Blick starr auf den Boden gerichtet, folgte der freundlichen Arzthelferin, die offensichtlich Mitleid mit Stella hatte.

So zerbrechlich, so hilflos wie in diesem Bett hatte ich meine taffe Stella noch nie gesehen. Sie weinte bitterlich, und sie zitterte, was die Arzthelferin mit der Narkose erklärt hatte. Die Arzthelferin verließ das Zimmer. Nichts fiel mir ein, was ich hätte sagen können. Ich nahm Stellas Hand in meine und wartete, bis sie aufhören würde zu weinen. Ob Timo mich ebenfalls begleiten würde, fragte ich mich kurz. Als wir Stella zu Robin nach Hause brachten, saßen wir noch ein paar Stunden zu dritt zusammen auf dem Hochbett. Das Ultraschallbild hielt Stella die ganze Zeit über in der Hand, sie wollte es niemals wegschmeißen. Wir redeten über den Fötus, den es nun nicht mehr gab, das Baby, das er hätte werden können. Darüber, welches Geschlecht es wohl gewesen wäre und wie keiner von beiden auch nur jemals für das Kind hätte sorgen können. Ich glaube nicht, dass unsere Überlegungen besonders hilfreich für Stella waren. Aber was soll man als dummer Teenager schon anderes reden als das, was wir im Fernsehen mal darüber gesehen hatten. Als ich 15 Jahre später in der Praxis meiner Frauenärztin anrief, um zu sagen, ich hielte einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand, sah ich das alles genau vor mir. Die Arzthelferin fragte: »Sind das gute oder schlechte Nachrichten?« Ich sagte: »Ich bin mir nicht sicher.«

Zu dritt sprachen wir also viel über das, was nur Stunden zuvor passiert war. Danach nie wieder. Bei der Verabschiedung wünschte ich Stella eine gute Besserung, so als hätte sie nur eine kleine Grippe zu bewältigen. Stella und Robin trennten sich. Und irgendwann verloren auch wir uns aus den Augen.

Ein paar Tage später schrieb mir Timo eine SMS, wie schön er unseren Abend fand. Ich schrieb zurück, ich fand ihn auch gut. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag auf dem Hof. Ich hoffte, wir würden unseren Abend wiederholen, aber Timo erklärte, er wolle mich nicht noch einmal treffen. Es war gut und alles, aber er war nicht in mich verliebt. Zwei Wochen später kam Timo mit Ulrike zusammen. Sie war auf einer anderen Schule. Irgendwann, ein paar Jahre später, schnappte ich auf, Timo Marquardt hatte sich mit ihr verlobt und ging zum Bund. Es brach mir das Herz, wie man es sich vorstellen kann. Mein erster Kuss war trotzdem wunderschön. Nichts konnte mir das nehmen, nicht mal der Küsser selbst.

*

Ich fahre mit dem Sohn abends in eine Bar in Friedrichshain, um nach meiner E-Zigarette zu suchen. Der erste Monat nach dem Umzug ist vorbeigezogen. Betrunken habe ich in der Nacht zuvor mein Rauchgerät irgendwo in einer Couch verloren.

Bruno hat gesagt, ich soll nicht mehr rumliegen. Und er hat gesagt, wenn ich schon rumliege, dann soll ich wenigstens ein Fenster aufmachen. Bruno weiß, dass ich niemand bin, der frische Luft in die Wohnung lässt, was ja auch immer so ein Streitpunkt zwischen uns gewesen ist. Bruno macht sich Sorgen, ich könnte beim Rumliegen ersticken.

Es ist Sonntag, und ich bin jetzt wieder eine Frau mit einem Nachtleben. Wir laufen in die Bar rein, der Sohn trägt eine Schlafanzughose und Gummistiefel. Etwas irritiert schaut mich die Kellnerin von letzter Nacht an. »Na, wer bist ’n du?«, fragt sie mit aufgerissenen Augen den Sohn, der das erste Mal in seinem Leben in einer Bar steht. Wir plaudern kurz, dann suche ich nach der E-Zigarette. Der Sohn macht es sich auf einem Barhocker bequem. Es dauert nicht lange, und ich finde das schwarze Teil, auf dem immer noch eine Zigarette steckt. Den ganzen Tag habe ich nicht geraucht, und ich möchte sie sofort andrücken. Wenig später sitzen wir wieder im Auto. Der Sohn guckt fröhlich aus dem Fenster. »Einmal müssen wir noch wo hinfahren, ja, Mausi?«

Ich nehme mein Handy und wähle die Nummer. Ich sage:

»Poznan mein Name, ist das hier die Notdienst-Apotheke? Ich hätte gerne die Pille danach.«

Ich schlage mir einmal ordentlich ins Gesicht. Warum zum Teufel nenne ich meinen Namen? Die Apothekerin am Telefon sagt, ich könne kommen. Die Apotheke ist nur ein paar Minuten von der Bar entfernt, also sage ich: »Bis gleich.«

Ich atme einmal tief durch. »Nur ein kurzer Halt!« Dem Sohn scheint es egal zu sein. Wir parken dann in einer Nebenstraße am Ring-Center, und ich verspreche was Süßes, als ich den Sohn aus seinem Sitz hole. Am Schalter steht bereits die Apothekerin. Sie sieht jünger aus als ich, was mich irgendwie erleichtert.

»Ich hatte gerade angerufen. Wegen der Pille danach.« Kleinlaut, wie sonst sagt man so etwas? Der Sohn springt aufgeregt um mich herum. Ob er mal kurz hoch zu der Luke könne. Ich hebe ihn hoch. Mein Sohn: »Hallo.«

Ist das Ihr Kind, fragt die Apothekerin. Ich sage Ja. Zögere ein bisschen und beobachte ihre Reaktion gespannt. »Lustige Geschichte, wie ich zu ihm kam«, sage ich. Der Sohn zieht an mir, und durch die Maske, die die Apothekerin trägt, verstehe ich kaum ein Wort.

»Ich hab sie hier schon für Sie bereitgelegt. Ich muss Ihnen aber vorher noch ein paar Fragen stellen.«

Ich muss mich wirklich konzentrieren, um ein Wort zu verstehen.

»Mama, guck mal, was ich kann!« Der Sohn macht einen Schweinebaumel am Stufengeländer. Ich drücke mein Ohr an die Scheibe, die Apothekerin bemüht sich, lauter, aber dennoch ruhig zu sprechen.

Mir wird plötzlich ganz heiß. Fragen, okay, ein paar Fragen.

»Wann war der letzte erste Tag Ihrer Periode?«

»Oh, Gott sei Dank nur solche Fragen!«

Die Apothekerin guckt mich überrascht an. »Was dachten Sie denn?«

»Ich dachte, jetzt kommen moralische Fragen.«

»Äh, nein.«

Ich sage: »Am fünften.«

»Gut. Und wie lange ist der ungeschützte Verkehr her?«

»15 Stunden.«

»Gut.«

»Kann man so sagen.«

»Wie lang ist Ihr Zyklus?«

»Ich muss schätzen! Vielleicht so 31 Tage.«

»Wie verhüten Sie sonst?«

»Ab jetzt nicht mehr nur noch teilweise mit Kondom.«

Die Apothekerin schließt ihre Augen und rechnet.

»Waren Gefühle mit im Spiel, wissen Sie.«

»Das müssen Sie mir nicht erklären.«

»Ich weiß.«

»Könnte sein, dass Sie Ihren Eisprung schon hatten oder vielleicht noch bekommen.«

»Okay.«

Dann erklärt sie, was ich zu tun habe. Und welche Nebenwirkungen auftreten können. Dass ich eventuell Kopfschmerzen bekommen kann in den nächsten vier Stunden und dass ich mich übergeben könnte. Wenn ich mich übergebe, bringt die Pille nix. Mein Zyklus wird sich jetzt um fünf Tage verschieben.

»Ich bekomme also keine Panik«, sage ich.

»Nein, fünf Tage nach hinten sind normal.«

Ich schaue rüber zum Sohn.

»Okay. Wie viel macht die Pille?«

»38 Euro.«

»38 Euro? Kann die Pille noch was anderes?«

Gleich grinst sie unter ihrer Maske.

»Nehmen Sie sie jetzt zügig, ja?«

»Mach ich.«

Die Apothekerin reicht mir die Pille. Und zwei kleine Gummibärchentüten für den Sohn. Sehr kinderfreundlich, denke ich.

»Eine Frage habe ich doch noch.«

»Natürlich.«

»Kann der Uterus kaputtgehen?«

»Nein, keine Sorge.«

»Danke.«

Wir gehen zum Auto, und ich schnalle den Sohn an. Ich öffne die Packung, steige aber nicht ein. Vom Sohn drehe ich mich weg. Ich nehme einen Schluck Wasser und schlucke die Pille runter. Eine E-Zigarette, dann fahren wir los.

*

Der Junge weckt mich, indem er sein Knie in meinen Bauch rammt. Ich lege meine Hand vorsichtig auf seine Stirn und sage leise: »Guten Morgen, Mausi.« Keine Regung im Gesicht, nur eine schwungvolle Drehung auf die andere Seite. »Mausi, wir müssen wach werden.« Ich rüttle ein wenig am Körper meines Sohnes, der, wenn er schläft, sich wie ein wohlgeformter Wackelpudding in Bewegung setzt.

Der Sohn dreht sich zurück, seine Augen blinzeln. »Ist schon der Hahn da?«

»Ja, es wird Zeit, wach zu werden.«

»Ist gar nicht mehr duster?« Er lächelt.

»Nein, schau.« Ich stehe auf und ziehe die Vorhänge beiseite. Etwas, was mein Sohn sehr gut kann, ist, innerhalb weniger Sekunden von schlafend in springend überzugehen. Mütterliche Hinweise, dass man Stück für Stück wach wird, erst die Augen öffnet, dann die Arme streckt und anschließend nichts weiter macht, als mit geöffneten Augen liegen zu bleiben, liefen bisher ins Leere. »Nicht springen«, sage ich streng und muss trotzdem darüber lächeln, wie viel Motivation in diesem kleinen Körper steckt.

Doch gut, dass ich nicht einfach abgehauen bin. Mein hüpfender, über beide Backen strahlender Junge, der es immer schafft, mich mit seiner Energie anzustecken. Die Zeit, die ich mir nehme, ihn genüsslich zu beobachten, jede Bewegung, jedes Bücken, jedes Drehen innerlich abfotografiere, weil die Woche mit ihm jetzt durch zwei geteilt ist. Ich hänge mehr denn je an dem Jungen, was in mir die Befürchtung zementiert, dass sich unser Band später desto schwerer trennen lassen würde, je stärker es jetzt wird.

»Auf den Rücken!«, ruft der Junge.

Ich wuchte meinen Hintern auf die Bettkante und warte, dass der Junge seine Arme um meinen Hals legt, damit wir abheben können. Merkwürdig, wie wir uns beide in der Wiederholung alter Routinen üben, von denen wir nur ein paar Straßen weggezogen waren. »Schön festhalten!«, rufe ich und erhebe mich langsam. Duuuf-duuuf, Abflug. Der Junge findet es urkomisch, wie ich bepackt mit ihm vor dem Spiegel stehe. Jedes Mal fängt er mit den Beinen an zu zappeln, und ich kreise wie Elvis Presley zu seinen besten Zeiten mit der Hüfte. »Alexa, spiel Suspicious Minds.« Dann laufe ich durch zum Bad, lasse den Jungen runter, gebe ihm einen Kuss auf die Stirn und sage: »Die Fahrt ist zu Ende! Lass laufen.« In der Zeit gehe ich zur Küchenzeile, setze das Wasser auf und drücke den Knopf der Kaffeemaschine. Der Junge kommt aus dem Bad.

»Keine Ratte gesehen.«

»Sehr gut. Willst du Kakao?«

Das Lied spielt zum zweiten Mal den Refrain. »We can’t go on together with suspicious minds. And we can’t build our dreams with suspicious minds.« Ich schließe meine Augen und genieße kurz Elvis’ Stimme. Jetzt gehe ich ins Bad, setze mich auf den Toilettenring und schaue zuallererst in meine Unterhose, ob da Blut ist. Die Apothekerin hatte zwar nichts von Blut gesagt, aber irgendwas in meinem Kopf denkt, es könnte vielleicht so was wie eine Blutung kommen. Der Junge öffnet die Tür, in der einen Hand hat er eine Milchschnitte, in der anderen Hand mein Handy. »Es hat gebimmelt«, sagt er. Bruno hat angerufen, ich drücke auf die Schaltfläche zum Rückruf.

»Hey, ich wollte nur fragen, ob bei euch alles gut ist. Du warst gestern ein bisschen komisch drauf.«

Ich betätige die Spülung. »Nein, alles gut.« Es klingelt an der Tür. »Warte mal kurz.« Schnell ziehe ich meine Hose hoch.

»Guten Tag.«

»Tag.«

»Ich sammle Geld für die medizinische Versorgung von Obdachlosen hier im Kiez.«

»Perfekt!«

Ich nehme das Handy wieder ans Ohr.

»Bruno, ich kann grad nicht. Ruf dich später zurück.«

»Sie können ruhig noch telefonieren.«

»Nee, schon gut. Wo waren wir?«

»Na ja. Also alle spenden immer nur für Kinder in Afrika. Wir dürfen die Obdachlosen aber nicht vergessen.«

»Wow, das ist dein Verkaufsargument, ja?«

»Nicht gut?«

»Komm, ich spende.«

Er holt sein Tablet raus, und ich fülle das Formular aus.

»Was soll ich eingeben? 50 Euro?«

»60 wären besser. Dann sind es fünf Euro pro Monat.«

Der Typ hat Schneid.

»Okay, 60.«

»Moment, ist das eine Mitgliedschaft?«

»Für zwei Jahre.«

»Meine letzte Beziehung hielt viereinhalb Jahre.«

»Okay.«

»Also die Mitgliedschaft verlängert sich jedes Jahr automatisch.«

»Aha.«

»Für die Obdachlosen! Fehlt nur noch die Kontonummer.«

»Gleich hier? Meine Kontonummer?«

»Ja.«

»Alter! Hast Glück, dass ich nicht mit meinem Ex-Freund telefonieren möchte.«

»Hä?«

»Egal. Hoffe, du bist wirklich von einer Organisation.«

»Bin ich!«

»Hast du heute schon Erfolg gehabt?«

»Nee, bist die Erste, ehrlich gesagt.«

»Wie heißt du?«

»Dennis.«

»Dennis, ich bin nicht überrascht.«

Ich schließe die Tür und betrachte meine Wohnung. Die neuen Stühle, die um den alten Tisch stehen. Den Tisch wollte ich unbedingt mitnehmen. In der Mitte jetzt die braune Vase, die vorher auf der Kommode im Flur stand. Vor ein paar Wochen hätte ich noch jemanden gebraucht, der mir sagt, welche Stuhlanordnung besser aussehen würde. Die Stühle gegenüber oder nebeneinandergestellt. Es sieht gar nicht so schlecht aus, wie ich die Tischecke organisiert habe. Zwei Stühle nebeneinander, ich habe das ganz alleine entschieden. So, wie ich entschieden habe, dass der Junge sein eigenes Zimmer bekommt. Es kam mir herzlos vor, mir ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer einzurichten, auch wenn der Junge nichts mit eigenen Zimmern anfangen kann, weil er vor allem da spielt, wo es Spielzeug und Platz gibt. Unter dem Holzschrank im Bad, auf dem Podest auf dem Balkon, dem Teppich neben meinem Bett.

Ab Moabit hatten mein Bruder und ich immer jeder sein eigenes Zimmer. In der Flemingstraße war es aber so, dass ein Zimmer das Durchgangszimmer war. Zu einem kleinen Zimmer ganz hinten, aber auch zum Bad. Die Zimmer tauschten wir regelmäßig. Das große Durchgangszimmer gegen das kleine Hinterzimmer. Im kleinen Hinterzimmer fühlten wir uns beide am wohlsten. Es war das beste Zimmer. Der Notfallplan sah wie folgt aus: Sollte es zu einem Brand oder Einbruch vorne kommen, rechnete ich mir im hinteren Teil der Wohnung höhere Überlebenschancen aus. Man konnte für den Fall, dass vorne bereits alle verloren waren, die Tür abschließen und eilig die Matratze aus dem Fenster werfen. Es waren sechs Schritte. Zwar lebten wir in der zweiten Etage, aber über der ersten Etage gab es eine Plane, die ich liebte, weil bei Regen die Tropfen so schön auf ihr trommelten – auf die hätte ich die Matratze werfen können. Ganz sicher hätte ich mich noch einmal vergewissert, ob wirklich alle verloren waren, mindestens meinen Bruder hätte ich ja retten können, und wäre dann gesprungen.

Wenn ich eine Wohnung besichtige, schaue ich immer nach den Fluchtmöglichkeiten. Ich würde niemals in eine Wohnung oberhalb der dritten Etage ziehen. Und natürlich stelle ich mir immer die obligatorische Frage, welche Dinge ich mitnehmen würde, käme es zu einem Brand. Das Logbuch, in dem ich zwei Jahre lang die Entwicklung des Jungen festgehalten habe, Laptop und Handy, das Hochzeitsfoto meiner Großeltern. Und das Foto von uns vieren kurz vor der Wende. Mama trägt eine Perlenkette, Papa einen Schnauzer.

Ich versuche, mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal an einen Notfallplan gedacht habe. Ich nehme mir aus dem Kühlschrank eine Dose Cola. Morgen ist der Junge bei Bruno. Manche Leute sagen ja, ein eigenes Zimmer lohne sich gar nicht für ein Kind, das nicht die ganze Woche bei einem verbringt. Darüber habe ich lange nachgedacht. Als wir neulich an einer Baustelle vorbeiliefen, blieb der Junge plötzlich vor dem Gerüst stehen, auf dem ein Bauarbeiter stand. »Was baust du denn?«, fragte der Junge, und ich war mächtig stolz, wie er da so stand und auf eine Antwort wartete.

»’nen Haus«, sagte der Bauarbeiter.

»Kann man da einziehen?«, fragte der Junge.

»Klar, du kannst hier in das Haus einziehen.«

»Nee«, sagte der Junge. »Brauche kein Haus mehr. Hab schon zwei.«

*

Ich hole den Jungen pünktlich aus der Kita ab. An seinem Gesicht erkenne ich, dass es ihm nicht passt. Vielleicht erkenne ich es auch daran, dass er sich vor der Kita-Tür auf den Gehweg wirft und laut sagt: »Ich will bei Papa schlafen.«

Sofort dreht sich mir der Magen um. »Mausi, du schläfst heute bei mir.«

Der Junge lässt sich davon nicht beeindrucken, er will bei Papa schlafen. »Nicht bei dir!«

Da stehe ich natürlich nicht schlecht mitten auf dem Gehweg, der Junge mit seinem Hintern auf dem kalten Boden. Mit Mühe bekomme ich ihn wieder aufgesetzt, gehe in die Hocke, streichle ihm einmal über sein Gesicht. Die Stimmung kann bei einem Kind so schnell kippen; ich versuche, nicht zu provozieren, Wut wäre jetzt fatal. Noch mal: »Ich will bei Papa schlafen.« Natürlich weiß er, wo sein Vater wohnt, von der Kita bis zur Wohnung sind es nur ein paar Häuser. Er läuft Richtung Wohnung, er stapft dabei wütend auf den Boden. Jeder Schritt macht deutlich: Der Junge will nicht mit zu mir. Die ausdauernde Kopfkraft, ihn zurückzuhalten, habe ich nicht, also laufen wir über die Straße. Vor der Haustür versucht er dann reinzukommen. Das Tor ist zu. »Bei Papa schlafen. Bei Papa schlafen.« Meine Geduld, sie fliegt weg, ich kann noch sehen, wie sie mir freundlich zuwinkt. Der Junge drückt mich schnell zur Seite, er schubst und fuchtelt mit den Armen. »Ich will bei Papa schlafen! Mama! Ich will bei Papa schlafen! Nicht bei dir! Ich will bei Papa schlafen!«

Von der Haustür aus kann man den Balkon sehen. Ich schlage vor, dass wir doch mal zum Balkon gehen können, weil der immerhin schon mal näher an der Bushaltestelle ist als das Gittertor. Der Sohn ist einverstanden und stapft zum Balkon; die Hoffnung, je länger das hier dauert, desto schneller vergisst er, was er wollte, löst sich in Luft auf. Vor dem Balkon fängt er schließlich an, nach seinem Vater zu rufen. »Nein, es reicht jetzt! Du schläfst bei mir!«

Bruno kommt auf den Balkon, versteht nicht, was da gerade los ist. Der Sohn streckt sich weit nach oben zu seinem Vater, er versucht, den Balkon hochzukommen, seine kleinen Fingerchen versuchen, die knapp zwei Meter hohe Balkonbrüstung zu erreichen. Was für ein Anblick. Ich denke, mein Kind ist ein theatralisches Kind. Tränen laufen jetzt mein Gesicht runter, die Theatralik hat er von mir. Bruno hängt über dem Geländer und redet dem Jungen gut zu.

»Papa, ich will bei dir schlafen!«

Bruno schaut zu mir. »Du schläfst doch aber heute bei Mama.«

Genug! Ich ziehe an dem Jungen, packe ihn an den Armen. »Zu Papa! Zu Papa!«, ruft er, als wäre ich eine Feindin, der er schleunigst entkommen muss.

Ich rüttle an ihm. Ich brülle: »Du schläfst nicht bei Papa, du schläfst bei mir! Hörst du mich? Bei mir!« Die Tränen hören nicht auf zu laufen, der Junge schaut mir direkt in die verheulten Augen. Er ist irritiert, aber lässt nicht ab.

»Ich will bei Papa schlafen!«

Ich lasse den Jungen los und sacke nun ganz runter auf den Boden. Bruno versucht von oben, den Jungen weiter zu beruhigen. Er besticht ihn mit einem Keks. Einem Keks! Das soll helfen. Es hilft. Der Junge, wie ausgewechselt, steht vor mir und beißt in seinen Keks.

»Können wir jetzt gehen?«, frage ich. Der Junge sagt Ja.

Bruno guckt mich an, er hat immer noch nicht ganz verstanden, was da gerade passiert ist. Er sagt: »Tut mir leid.« Mehr als nur abwinken kann ich nicht. Ich nehme den Jungen auf den Arm, wir laufen los zur Bushaltestelle.

»Du bist schwer geworden.«

»Weil ich so viel gegessen habe?«

»Ja, Mausi.«

»Und werde ich mal ganz groß?«

»Ja.«

»Wie Paul?«

»So groß wie Cousin Paul.«

»Wann denn?«

»Paul ist zwölf Jahre alt, und du bist fast vier. In acht Jahren bist du so groß wie der Paul.«

Wir laufen weiter. Gleich sind wir an der Bushaltestelle. Meine Knie sind weich, aber ich drücke den Sohn ganz fest an mich. Unsere Gesichter sind aneinandergeschmiegt.

»Mama«, sagt er.

»Ja, mein Schatz?«

»Jetzt bin ich schon fünf Minuten gewachsen.«

*

Meine Mutter findet, Gartenarbeit ist eine Sache zum Verschnaufen. Ich sitze bei meiner Mutter auf der Terrasse. Jeden Frühling wartet sie ungeduldig auf ihre Hyazinthen und ihren Flieder, die sie im Herbst liebevoll geschnitten und eingepackt hat. Sie zählt an ihren Fingern ab, wie viele Gurkentriebe sie schon gesehen hat. Wenn nicht immer nur diese Blattläuse wären, sie schüttelt ihren Kopf, wenn nur diese Blattläuse nicht wären.

»Ick könnte uns diese Woche noch Kohlrouladen machen«, sagt sie. »Erbsen ham wa auch noch da. Vielleicht ’ne Erbsensuppe, schön mit Speck.« Burghard kommt und streichelt liebevoll ihre Schulter.

»Mama?«

»Wat’n?«

»Ich bin froh, dass du bei mir bist.«

»Wie kommste denn jetzt da druff?«

»Nur so.«

»Ach, meine Dicke.«

*

Die letzten Monate waren die vielleicht anstrengendsten von allen. Ich bin müde davon, ständig über meinen Vater nachzudenken, ich bin müde von den Gedanken an Bruno. Beide Männer immer so präsent – was ich auch tue, ich kann sie nicht verbannen. Nicht wie eine Decke zusammenlegen und in den Schrank packen.

Ab und zu telefoniere ich mit meinem Vater, oder wir schreiben ein paar Nachrichten hin und her. Fragen stelle ich keine. Die Tagebücher aus meiner Jugend habe ich nicht wieder in den Keller getan, sondern weiter neben meinem Bett gestapelt gelassen. Abends lese ich darin. Wenn ich mir die Einträge anschaue, dann überkommt mich natürlich sofort das Grauen, was ich da alles aufgeschrieben habe. Und trotzdem fühlt es sich vertraut an. Ich finde nicht, dass es etwas mit Können zu tun hat, wie ich da die Seiten gefüllt habe. Und doch erkenne ich so viel von dem wieder, was für mein Schreiben bezeichnend geblieben ist. Kleine Momente, die ich festhalten wollte. Es geht um Scham und Scheitern. Um Probleme mit meinen Eltern, um Probleme mit meiner besten Freundin, um Probleme in der Schule und so weiter. Überarbeitet habe ich meine geschriebenen Seiten nie. Es ist kaum etwas durchgestrichen, fast glaube ich, ich habe das, was ich einmal aufgeschrieben habe, danach nicht noch einmal wieder gelesen. Es geht um Gefühle. Die großen und die kleinen. Ich schrieb sie auf, wie sie mir kamen.

Ein Tagebucheintrag, den ich gefunden habe, ist vom 17. März 2001. Ich schrieb über meinen ersten Kuss.

Gedanken umkreisen nur ein Gefühl. Ein Gefühl des frohen Erwachens. Das Langersehnte sich nun endlich zur Realität gewandelt hat.

War es Realität, die mich emporriss, oder war es nur ein Traum?

Wenn ja, möchte ich nie wieder erwachen.

Denn nur allzu schön war es, die Liebe in seinem Herzen auf meinen Lippen zu spüren. Die Liebe, die mich umgarnt, mich in die Luft hebt und mir das Gefühl des vollkommenen Glücks gibt.

Es ist furchtbar. Ich glaube, ich wollte eine Art Gedicht schreiben. Was mir aber daran gefällt, ist nicht der Stil oder die Worte, die ich gewählt habe, sondern der Versuch, etwas über diesen ersten Kuss auszudrücken. Das, was in mir war. Und falls ich diesen ersten Kuss nur geträumt haben sollte, dann dieser daraus resultierende Wunsch einer typischen Jugendlichen, »nie wieder zu erwachen«. Das ist so dermaßen übertrieben, dass ich es schon wieder schön finde. Es macht mich sentimental. Vielleicht auch wegen der Tatsache, dass mein erster Kuss auf denselben Tag wie die Geburt meines Kindes gefallen ist.

Ich schrieb also Texte erst mal nur für mich, als Jugendliche in meinem Zimmer mit Einbauschränken aus Pressspan und Leonardo-DiCaprio-Poster an der Wand. Irgendwann mit Ende 20 stellte ich dann so einen Text ins Internet, weil ich mit meinen Gefühlen und meiner Scham nicht mehr allein sein wollte.

Bis heute verstehe ich mich nur, wenn ich schreibe.

*

Mein Auto steht im Halteverbot, aber nach 20 Minuten durch die Seitenstraßen kurven habe ich keinen Bock mehr. Ich lasse die Scheibe runter und blicke wie eine Kapitänin auf hoher See auf ein Gebäude, das nach wochenlanger Irrfahrt Land bedeuten könnte. Die Fensterscheibe fährt wieder hoch, ich ziehe den Autoschlüssel aus der Zündung. Das Herz schlägt wild, meine Hände sind zittrig, es hilft nicht, wenn ich sie zu Fäusten balle. Die Straße, eine Hauptstraße, ist stark befahren. Es ist schwerer als gedacht, im richtigen Moment aus dem Auto auszusteigen. Unter meinem Arm klemmt ein Buch. Ich laufe schnell über die Straße. Ich stehe vor einer Bankfiliale. Was genau ich hier mache, weiß ich nicht. Wieder umdrehen wäre eine Möglichkeit. Wenn ich Pech habe, ist Timo Marquardt gar nicht da drin, und wenn ich richtig Pech habe, ist er es. Die Möglichkeiten:

1)Er ist nicht da, ich hebe Geld ab und verschwinde wieder.

2)Er ist da und erkennt mich nicht.

3)Er ist da, erkennt mich, will aber nicht mit mir reden.

4)Er ist da, erkennt mich und lacht mich aus.

5)Er ist da und ist sich nicht sicher, ob er mich erkennt.

6)Er ist da, erkennt mich, und ich fange an zu heulen.

Was auch geschieht, auf keinen Fall darf Möglichkeit 6 passieren. Ich öffne die Tür. Die Bank ist voll mit Menschen vor Schaltern. Eine Glaswand trennt die Büros von den Geldmaschinen. Eine Frau steht hinter einem Podest, zu der laufe ich. Möglichkeit 7: Ich eröffne ein Bankkonto, um in die Büros zu kommen.

»Guten Tag, ich würde gerne ein Bankkonto eröffnen.«

»Gut, dann kommen Sie doch einfach mal mit mir mit«, sagt die Frau, die einen strengen Dutt auf dem Kopf trägt.

Ich setze mich auf einen Stuhl und mustere alle Tische. Zwei Plätze sind frei, an dreien sitzen Frauen. Möglichkeit 1: Geld abheben und verschwinden. Geduldig warte ich auf den Dutt. Die Tür geht auf, ein Mann läuft an mir vorbei zu einem der leeren Schreibtische. Ich recke meinen Hals, drehe ihn zu schnell, ein Stechen läuft mir den Rücken runter. Da sitzt Timo Marquardt. Ich drehe meinen Kopf schnell zurück. In meinem Herz liegt eine Bombe, dudumdum-dudumdum, ich zupple nervös an meiner Bluse, gleich werde ich umkippen, wenn die Frau mit dem Dutt wiederkommt. Jetzt oder nie muss ich aufstehen und rüber zu Timo Marquardt marschieren. Ihm sagen, was ich zu sagen habe, und wieder gehen. Jetzt oder nie. Nie, nein, jetzt. JETZT.

Ich erhebe mich vom Stuhl und laufe rüber zu dem Schreibtisch. Ich setze mich auf den Stuhl vor Timo Marquardt. »Hallo.«

Timo Marquardt tippt auf seiner Tastatur. Er trägt einen goldenen Ring am Finger. Dann sieht er zu mir rüber. »Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ein Kredit. Ich würde gerne einen Kredit aufnehmen.«

»Sind Sie bereits Kundin unserer Bank?«

Ich habe keinen Spiegel vor mir, aber ich glaube, mein Gesicht ist in keinem guten Zustand.

»Hallo, Timo. Erinnerst du dich vielleicht an mich?«, sage ich.

Timo mustert mich. Dann streicht er sein Hemd glatt, ordnet die Krawatte und mustert mich weiter. »Ich hab dich schon erkannt, als du mit meiner Kollegin zum Tisch gelaufen bist.«

Dass er das jetzt gesagt hat. Ich bin wieder 15.

»Keine Ahnung, was ich hier mache. Ich war alleine in einem Airbnb, blöde Geschichte. Jedenfalls habe ich etwas Wein getrunken, an alte Zeiten gedacht und habe angefangen, dich zu googeln. So habe ich rausgefunden, was du jetzt machst und wo du arbeitest, schlimm, dieses Internet, aber jetzt sitze ich hier nun mal und muss dir was sagen. Bevor du jetzt was sagst, also ich muss dir wirklich was sagen, und dann bin ich auch schon wieder weg.«

Timo Marquardt sagt nichts.

»Vielleicht kannst du ja sagen, dass du gerne hören möchtest, was ich sagen will.«

»Äh, okay. Ich will hören, was du sagen möchtest.«

»Also damals. Da habe ich gelogen. Als ich sagte, ich habe schon viele Jungs geküsst. Du warst mein erster Kuss.«

»Das dachte ich mir schon.«

»Das war’s.«

»Was?«

»Na, mehr wollte ich dir nicht sagen. Ich habe unseren Kuss nicht vergessen.«

»Ich auch nicht. Offensichtlich nicht.«

»Das freut mich.«

Es ist schon eigenartig, wie ich da in dieser Bank sitze, wie ich vor meinem Jugendschwarm erröte, wie ich einen fremden Mann daran erinnere, dass wir mal einander nicht fremd waren.

»Es ist gut, dich zu sehen.«

Das hat er nicht gesagt, als müsste er das jetzt sagen. Und dann erhebe ich mich aus meinem Stuhl, wünsche Timo Marquardt eine großartige zweite Lebenshälfte, der man ja unbedingt wesentlich mehr Pommes hinzufügen sollte.

Bruno stand nachts vor mir auf der Straße. Von der Bar zu ihm waren es 57 Schritte. Die Straße ging in eine komische Richtung, ich hatte keine Ahnung, wo wir langliefen. Ich fand die Straßenführung in diesem Kiez sehr verwirrend, weshalb ich mich auf meine Schritte konzentrierte. Was, wenn wir uns verlaufen, fragte ich mich.

»Du kennst den Weg aber, oder?«, fragte ich.

Plötzlich stoppte Bruno mitten auf der Straße. Er schunkelte ein bisschen vom Alkohol hin und her. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen. Ich fand, er sah torkelnd ziemlich süß aus.

»Wir müssen uns küssen«, sagte er.

Und ich sagte: »Jetzt sofort?«

Er sagte: »Ja, wir müssen doch wissen, wie es so ist.«

Ich nickte und lächelte ihn an. »Herzen wissen zu leben.«

»Bist du immer so?«

»Ja. Bist du immer so?«

»Ja.«

Und dann küssten wir uns.

*

Campingstühle und Biertische sind zu einem Halbkreis aufgestellt worden. Den Garten in der Buchhandlung kann nichts übertreffen. Meine Bühne ist ein Podest, darauf ein schwarzer Sessel mit einem kleinen Tisch nebendran, auf dem Wasser und ein kleiner Wohnwagen stehen. Über mir hat die Buchhändlerin eine Lichterkette in den Baum gehängt, ein hölzernes Vogelhaus und eine Schaukel. Auf einem runden Tisch, eingehüllt in einen cremefarbenen Bezug, als gehöre er eigentlich auf eine Hochzeit, liegt mein Buch zusammen mit einer Vase, in der eine rote Rose steckt. Daneben stehen Getränke, Sekt und Limo, eine kleine Schale mit Snacks. Mein Vater hat mir am Morgen eine Nachricht geschickt, er wünsche mir viel Erfolg in Leipzig bei meiner ersten Lesung.

Als ich es mir auf einem Stuhl im Garten bequem mache, kommen meine Freunde Chrysch und Bahar an. Lena, die Buchhändlerin, die mich eingeladen hat, ist meine ehemalige Azubikollegin, wir kennen uns seit 14 Jahren, sie strahlt übers ganze Gesicht. Wir umarmen uns alle, ich erzähle von der Zugfahrt, von meiner Aufregung, dass mein Campingbuch nun endlich erschienen ist. Katja Körber kommt dazu, sie hat mein Hörbuch eingelesen, ich bedanke mich euphorisch für ihre gute Arbeit. Lena und ich verabreden einen kleinen Geräuschtest mit dem Mikrofon in den nächsten Minuten, was mir Zeit gibt, noch einmal auf die Toilette zu verschwinden und ordentlich durchzuschnaufen. Mein Mascara ist jetzt schon verschmiert, eine Rettungsaktion vor dem Spiegel wird durchgeführt. Als ich rauskomme, stehen die ersten Leserinnen bereits am Eingang vom Garten. Ich setze mich nach vorne. Sage »Check, check« und »Hört man mich gut«. Noch mehr Besucherinnen und zwei Freundinnen lassen sich in die Campingstühle vor mir fallen. Ich kann nicht zum Ausdruck bringen, wie dankbar ich bin, und lächle wild in die Runde. Ich suche mit den Augen den Garten nach Lena ab. Sind wir startklar? Dann erschrecke ich mich. Von einer auf die nächste Sekunde nehme ich alles nur noch wie ein Standbild wahr. Die Leute reden nicht mehr, die Schaukel hinter mir gibt kein knarzendes Geräusch mehr ab, selbst die Wolken stoppen für einen Moment ihren Zug. Der Garten starrt mich an. Und ich? Ich starre meinen Vater an. Er steht am Eingang, kneift seine Lippen aufeinander und nickt mir zu. Ich bin nicht 35 Jahre alt, bin keine Schriftstellerin. Ich fühle mich wie damals mit 15, wenn mein Vater es doch noch zu einem Basketballspiel von mir geschafft hat. Mein Vater kommt zu mir nach vorn, ich erhebe mich aus meinem Sessel. Wir laufen aufeinander zu, wir fallen uns in die Arme, wir fangen beide sofort an zu heulen.

»Adrian«, flüstert mein Vater.

»Du bist hier«, flüstere ich.

Ich gehe zurück zu meinem Sessel, atme tief, bis in den letzten Winkel meiner Lunge, ein. Und ausatmen. Die Stimmung ist ausgelassen, ich lese den ersten Teil, danach erzähle ich, dass es wirklich so abgelaufen ist. Dass ich selbst nicht mehr so richtig fassen kann, was für einen Quatsch ich da eigentlich gemacht habe. Einen 41 Jahre alten Wohnwagen kaufen – einen Schrotthaufen, wie man ja sagen muss, um meine Familie zu retten. Immer wieder schaue ich zu meinem Vater rüber, den Weihnachtsmann von Leipzig an einem warmen Tag im August. Irgendwann lade ich Katja zu mir nach oben ein, damit sie von ihrer Arbeit am Hörbuch erzählen kann, eine kleine Plauderei über den Beruf einer Synchronsprecherin. Den Leuten gefällt, was Katja erzählt, der Garten ist mucksmäuschenstill.

Nach der Lesung bleibe ich im Sessel sitzen, was ein schwieriger Moment ist, weil man nicht weiß, ob Leute zu einem kommen und ihr Buch signieren lassen möchten oder man dann wie blöde allein vorne sitzt. Mein Vater stellt sich neben mich. Eine Leserin kommt. Die erste Signatur meines Lebens ist für eine Lisa.

Es soll nicht arrogant klingen, aber ich bin richtig stolz, wie mein Vater stolz neben mir steht, weil ich da Namen in ein Buch schreibe. Allmählich wird es dunkel.

»Du hast schön ausgesehen heute Abend«, sagt mein Vater.

»Danke, dass du da warst.«

»Aus dir ist eine elegante Frau geworden.«

»So ein Quatsch!«

»Kein Quatsch.«

»Du bist Schriftstellerin.«

»Und was wünschst du mir?«

Mein Vater lächelt.

»Liebe ohne Leiden natürlich.«

»Ich dir auch, Papa.«