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Sie sahen dem Mann nach, bis er das Restaurant verlassen hatte, dann stand Max auf und ging zur Theke, wo ein dunkelhaariger Mann Mitte vierzig am Monitor eines elektronischen Kassensystems stand und etwas eintippte.

»Kennen Sie den Mann, der gerade an unserem Tisch war?«, fragte Max, woraufhin sein Gegenüber nickte.

»Ja, das war Volker Künsmann vom Weingut Künsmann«, antwortete er mit italienischem Akzent.

»Haben Sie gehört, was er zu uns gesagt hat?«

»Nein.«

»Danke.« Max wandte sich ab und ging zum Tisch zurück.

»Ein Winzer.«

»Ein nicht unbedingt gastfreundlicher Winzer«, kommentierte Wagner. »Er hat mich angesehen, als würde ich Einhörner kacken.« Er betrachtete das vor ihm liegende Tagebuch. »Ich muss gestehen, diese Sache wird immer interessanter.«

Nach etwa anderthalb Stunden zahlten sie und verließen das Restaurant, nachdem Wagner erklärt hatte, von den stundenlangen, einschläfernden Vorträgen in Trier geschafft und todmüde zu sein.

Sie fuhren mit Wagners Auto, das auf einem Parkplatz in der Nähe der Pizzeria stand, und hatten die Pension gerade erreicht, als Eslem Keskin anrief.

»Und?«, begann sie ohne Umschweife. »Wie sieht es aus? Konnten Sie schon etwas in Erfahrung bringen?«

Max berichtete kurz von seinen Gesprächen und endete mit dem Hinweis, dass Dr. Marvin Wagner in Klotten war und sich mit Gabriele Meiningers Tagebuch beschäftigen wollte.

»Wagner«, wiederholte Keskin den Namen. »Das ist doch dieser Paradiesvogel, der bei der Baumann-Sache die Schriftgutachten erstellt hat.«

»Genau der«, bestätigte Max und sah zu Wagner hinüber, der ihn angrinste.

»Und Sie halten es für richtig, ihm ohne Rücksprache mit mir das Tagebuch meiner Freundin zu geben, in dem er ihre intimsten Gedanken lesen kann?«

»Ja, absolut, denn Sie haben mich gebeten, Ihnen zu helfen. Also müssen Sie es schon meiner Einschätzung überlassen, was ich unternehme, um voranzukommen.«

Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Also gut. Ich werde morgen sehr früh aufbrechen, um zeitig im Präsidium zu sein. Ich melde mich regelmäßig bei Ihnen und erwarte, dass Sie mich anrufen, sobald es Neuigkeiten gibt. In der Zwischenzeit ist Frau Brosius Ihre Ansprechpartnerin vor Ort.«

»Wir werden klarkommen«, versprach Max. »Ach, eine Sache noch. Sind Sie von irgendjemandem aus dem Ort aufgefordert worden, Klotten zu verlassen?«

»Nein, wieso?«

Max erzählte ihr von der Begegnung mit dem Winzer in der Pizzeria, woraufhin Keskin sagte: »Das passt ins Bild. Ich habe ebenfalls die Erfahrung gemacht, dass die Menschen hier nicht sehr auskunftsfreudig sind.«

»Nun, ich werde trotzdem weitermachen. Und vielleicht finde ich ja heraus, warum es gefährlich sein kann, im Ort Fragen zu stellen.«

»Seien Sie vorsichtig.«

»Klar, das bin ich«, erwiderte Max und beendete das Gespräch.

»Eslem Keskin«, stellte Wagner fest. »Leiterin des KK 11 in Düsseldorf, humorlos und mit einem argen Defizit an Selbstwertgefühl sowie der panischen Angst, ihrer Stellung nicht gerecht oder von ihren Mitarbeitern als nicht kompetent eingeschätzt zu werden. Beides führt zu einer Übersteigerung von etwas, das sie für Pflichtbewusstsein hält, das letztendlich aber nichts anderes ist als das verzweifelte Flehen um Anerkennung. Und ganz besonders trifft das alles auf den Umgang mit Ihnen zu, lieber Max.«

Max wiegte den Kopf hin und her. »Ich weiß nicht, ich denke, es ist in diesem Fall viel einfacher. Sie war regelrecht vernarrt in Bernd Menkhoff und gibt mir die Schuld an dem, was passiert ist.«

Wagner erwiderte: »Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, lieber Max, dass Keskins Gefühle Ihnen gegenüber nicht in Wut oder gar Hass begründet sind?«

»Sondern?«

»Eifersucht!«

»Eifersucht? Aber …« Max stockte und senkte den Blick nachdenklich. »Sie meinen, sie ist eifersüchtig darauf, dass ich die Gelegenheit hatte, mit Menkhoff zusammenzuarbeiten, und sie nicht?«

»Ganz genau. Aber nicht nur das. Entscheidend für ihr Verhalten Ihnen gegenüber dürfte die Tatsache sein, dass ausgerechnet dann etwas passiert ist, das verhindert hat, dass sie je die Chance dazu bekommen wird.«

Erneut dachte Max über das nach, was Wagner gesagt hatte, bevor er mit den Schultern zuckte. »Vielleicht haben Sie recht, aber wie auch immer … manchmal geht sie mir gehörig auf die Nerven.«

»Und dennoch helfen Sie ihr.«

»Dieser Fall interessiert mich einfach. Ich kann eben nicht aus meiner Haut.« Damit öffnete er die Beifahrertür und stieg aus.

Wagners Zimmer lag schräg gegenüber dem von Max, und nachdem sie einander im Flur eine gute Nacht gewünscht hatten, verschwanden sie in ihren Räumen.

Zum Schlafen war Max noch nicht müde genug, deshalb nahm er sich vor, seine Notizen vom Tag durchzugehen und zu versuchen, Böhmer zu erreichen.

»Guten Abend, Exkollege«, begrüßte Böhmer ihn kurz darauf mürrisch. »Hast du mal einen Blick auf die Uhr geworfen?«

»Nein, soll ich?«

Böhmer schnaufte. »Womit habe ich das verdient?«

»Damit, dass du mich noch nicht angerufen hast wegen der drei Namen, die ich dir gegeben habe«, erklärte Max belustigt.

»Fast nichts.«

»Wie, fast nichts?«

»Na, es gibt so gut wie nichts zu den drei Namen. Nur dieser Achim Brandstätt hatte einmal Ärger, weil er seine Frau nachts aus dem Haus geworfen hat. Sie hat daraufhin die Polizei gerufen. Als die Kollegen dort eintrafen, fanden sie sie allerdings sturzbesoffen vor. Brandstätt gab an, dass sie schwere Alkoholikerin sei und in dieser Nacht begonnen hätte, die Einrichtung kurz und klein zu schlagen, und dass er sie deshalb vor die Tür gesetzt hatte. Die Kollegen haben sie mitgenommen und in eine Ausnüchterungszelle gesteckt. Wie es weiterging mit den beiden, das weiß ich nicht.«

»Sie sind geschieden.«

»Das wundert mich nicht. Sonst gibt es nichts über die drei. Ach, übrigens bist du nicht der Erste, der mir so spät abends noch auf die Nerven geht. Die Frau Kriminalrätin hat mich eben auch schon angerufen und mich für morgen früh um neun in ihr Büro beordert.«

»Wenn die Chefin ruft …«

»Wir sind im Moment an einer Kneipenschlägerei mit Todesfolge dran, und sie möchte den Bericht über den Stand der Dinge von mir persönlich hören. Das sind ihre Spielchen, mit denen sie mir zeigt, dass sie der Boss ist. Aber jetzt erzähl, was an der Mosel los ist.«

Max gab ihm einen Überblick über die Geschehnisse und schloss mit der Feststellung, dass die Menschen im Ort ihm gegenüber recht distanziert waren.

»Das wundert mich nicht«, sagte Böhmer. »Versetz dich doch mal in ihre Lage. Da kommt plötzlich so ein Schnösel aus Düsseldorf und wühlt in alten Geschichten, die die Einwohner von Klotten wahrscheinlich lieber vergessen würden.«

»Was heißt hier Schnösel?«, entrüstete sich Max gespielt, woraufhin Böhmer ein meckerndes Lachen ausstieß.

»Und was ist mit der Keskin? Habt ihr beiden schon die Friedenspfeife zusammen geraucht?«

»Vielleicht ein anderes Mal«, entgegnete Max knapp. »Okay, dann leg dich wieder vor den Fernseher und schlaf nachher gut. Ich melde mich morgen noch mal bei dir.«

»Keine Antwort ist auch eine Antwort«, bemerkte Böhmer lachend. »Also bis dann.«

Einen Moment überlegte Max, ob er Kirsten anrufen sollte, ließ es aber. Es war zwar erst kurz vor zweiundzwanzig Uhr, aber Kirsten ging manchmal recht früh zu Bett, und er wollte sie nicht wecken.

Also beschäftigte er sich erneut mit den Notizen des Tages und schrieb seine Gedanken zu dem Gelesenen auf. Gegen halb elf ging er ins Bett und schlief schnell ein.

 

Er wachte von einem dröhnenden Donnern auf und wusste im ersten Moment weder, wo dieses unerträglich laute Poltern herkam, noch, wo er sich befand.

Drei, vier Sekunden später registrierte er, dass jemand wie verrückt gegen die Tür seines Zimmers in der Pension in Klotten hämmerte.

»Ja doch, Moment«, rief er und schob die Beine aus dem Bett. Es war noch dunkel, nur durch den vertikalen Spalt der nicht ganz zugezogenen Vorhänge drang ein wenig schummriges Licht ins Zimmer. In der Nähe musste eine Straßenlaterne sein.

Lediglich mit einer Schlafanzughose bekleidet, öffnete Max die Tür und sah sich einem Mann und einer Frau gegenüber, die er beide nicht kannte und die ihn ernst anschauten.

»Sind Sie Max Bischoff?«, fragte die Frau. Sie war etwa vierzig und trug die rotblonden Haare kurz geschnitten. Sein Instinkt sagte Max, dass es sich um eine Polizeibeamtin handelte.

»Ja, der bin ich«, bestätigte er und ahnte, dass es für diesen lärmenden Auftritt einen triftigen Grund geben musste. Ihr Gesichtsausdruck sorgte zusätzlich dafür, dass sich das ungute Gefühl in ihm verstärkte.

»Und wer sind Sie?«

»Wenzel, Kripo Koblenz«, bestätigte die Frau seine Vermutung und deutete auf den etwa gleichaltrigen Mann an ihrer Seite. »Das ist Oberkommissar Kornmeier von der Polizeiinspektion Cochem. Herr Bischoff, wir würden uns gern mit Ihnen unterhalten.«

Max fuhr sich durch die Haare. »Ja, sicher. Worum geht’s? Und wie spät ist es eigentlich?«

Noch bevor die Beamtin antworten konnte, öffnete sich die Tür schräg gegenüber, und Marvin Wagner trat in schwarzen Shorts und schwarzem T-Shirt auf den Flur. Seinem entspanntem Gesicht nach zu urteilen war er schon länger wach. »Was ist denn hier los?«, fragte er, woraufhin die beiden Beamten sich zu ihm umwandten.

»Gehen Sie bitte wieder in Ihr Zimmer«, ordnete Wenzel an, nachdem sie Wagner von Kopf bis Fuß gemustert hatte. Wenn sie von seiner auffälligen Erscheinung in irgendeiner Art überrascht war, ließ sie es sich nicht im Geringsten anmerken.

Wagners Mund verzog sich zu etwas, das ein Lächeln, aber ebenso gut auch der Ausdruck von Missfallen sein konnte.

»Normalerweise komme ich der Bitte einer Frau stets gern nach, wenn es mir möglich ist, aber in diesem Fall …«

»Kriminalpolizei. Wenzel ist mein Name. Wir sind dienstlich hier, und jetzt gehen Sie bitte wieder in Ihr Zimmer.«

Wagner schüttelte den Kopf. »Sie stehen vor der Tür von Max Bischoff, nachdem Sie offensichtlich versucht haben, sie unter Zuhilfenahme eines Presslufthammers zu zerstören. Zumindest hörte es sich so an. Wenn Sie dienstlich hier sind und diese dienstliche Angelegenheit etwas mit Klotten zu tun hat, dann betrifft sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch mich, denn ich habe den ganzen gestrigen Abend mit Herrn Bischoff verbracht. In einem Restaurant. Einer Pizzeria, um es zu spezifizieren.«

Eine Weile sah Wenzel den Psychologen an, als wisse sie nicht, was sie tun solle, dann nickte sie. »Also gut, mit Ihnen beschäftige ich mich gleich noch.« Und nach einem Blick auf seine nackten, tätowierten Beine fügte sie hinzu: »Und ziehen Sie sich in der Zwischenzeit was an.«

Damit wandte sie sich wieder an Max. »Um Ihre Frage zu beantworten: Es ist kurz vor sechs.«

»Okay. Wenn Sie mir zwei Minuten geben, ziehe ich mir ebenfalls etwas an. Sie können ja vielleicht einen Moment unten im Aufenthaltsraum warten, ich komme gleich nach. Es wäre aber nett, wenn Sie mir schon mal sagen würden, worum es geht.«

Wenzel nickte. »Gegen Mitternacht wurde eine weibliche Leiche gefunden. In den Weinbergen oberhalb des Ortes. Ich muss Ihnen als ehemaligem Kollegen ja nichts zum Verfahren in solchen Fällen erklären.«

»Mist«, entfuhr es Max. »Ist die Tote schon identifiziert?«

»Ja, ihr Name ist Jessica Meininger.«

»Gabriele Meiningers Tochter?« Noch während Max’ Blick zwischen Wenzel und ihrem Kollegen aus Cochem hin und her wechselte, legte sein schlafträger Verstand einen Kaltstart hin und ließ seine Gedanken losgaloppieren.

»Wie ist sie gestorben?«

»Definitiv Fremdeinwirkung«, erklärte Wenzel und fügte gleich darauf hinzu: »Wir gehen von Mord aus.«