Während Max sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte und in Jeans und Pullover schlüpfte, lief sein Verstand auf Hochtouren. Wer konnte ein Interesse daran haben, Gabriele Meiningers Tochter zu töten? Jemand, der sich durch die Tagebucheinträge ihrer Mutter und dem, was sie ausgelöst hatten, unter Druck gesetzt fühlte? Der Angst hatte, dass plötzlich Dinge ans Licht kommen könnten, die er längst vergessen wähnte? Aber warum dann Jessica?
Als Max fertig war, ging er nach unten, wo Wagner gerade ein offensichtlich intensives Gespräch mit der Kriminalbeamtin führte. Er musste sich blitzschnell angezogen haben.
»… bin ich nach wie vor der Überzeugung, dass die wissenschaftlich orientierte Herangehensweise bei der Ermittlungsarbeit immer mehr in den Vordergrund rückt. Sehen Sie, Frau Kriminaloberkommissarin, Voraussetzung dafür ist selbstredend, dass die Polizei von entsprechend hochqualifizierten Wissenschaftlern unterstützt wird, weshalb es sinnvoll wäre, wenn ich …«
Wagner stockte, als Max den Raum betrat und sich alle Blicke auf ihn richteten.
»Ah, da sind Sie ja«, sagte Wenzel und deutete auf einen freien Stuhl. »Bitte, setzen Sie sich doch. Wir haben nur ein paar Fragen.«
Max nahm Platz und sagte: »Sie sprachen von Mord. Woran ist sie gestorben?«
»Die Todesursache wird zweifelsfrei erst die Rechtsmedizin feststellen, aber es gibt Würgemale an ihrem Hals und …« Wenzel warf Kornmeier, ihrem Cochemer Kollegen, einen langen Blick zu, bevor sie sagte: »Ihre Zunge fehlt.«
»Scheiße!«, entfuhr es Max, wofür er sich in der nächsten Sekunde sofort entschuldigte.
Wenzel winkte ab. »Schon gut. Der Täter hat ihr die Zunge offensichtlich herausgeschnitten und mitgenommen. Wir konnten sie bisher nicht finden.«
»Sie sagten, gegen Mitternacht. Wer hat sie gefunden? Wer ist denn so spät noch unterwegs?«
»Ein älterer Herr, der am Fuß der Weinberge wohnt. Er sagte, er geht immer so spät noch mit seinem Hund raus.«
»Hm … Kann ich die Fotos sehen?«
»Das kann ich nicht entscheiden, auch wenn Sie ein ehemaliger Kollege sind. Dafür müssten Sie sich an Kriminalhauptkommissar Zerbach wenden, der gerade das Ermittlungsteam zusammenstellt.«
»Verstehe. Wo kann ich ihn erreichen?«
»Wir waren eben noch zusammen in der Pension bei Frau Brosius.«
Max dachte kurz nach. »Wie sind Sie auf sie gekommen? Ich meine, da wird eine Leiche in den Weinbergen eines kleinen Moselortes gefunden, und die Polizei klingelt am frühen Morgen eine Touristin aus Düsseldorf aus dem Bett?«
»Der Mann, der die Tote entdeckt hat, hat uns erzählt, dass zwei Polizistinnen im Dorf Fragen über die Mutter des Opfers stellten und seit gestern Verstärkung von jemandem bekommen haben, der ebenfalls viele Fragen stellt.«
»Wow! Offensichtlich weiß der Mann sehr gut Bescheid. Wer ist er?«
»Auch für diese Auskunft muss ich Sie an den Leiter der Ermittlungen verweisen.« Wenzel machte eine Pause, als müsse sie über das nachdenken, was sie als Nächstes sagen wollte. »Sie sollten wissen, dass Kriminalhauptkommissar Zerbach nicht sonderlich begeistert war, als er von Ihrer Anwesenheit hier erfahren hat.«
»Hat er etwas gegen ehemalige Kollegen?«, fragte Max.
»Sagen wir es mal so: Er lässt sich nicht gern in die Karten schauen und betrachtet jeden Fall als seine ureigene Aufgabe. Sogar die Anwesenheit von Frau Brosius ist ihm bereits ein Dorn im Auge, weil auch ihr Aufenthalt in Klotten im Grunde genommen nicht rein privater Natur ist. Da können Sie sich vorstellen, wie er auf Sie reagiert.«
»Ja, das kann ich.« Dabei dachte Max unweigerlich an Eslem Keskin.
»Herr Bischoff, wie gesagt, wir wissen von den Tagebucheinträgen, die die Mutter des Opfers vor zweiundzwanzig Jahren verfasst hat, und dass Frau Keskin, Frau Brosius und Sie in Betracht ziehen, diese Einträge könnten in Zusammenhang mit dem Verschwinden eines Mannes stehen.«
»Ja«, sagte Max nachdenklich. »Und kaum fangen wir an, im Ort Fragen dazu zu stellen, wird die Frau ermordet, die das Tagebuch gefunden hat. Das riecht doch förmlich nach einem Zusammenhang, oder?«
»Mag schon sein. Können Sie mir sagen, was Sie bisher herausgefunden haben?«
Max nickte und berichtete von seinen Begegnungen und Gesprächen vom Vortag. Auch von dem Erlebnis mit dem Winzer Künsmann in der Pizzeria.
»Hat der Mann auf Sie den Eindruck gemacht, als wolle er Ihnen drohen?«
»Konfuzius sagt, wenn alle Stricke reißen, warst du zu dick für die Schaukel«, warf Wagner ein, woraufhin Wenzel die Stirn krauszog und ihn fragend ansah. »Was?«
»Ich meinte damit, dass das doch wohl offensichtlich ist. Was sollen Sätze wie Es kann gefährlich werden und Manchmal verschwinden hier Leute und tauchen nie wieder auf denn anderes sein als Drohungen?«
Wenzel entgegnete darauf nichts, sondern wandte sich wieder an Max, als die Tür geöffnet wurde und Jana Brosius hereinkam. Ihr folgte ein ernst dreinblickender Mann Mitte fünfzig.
»Hallo«, begrüßte Jana die Anwesenden und nickte Max zu. »Guten Morgen.« Sie deutete auf den Mann, der nun neben ihr stand. »Das ist Kriminalhauptkommissar Zerbach vom Koblenzer KK . Er leitet die …«
»Ich bin der leitende Ermittler in diesem Fall«, fiel Zerbach ihr harsch ins Wort und sah Max direkt an. »Und Sie sind wohl der ehemalige Kollege, der es zwar vorgezogen hat, den Dienst zu quittieren, nun aber meint, er müsse als Privatdetektiv in Mordfällen herumschnüffeln.«
Noch während Max Luft holte, um darauf zu antworten, fiel Zerbachs Blick auf Wagner. Seine Miene wurde dabei noch säuerlicher. »Und wer, zum Teufel, sind Sie?«
»Mein Name ist Dr. Marvin Wagner, ich habe beileibe nichts mit dem Teufel zu tun, aber davon abgesehen bin ich Psychologe und Psychotherapeut und habe meine Dissertation mit summa cum laude abgeschlossen. Zudem bin ich Rechtspsychologe bei Gericht und forensischer Psychologe, außerdem ein anerkannter forensischer Schriftgutachter. Gegenfrage: Was können Sie so, außer unfreundlich zu sein?«
Eine Weile starrte Zerbach den Psychologen entgeistert an, dann wandte er sich an Wenzel. »Was hat er hier zu suchen?«
»Herr Wagner hat den Abend gemeinsam mit Herrn Bischoff verbracht und war dabei, als ein Mann aus dem Dorf Herrn Bischoff bedroht hat.«
Die linke Braue des Hauptkommissars schob sich nach oben. »Also noch ein Zivilist, der Räuber und Gendarm spielt?«
»Herr Zerbach«, schaltete Max sich ein, weil er spürte, wie die Wut in ihm aufstieg, »wie wäre es, wenn wir uns auf den Mord konzentrieren?«
»Gut. Dann stelle ich gleich zu Anfang etwas klar. Ich mag es nicht, wenn sich jemand in meine Ermittlungen einmischt, und ich mag es schon zehnmal nicht, wenn derjenige ein Zivilist ist. Ich habe von der Kollegin Brosius gehört, dass Sie während Ihrer aktiven Zeit in Düsseldorf recht erfolgreich gewesen sein sollen. Das interessiert mich nicht die Bohne, weil Sie kein Polizist mehr sind. Und über das Ergebnis Ihrer Zusammenarbeit mit einem Kölner Kollegen in Ihrem letzten … Fall muss man nicht viele Worte verlieren. Katastrophal! Ich kann nichts dagegen tun, dass Sie sich in Klotten aufhalten, aber ich verspüre überhaupt keine Lust, es dem Kollegen aus Köln nachzumachen. Halten Sie sich also aus meinem Fall heraus und von mir fern, sonst haben Sie mehr Ärger am Hals, als Sie sich vorstellen können. Haben Sie mich verstanden?«
Max brauchte eine Weile, in der er sich bemühte, seinen Ärger wegzuatmen, was ihm aber nicht vollständig gelang.
»Ja, das habe ich verstanden. Und wo wir schon dabei sind, stelle ich jetzt mal etwas klar: Sie können sich Ihre lächerliche Drohung sonst wohin stecken. Wie es aussieht, ist Ihr Ego weitaus größer als Ihr Interesse daran, diesen Fall schnellstmöglich zu lösen. Denn wenn das nicht so wäre, würden Sie jede Hilfe, die Sie bekommen können, dankbar annehmen, statt sich aufzuführen wie ein Provinzsheriff. Eine junge Frau ist gerade ermordet worden, und statt alle Hebel in Bewegung zu setzen, um den Mörder zu finden, bevor er vielleicht noch mehr Unheil anrichten kann, stecken Sie mit lächerlichen Monologen Ihr Revier ab.«
Man konnte Zerbach förmlich ansehen, wie es in ihm kochte, doch nach einigen Atemzügen schien ihm bewusst zu werden, dass die drei anwesenden Beamten ihn ansahen.
»Dieses Tagebuch … das ist ein Beweisstück. Ich will es haben. Und jetzt erzählen Sie mir von gestern. Mit wem aus dem Ort haben Sie gesprochen?«
»Das habe ich bereits Ihrer Kollegin gesagt. Fragen Sie sie.« Damit stand Max auf und verließ den Raum.
»Köstlich, dieser Blick des Herrn Kriminalhauptkommissars«, sagte Wagner Sekunden später hinter ihm, als Max durch den unteren Flur Richtung Treppe ging. »Der Gute hat gerade ausgesehen wie ein lobotomiertes Eichhörnchen.«
Max war immer noch wütend. »Ich verstehe diese Art zu denken einfach nicht. Was ist das denn für eine Herangehensweise?« Als sie vor ihren Zimmern angekommen waren, sagte Max: »Ich springe unter die Dusche und gehe dann zum Frühstück. Danach sehe ich zu, was ich über den Mord an Jessica Meininger herausfinden kann. Vielleicht ist Oberkommissarin Wenzel ein bisschen kooperativer. Sie hat einen ganz vernünftigen Eindruck gemacht. Wann brechen Sie auf? Frühstücken wir noch zusammen?«
»Aufbrechen? Nach dem, was ich da unten gerade erlebt habe? O nein, lieber Max. Ich werde Sie hier gewiss nicht allein lassen. Zumal mich diese Sache aus psychologischer Sicht sehr interessiert. Die kollektive Abneigung eines ganzen Ortes gegen die Aufarbeitung eines alten Falls, dazu ein Mord und ein leitender Ermittler, der die Welt nur in den simplen Primärfarben sieht, die seine Intelligenz zulässt. Ich muss gleich noch ein paar Dinge telefonisch regeln, aber so viel steht fest: Ich bleibe.«