Max hatte gerade den Pullover ausgezogen und hielt ihn noch in der Hand, als es an der Tür klopfte. In der Annahme es sei Wagner, öffnete er; doch es war nicht der Psychologe, der überrascht seinen nackten Oberkörper betrachtete, sondern Jana Brosius.
»Oh!«, stieß Max aus, wobei ihm nicht entging, dass sie schnell den Blick senkte, als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. »Sorry, ich dachte …« Er streifte den Pullover wieder über und machte einen Schritt zur Seite. »Bitte, kommen Sie doch rein.«
Fast zaghaft betrat Jana sein Zimmer und wandte sich zu Max um. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich Zerbach nichts von der Sache mit Bernd Menkhoff erzählt habe. Auch wenn es sich gerade vielleicht so angehört hat.«
Max nickte. »Okay. Dann ahne ich, wer es war. Hat er mit Ihrer Chefin gesprochen?«
»Ja. Er war ziemlich unfreundlich, als er gegen fünf bei mir in der Pension auftauchte und mich wecken ließ. Er wollte wissen, was ich in Klotten tue, und ich habe ihm gesagt, dass Kriminalrätin Keskin mich gebeten hat, ihr wegen der seltsamen Tagebucheinträge ihrer verstorbenen Freundin zu helfen. Er wollte sie ungeachtet der Uhrzeit sprechen, da habe ich sie angerufen und ihr geschildert, was geschehen ist. Dann habe ich das Telefon an Zerbach weitergereicht. Er ist damit aus dem Raum gegangen, ich konnte also nicht hören, was sie besprochen haben. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihm von Ihnen und Hauptkommissar Menkhoff erzählt hat.«
»Nach meiner bisherigen Erfahrung mit ihr kann ich mir das sehr wohl vorstellen. Wer sollte es denn sonst gewesen sein?« Max schüttelte den Kopf und setzte sich auf die Kante des Bettes. »Was stimmt eigentlich mit dieser Frau nicht? Sie bittet mich, ihr zu helfen, und sorgt gleichzeitig dafür, es mir so schwer wie möglich zu machen.«
»Das wissen Sie doch gar nicht. Wie gesagt, ich kann es mir nicht vorstellen.«
»Okay, Sie haben recht, ich weiß es wirklich nicht. Und? Kommt Sie hierher zurück?«
»Nein, sie sagte, sie hat wichtige Termine in Düsseldorf.«
»Ich hätte große Lust, mich auch ins Auto zu setzen und nach Hause zu fahren. Hier kann ich sowieso nicht mehr viel ausrichten.«
»Das können Sie schon. Zwar nicht offiziell, aber dafür sind Sie nicht so eng an die Dienstvorschriften gebunden wie Frau Keskin und ich als Polizistinnen. Oder dieser Hauptkommissar. Gegen Sie kann nicht wegen jedem Schritt, den Sie tun, eine Beschwerde eingereicht werden, gegen die Sie sich dann verteidigen müssen.«
Max hob langsam den Kopf und sah Jana an. »Sagen Sie … ist das der Grund, warum Keskin ausgerechnet mich um Hilfe gebeten hat? Weil der Fall vor zweiundzwanzig Jahren zu den Akten gelegt wurde und sie Angst hatte, die Einwohner beschweren sich über sie, wenn sie anfängt, ihnen Fragen zu stellen? Ist das wirklich der Grund?«
Jana hielt seinem Blick stand. »Ich weiß nicht, warum sie Sie um Hilfe gebeten hat. Ich gestehe, ich habe mich auch darüber gewundert, nach dem, was sie mir über Sie erzählt hat. Ich …«
»Was sie über mich erzählt hat?«
»Ich habe sie danach gefragt«, überging Jana die Frage und fuhr unbeirrt fort, »aber sie sagte mir das Gleiche wie Ihnen: Dass sie Sie für einen sehr guten Ermittler hält, unabhängig davon, wie sie persönlich zu Ihnen steht.«
»Und was denken Sie?«
»Ich glaube ihr das.«
»Ich meinte, über mich.«
Jana ließ sich mit der Antwort eine Weile Zeit. »Ich hatte Ihnen schon einmal gesagt, dass ich alle Ihre früheren Fälle verfolgt habe und …«
»Jana! Ich meine, wie Sie persönlich zu mir stehen.«
Erneut ließ sie sich mit der Antwort Zeit, sah ihn dabei nachdenklich an. »Das weiß ich noch nicht. Auch deshalb fände ich es schade, wenn Sie zurückfahren würden. Ich habe Sie einerseits als Dozent im Hörsaal erlebt und weiß andererseits, was die Chefin über Sie denkt. Im ersten Moment war ich ziemlich enttäuscht von dem, was sie mir über Ihre Tätigkeit als Privatermittler erzählt hat, aber … Mir wäre es lieber, ich könnte mir ein eigenes Urteil bilden.«
Trotz des Aufruhrs, der noch immer in ihm wütete, konnte Max sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Na, das ist neben der Tatsache, dass mindestens ein Mord aufgeklärt werden muss, doch definitiv ein Grund, hierzubleiben.«
Auf Janas Gesicht zeigte sich die Andeutung eines Lächelns, das fast ein wenig verlegen wirkte.
»Das heißt, Sie bleiben?«
»Zumindest für den Moment. Aber als Erstes werde ich jetzt ein Gespräch mit Frau Keskin führen.«
»Dann gehe ich mal zurück in die Pension. Telefonieren wir später?«
»Ja.«
Nachdem Jana die Tür hinter sich geschlossen hatte, griff Max zum Telefon und wählte Eslem Keskins Nummer.
Sie nahm das Gespräch schon nach dem zweiten Läuten an. »Keskin.«
»Bischoff hier, guten Morgen. Haben Sie mit Hauptkommissar Zerbach über mich und Menkhoff gesprochen?«
»Was? Nein. Wie kommen Sie denn darauf?«
»Weil er es mir gegenüber erwähnt hat.«
»Er hat gesagt, ich hätte mit ihm darüber gesprochen?«
»Nein, das nicht, aber er nannte das Ergebnis meiner Zusammenarbeit mit einem Kölner Kollegen im letzten Fall eine Katastrophe.«
»Vielleicht weiß er es von jemand anderem. Wie auch immer, ich habe jedenfalls nicht mit ihm darüber gesprochen. Es ist furchtbar, was mit Jessica passiert ist. Ich würde am liebsten sofort zurückkommen, aber das geht leider nicht. Hat sich dieser Zerbach Ihnen gegenüber auch so aufgeführt?«
»Wenn Sie damit meinen, dass er sich verhält wie ein Großinquisitor im Mittelalter, dann ja.«
»Ein sehr unangenehmer Mensch. Wann werden Sie abreisen?«
»Abreisen?«
»Ja, natürlich. Nach diesem Mord übernimmt die Polizei die Sache und wird sich in dem Zusammenhang sicher auch mit Gabrieles Tagebucheinträgen beschäftigen. Es war ein Fehler von mir, mich in diese alte Geschichte einzumischen und Sie anzurufen. Ich mache mir große Vorwürfe. Mein Gott, ich darf gar nicht darüber nachdenken, dass Jessica vielleicht noch leben würde, wenn ich mich rausgehalten hätte. Nein, ich möchte, dass Frau Brosius und Sie noch heute zurückkommen. Ich habe schon versucht, sie anzurufen, konnte sie aber nicht erreichen.«
»Sie wollte sich sowieso bald bei Ihnen melden, dann können Sie das mit ihr direkt klären. Was mich betrifft – ich bleibe hier.«
»Was soll das heißen, Sie bleiben? Ich habe Sie engagiert und sage Ihnen, dass Sie dort fertig sind.«
»Das habe ich verstanden. Ich schenke Ihnen den gestrigen Tag, Sie sind mir also nichts schuldig. Aber ich bleibe hier.«
»Selbstverständlich werde ich Sie bezahlen, aber ich verlange, dass Sie sofort …« Es klopfte an der Zimmertür, was Max gerade recht kam.
»Ich muss auflegen, es hat geklopft«, sagte er und beendete das Gespräch, bevor Keskin etwas erwidern konnte. Er warf das Handy aufs Bett und öffnete die Tür. Vor ihm stand Oberkommissar Kornmeier, der Beamte der Polizeiinspektion Cochem, der Oberkommissarin Wenzel begleitet hatte.
»Nur ganz kurz«, sagte Kornmeier leise und reichte Max einen Zettel. »Ich muss gleich wieder runter. Das ist meine Handynummer. Rufen Sie mich in einer Stunde an, ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.« Damit wandte er sich ab und ging den Flur entlang Richtung Treppe.
Max sah ihm nach und betrachtete dann verwundert die Mobilfunknummer auf dem Zettel in seiner Hand. Welchen Grund konnte Kornmeier haben, so geheimnisvoll zu tun? Wusste er etwas, das er dem Koblenzer Hauptkommissar nicht sagen wollte? Aber warum sollte er dann ihm, einem Privatmann aus Düsseldorf, davon erzählen?
Max schloss die Zimmertür, griff nach seinem Handy und warf einen Blick auf das Display. Sechs Uhr sechsundvierzig. In einer Stunde …
Er legte den Zettel mit dem Handy auf dem Nachttisch ab, zog sich aus und ging ins Bad, um sich unter der Dusche die letzten Reste Schlaf abzuwaschen.
Gegen sieben Uhr fünfzehn setzte sich Max an einen Zweiertisch im kleinen Frühstückszimmer gleich neben dem Aufenthaltsraum. Er hatte mit Wagner telefoniert und abgemacht, dass sie sich dort trafen.
Gerade hatte er sich den Stuhl zurechtgerückt, als Lisa Passig, die Pensionswirtin, hereinkam und ihn sorgenvoll ansah. »Geht es Ihnen gut? Ich bin sehr erschrocken, als die Polizei heute früh Sturm geklingelt hat. Sie wollten Ihre Zimmernummer wissen, mir aber nicht sagen, worum es geht. Ich konnte ja nicht ahnen … mein Gott, wie furchtbar. Ein Mord, hier in Klotten. Und ausgerechnet Jessica, wo doch gerade erst ihre Mutter …«
Ihre Augen glänzten feucht.
»Ja, mir geht es so weit gut.«
»Die Polizei … Die glauben doch nicht, dass Sie etwas damit zu tun haben?«
»Nein, nein. Sie hatten nur ein paar Fragen, weil ich mich im Ort nach Jessicas Mutter erkundigt habe.«
Marvin Wagner kam herein und trat an den Tisch. »Guten Morgen.« Er reichte der Vermieterin die Hand, die ihn verblüfft ansah. »Ich bin Dr. Marvin Wagner, ihr neuer Gast. Herr Bischoff war gestern Abend so nett, mir den Zimmerschlüssel zu geben.«
Eine Weile ruhte Lisa Passigs Blick auf ihm, bis sie sich schließlich fing und sagte: »Ach ja, sicher. Entschuldigen Sie bitte, ich bin ein wenig durch den Wind. Und als ich Sie jetzt so vor mir sah …« Sie deutete mit einer kurzen Bewegung auf ihn. »Ihr Aussehen ist wirklich beeindruckend.«
Max bewunderte die Offenheit, mit der Lisa das sagte. Die meisten Menschen steckten Wagner wahrscheinlich gleich in eine Schublade, trauten sich aber nicht, sein Äußeres direkt anzusprechen.
Auf Wagners Gesicht zeigte sich ein breites Lächeln. »Geben Sie es zu, einen promovierten Wissenschaftler haben Sie unter dieser Haut nicht erwartet, stimmt’s?«
Sie nickte lächelnd. »Das stimmt. Umso schöner, dass es Menschen gibt, die sich nicht in Rollenklischees pressen lassen. Bitte, setzen Sie sich doch. Darf ich Ihnen beiden Kaffee bringen?«
»Herzlich gern«, antwortete Wagner, und Max nickte wortlos, während er darüber nachdachte, wie schnell die Pensionswirtin umgeschaltet und die Traurigkeit über Jessica Meiningers Schicksal verdrängt hatte.
»Eine liebenswerte Person«, bemerkte Wagner mit einem Lächeln, nachdem er Max gegenüber Platz genommen hatte. Dann wurde seine Miene ernst. »Ich muss gestehen, dass ich das Verhalten von diesem Hauptkommissar sehr seltsam, um nicht zu sagen, unmöglich finde. Die Frau Wenzel macht mir hingegen einen ganz passablen Eindruck.«
»Was halten Sie von dem Dritten im Bunde, Oberkommissar Kornmeier?«
»Schwer zu sagen. Er hat während der ganzen Zeit schweigend und fast regungslos dagesessen.«
»Er war eben an meiner Zimmertür und hat mir seine Handynummer gegeben.«
Wagner schob grinsend die Unterlippe vor. »Seit dieser öffentlich geführten und zugegebenermaßen längst überfälligen Diskussion um LBGT trauen sich auch homosexuelle Polizisten endlich, unverhohlen zu ihren Gefühlen zu stehen. Und, werden Sie ihn daten?«