37

Zurück in der Pension, traf Max auf Lisa Passig, die dabei war, die Tische für das Frühstück einzudecken. Sie wirkte müde, aber als sie Max sah, lächelte sie. »Guten Abend«, sagte sie und stellte einen Teller auf den Tisch. »Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Möchten Sie noch eine Kleinigkeit essen? Viel kann ich Ihnen nicht anbieten, aber …«

»Nein, danke«, wehrte Max ab. »Ich habe schon mit Herrn Wagner in der Pizzeria gegessen.«

»Dann vielleicht ein Glas Wein?«

Ursprünglich wollte Max noch mit Jana telefonieren, aber angesichts der Uhrzeit würde er das auf den nächsten Morgen verschieben. Zudem machte Lisa Passig auf ihn den Eindruck, als sei ihr daran gelegen, mit ihm zu reden.

»Ja, warum nicht«, sagte er deshalb, woraufhin die Pensionswirtin zu dem Tisch im Aufenthaltsraum zeigte. »Bitte, nehmen Sie Platz, ich hole einen Weißwein, ist das okay?«

»Ja, sicher.«

Kurz darauf kehrte sie mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück und setzte sich Max gegenüber. »Das ist ein Blanc de Noir hier aus dem Ort«, erklärte sie, während sie die Flasche aufschraubte und die Gläser zwei Finger breit füllte.

»Ein Weißwein, der aus dunkelblauen Trauben hergestellt wird«, sagte Max.

»Sie kennen sich aus.«

»Auskennen ist zu viel gesagt, aber da ich gern Wein trinke, habe ich mich ein wenig in die Weinherstellung eingelesen.«

Lisa Passig hob ihr Glas. »Zum Wohl. Auch wenn das, was in Klotten geschehen ist, sicher kein Grund zum Anstoßen ist.«

Max trank und stellte fest, dass sie eine gute Wahl getroffen hatte. Der Wein hatte ausgeprägte Fruchtaromen und eine moderate Säure.

Max stellte das Glas ab und deutete darauf. »Ich hörte, damals, als Peter Kautenberger verschwand, gab es im Ort wohl unterschiedliche Meinungen zum Thema Veredlung von Weinen.«

Sie sah ihn fragend an. »Was meinen Sie damit?«

»Es wird gemunkelt, dass es damals Winzer gab, die einige ihrer Weine auf eine nicht erlaubte Art ein bisschen veredelten.«

Lisa Passig winkte ab. »Dieses Geschwätz. Ich weiß, dass es das Gerücht damals gegeben und dass es sich bis heute hartnäckig gehalten hat, aber das ist Quatsch.«

Max wunderte sich darüber, wie überzeugt sie offensichtlich war. »Wie können Sie da so sicher sein?«

»Ich komme aus dem Ort und bin hier aufgewachsen. Ich kenne die Menschen in dieser Gegend.«

»Aber damals waren Sie noch recht jung.«

»Meine Mutter aber nicht. Sie hat mir viel erzählt.«

»Stimmt es denn nicht, dass Peter Kautenberger deshalb angefeindet wurde?«

»Ja, und ehrlich gesagt war er wohl selbst schuld. Reden Sie mal mit dem alten Brandstätt.«

»Warum ausgerechnet mit ihm? Er machte bisher auf mich keinen besonders gesprächigen Eindruck.«

»Das ist auch kein Wunder, denn das Gerücht, das Peter in die Welt gesetzt hat, richtete sich gegen seinen Betrieb.«

»Oh!, entfuhr es Max. »Das hat sich in meinem Gespräch mit Achim Brandstätt anders angehört. Er sagte, es betraf einige Winzer im Ort. Und dass Peter Kautenberger dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat, ist mir auch neu.«

Lisa Passig leerte ihr Glas und stellte es ab. »Ich weiß nur von Brandstätts Betrieb.«

Max spürte, dass da etwas war, worüber sie reden wollte.

»Wenn es etwas gibt, das mir weiterhelfen könnte …«

Sie nickte, schenkte sich und Max Wein nach und trank einen Schluck.

»Meine Mutter hat mir erzählt, dass die damalige Clique Peter nach seinem Verschwinden immer in Schutz genommen hat.«

»Sie meinen Achim Brandstätt, Ingo Görlitz, Melanie Dobelke und Gabriele Meininger?«

»Ja, genau.«

Max dachte an die Tagebucheinträge. An die Schuld, die sie auf sich geladen hatten .

»Was genau heißt das, sie haben ihn in Schutz genommen?«

»Sie haben es in ihrem Gespräch mit Achim selbst erlebt. Er hat ihnen nicht gesagt, dass es Peter war, der herumerzählt hat, sein Vater und er würden ihre Weine panschen, oder?«

»Nein, so hat er das nicht gesagt.«

»Das meine ich. Keiner aus der Clique wird das zugeben, obwohl es jeder weiß.«

»Aber den Grund dafür kennen Sie nicht?«

»Nein. Sie alle tun so, als sei Peter ein Heiliger gewesen, aber das war er nicht.«

Eine Weile starrten sie beide vor sich hin, dann trank Max sein Glas aus und stand auf.

»Vielen Dank für den Wein und die Unterhaltung.«

»Herr Bischoff?« Lisa Passig erhob sich ebenfalls. »Bitte halten Sie mich nicht für geschwätzig. Vielleicht war es falsch, Ihnen das zu sagen, weil das alles letztendlich auch nur Gerüchte und Annahmen sind, aber … Wenn niemand ausspricht, was hinter vorgehaltener Hand geredet wird, und Sie und die Polizei von alldem nichts wissen, wie sollen Sie dann den Mord an Jessica aufklären können?«

»Es war absolut richtig, mir zu sagen, was Sie denken. Machen Sie sich keine Sorgen, ich halte Sie ganz sicher nicht für geschwätzig. Vielen Dank nochmals. Gute Nacht.«

In seinem Zimmer angekommen, zog Max seine Schuhe aus, nahm sein Notebook, setzte sich damit auf das Bett und lehnte sich gegen das Kopfteil. Dann suchte er im Internet nach Berichten über das damalige Verschwinden von Peter Kautenberger und wurde schließlich auf der Plattform eines Boulevardblattes fündig. Der Bericht stammte laut Datum von einem Zeitpunkt etwa zwei Wochen nach dem Tag, als Peter Kautenberger von seinem Vater offiziell als vermisst gemeldet worden war, und er enthielt ein Foto, mit dem die Polizei damals nach ihm gesucht hatte.

Max betrachtete die Porträtaufnahme des blonden, schlanken Mannes eine Weile und versuchte, sich daran zu erinnern, ob er in der Zeit, seit er in Klotten war, jemanden gesehen hatte, der dem jungen Mann auf dem Bild annähernd ähnlich sah und etwa Ende vierzig war. Doch es fiel ihm niemand ein.

In dem Bericht stand nichts, was Max nicht schon wusste, und so legte er das Notebook zur Seite, rutschte tiefer, bis er auf dem Rücken lag, und schloss die Augen.

Seine Gedanken wirbelten wild durcheinander, und es kostete ihn einige Mühe, sie zu ordnen, doch schließlich gelang es ihm, und er spürte, wie er ruhiger wurde. Dann ließ er seinen Gedanken freien Lauf.

Wir sind zu viert, und wir haben Schuld auf uns geladen, nachdem Peter mindestens einem von uns großen Schaden zufügen wollte. Eine Schuld, die mich so sehr belastet hat, dass ich mich sogar umbringen wollte.

Aber warum haben wir alle Schuld auf uns geladen? Wollten wir Achim helfen? Peter ist verschwunden, und wir haben uns gemeinsam schuldig gemacht. Haben wir ihn umgebracht? Und dann seine Leiche verschwinden lassen?

Aber wenn das so war, wie kann es dann sein, dass er plötzlich wieder im Ort gesehen wird? Wer hat ihn gesehen? Seine Mutter, die ihn als Kind im Stich gelassen hat. Achim Brandstätt und Melanie Dobelke, die damals Schuld auf sich geladen haben. Und diese Frau Burchert, die nicht in das Bild passt, weil sie nicht zur Clique gehörte. Und was ist mit Ingo Görlitz? Warum hat Peter sich ihm noch nicht gezeigt? Er gehörte doch auch dazu. Oder hat er sich ihm mittlerweile gezeigt, aber Görlitz sagt nichts, weil er es nicht glauben will?

Wenn diese drei und Gabriele Meininger damals wirklich etwas mit Peter Kautenbergers Verschwinden zu tun hatten, ist er dann zurückgekommen, um sich zu rächen? Und wie passt Jessica Meininger in dieses Bild? Musste sie sterben, weil ihre Mutter damals dazugehört hat?

Max öffnete die Augen.

Er würde gleich am nächsten Morgen als Erstes mit Jana telefonieren und sich danach mit Achim Brandstätt und Oberkommissar Kornmeier unterhalten. Außerdem würde er Gerda Burchert einen Besuch abstatten und versuchen herauszufinden, ob es einen Grund dafür geben konnte, dass auch sie Peter Kautenberger gesehen hatte.

Er stand auf und ging ins Bad. Während er sich die Zähne putzte, kehrten seine Gedanken zu Jana Brosius zurück, was in den letzten beiden Tagen erstaunlich häufig passiert war.